Antisemitismus
© Martin Blumentritt, Hamburg 1996, kopiert von http://www.emabonn.de/as.htm
Der moderne Antisemitismus ist prima facie eine Denkform, die sich im 19. Jahrhundert
in unmittelbaren Zusammenhang mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft
ausbildet, eine ideologische Reaktion auf die von vielen als Bedrohung oder
gar Katastrophe erfahrene Universalisierung der kapitalistischen Warenvergesellschaftung
und dem dadurch eingeleiteten Umbruch der gesellschaftlichen Beziehungen, Herrschaftsverhältnisse
und Herrschaftsformen. Gesellschaftstheoretisch begriffen werden muss er als
eine Ideologie, die die Subjekte einerseits selbst produzieren, um sich die
kapitalistische Gesellschaft zu deuten, um ihr Leiden daran zu artikulieren
und ihrer ohnmächtigen Wut und ihrem Hass ein zwar falsches, aber konkretes
und wehrloses Ziel zu geben, als eine Ideologie, die andererseits in ihrer Struktur,
in ihren Funktionen und zentralen Inhalten durch eben diese Gesellschaft präformiert
wird.
Obwohl es angesichts der zahlreichen historischen wie nationalen Ausprägungen
dieser Ideologie problematisch ist, von dem modernen Antisemitismus zu sprechen,
so lassen sich gleichwohl einige zentrale und allgemeine Komponenten aufweisen.
Zentral ist die Identifikation "der Juden" mit dem ebenso notwendig
wie folgenschwer falsch verstandenen Kapitalismus. Die eigene Ohnmacht, Abhängigkeit
und Nutzlosigkeit wird tagtäglich erfahren am Geld, sie vermittelt sich
über den Besitz bzw. Nichtbesitz dieses konkretem Abstraktums "Geld
regiert die Welt": So hebt das falsche Credo der Alltagserfahrung an, die
eine ebenso evidente wie irrige Reduktion des Kapitalismus auf das Geld vollzieht,
die Ausbeutung als Beutelschneiderei des Marktes missdeutet und das Bank- und
Börsenkapital als das geheime Zentrum der Macht identifiziert. Aber das
Geld, das denkbar Abstrakteste, muss doch einem konkreten Besitzer gehören,
der die Welt aus dem Hintergrund regiert - und so endet diese "Logik"
im Antisemitismus, wenn sie in einem letzten Schritt den Geldbesitzer als "Jude"
namhaft und haftbar macht.
Die Eigenschaften, die der Antisemitismus "den Juden" zuschreibt -
Rast- und Wurzellosigkeit (Ahasver), Internationalität, Abstraktheit, parasitär
von fremder Arbeit lebend, alle Werte zersetzend, als geheime Macht hinter dem
Rücken der Menschen das Schicksal der Gesellschaften bestimmend -, lassen
sich als auf "den Juden" projizierte und ihm personifizierte Eigenschaften
des aus der Universalisierung der Tauschbeziehungen entspringenden Kapitals
dechiffrieren.
Das ökonomische Tun der vereinzelten Privateigentümer bringt als notwendige
Konsequenz den bürgerlichen Staat und damit diejenige Herrschaftsform hervor,
die sie selbst wiederum als abstrakt gleiche Staatsbürger vermittels des
formalen Rechts und der bürokratischen Verwaltung, notfalls mit Repression
zusammenzwingt. Das Problem der Atomisierten, ihre Unterworfenheit unter die
abstrakte Zwangsinstanz Staat erklären und ertragen zu können, die
daraus resultierende, ebenso blinde wie vergebliche Suche nach konkreter, "natürlicher"
Gemeinschaft einerseits und der Identität der "guten" Herrschaft
mit den Beherrschten andererseits lässt das Wahnbild des Zwillingspaars
von "Volk und Nation" entstehen, das als ideologisches Vehikel zur
Einordnung der ohnmächtig Atomisierten in das herrschaftliche Gefüge
dient.
Dieses Bedürfnis, eine Zusammengehörigkeit zu finden oder besser zu
erfinden, die auf mehr beruht als auf dem Zufall der Unterworfenheit aller einzelnen
unter die gleiche abstrakte Herrschaft, erfuhr in Deutschland aufgrund seiner
Geschichte die Ausprägung einer blinden und rückhaltlosen Identifikation
mit der Macht, die sich mit antidemokratischen Ressentiment paarte und mit einer
völkischen Definition des "Deutsch-Seins" verband. Seit der militanten
Germanomanie der Fichte, Arndt und Jahn erfüllte das Konstrukt des "Juden"
immer mehr die Funktion des "Anti-Volkes" (Améry 1990, 201;
vgl. Hoffman 1990) und der "Gegenrasse" (Rosenberg 1934, 462), als
dessen Gegenbild und Gegengift erst "der Deutsche" und dann "der
Arier" nur entstehen konnte. Der Versuch, der "deutschen Identität"
die ihr wesentlich eigene Leere vom Leibe zu halten und die Homogenisierung
der Gesellschaft zur Volksgemeinschaft zu erreichen, konnte unmöglich ohne
die versprochene, intendierte oder praktizierte Bekämpfung "des Juden"
durch das sich in der aggressiven Verfolgung anderer erst findende Kollektiv
"der Deutschen" gelingen (vgl. Poliakov 1977, 1986; Hoffmann 1990).
Auch lag es nahe, die Juden für alle weiteren, mit der Durchsetzung der
kapitalistischen Ökonomie einhergehenden und als vitale Drohung empfundenen
Umbrüche und Phänomene des modernen Kapitalismus verantwortlich zu
machen - für die Auflösung der traditionalen Familien-, Geschlechts-
und Autoritätsbeziehungen, für die Verstädterung und Vereinzelung,
die Infragestellung der überkommenen Moral und aller bisherigen Werte und
Normen, für freie Presse, Kultur und Liberalismus, für Parlamentarismus
und Individualismus, für die "Ideen von 1789", für radikale
Kritik, Sozialismus, Bolschewismus und Psychoanalyse. Diesem manichäischen
Weltbild wurden "die Juden" zum Urheber alles Bösen, alles und
jedes traf das Urteil: Zersetzung durch "den Juden". Die Aggression
wurde besonders dadurch stimuliert, dass die Juden so gehasst wurden wie man
sie zugleich beneidete, hatten sie ein wirkliche Gemeinschaft zu sein, obwohl
sie doch seit Jahrhunderten zerstreut in vielen Staaten lebten und viele Sprachen
sprachen. So wurden sie zur Provokation eines Volkes ohne Staat. "Die Juden
sind unser Unglück": Heinrich Treitschkes Parole verhalf diesem Denken
zum Programm.
Und gerade darin besteht der fundamentale Unterschied des Antisemitismus zum
Rassismus, der es verbietet, ihn als bloße Unter- oder Spezialform eines
allgemeinen Rassismus zu betrachten. Der Rassismus projiziert auf die als "die
andere Rasse" -heute als Angehörige einer anderen "Kultur"
- Definierten eine idealisierte Natur, triebhafte Sexualität und starke
Körper, dazu Faulheit, Leistungsunfähigkeit und -unwilligkeit, eine
niedrigere Intelligenz und ungehemmte Emotionalität, schließlich
Irrationalität und Kriminalität. Im Ersatzobjekt wird die Angst vor
dem drohenden Rückfall des disziplinierten und sich selbst disziplinierenden
Subjekts in den Naturzustand symbolisiert und bekämpft. Die Angst, in der
Konkurrenz zu unterliegen, treibt den lohnarbeitenden Staatsbürger zur
aggressiven Abwehr des Bewusstseins seiner eigenen Wertlosigkeit und Ersetzbarkeit,
die zugleich den angstvollen Appell an den Staat darstellt, die Selbstunterwerfung
auch zu honorieren (Vgl. Postone 1988, 277; Bruhn 1991; Jacoby/Lwanga 1990,
95).
"Der Jude" dagegen symbolisiert die andere Seite. Er steht für
Kapital, abstrakte Herrschaft und künstliche Zivilisation; ihm werden eine
hohe, aber verschlagene Intelligenz, sagenhafte Macht und kalte Berechnung zugeschrieben.
Der moderne Antisemitismus leistet wesentlich mehr als der (klassische) Rassismus.
Als Geschichtsphilosophie bietet er eine ursächliche Erklärung der
gesamten kapitalistischen Gegenwart aus einem Prinzip, er macht "die Juden"
für ihre Nöte und Krisen, ihre Zwänge und Katastrophen verantwortlich
und verheißt Erlösung: die "Lösung" des "Judenproblems".
Die ideologische und psychologische Dynamik des modernen Antisemitismus ist
dadurch gekennzeichnet, dass seine Parteigänger gegen jeden Versuch rationaler
Überzeugung immun sind und dass er eine zwar objektiv konformistische,
weil am Ersatzobjekt sich ausagierende, subjektiv aber ernst gemeinte Rebellion
darstellt. Die Resistenz der antisemitischen (und auch der rassistischen oder
nationalistischen) Denkform gegen jede ihr widersprechende Realität speist
sich, wie ihre Immunität gegen Argumente und Kritik, aus dem psychischen
Gewinn, den sie verschafft. Sie erlaubt nicht nur eine instinktsichere Orientierung
in einer weithin unverständlichen und widersprüchlichen Gesellschaft,
die sich mit dem Stolz paart, einer Gemeinschaft der Eingeweihten und Wissenden
anzugehören - durch die Projektion alles Bösen auf das prospektive
Opfer "Jude" vermag der Antisemit sich vielmehr selbst zum absolut
Guten zu erklären und so den Freibrief sich auszustellen, in Notwehr zur
ersehnten Gewalttat am Ersatzobjekt zu schreiten und endlich den ein Leben lang
aufgestauten Hass ausleben zu dürfen. So wenig das Projizierte mit dem
Objekt zu tun hat, so wenig will der Projizierende diese Differenz erkennen.
Denn dann müsste er kritisch auf sich selbst reflektieren und das Ziel
seiner Vernichtungswünsche käme ihm abhanden. Der Antisemitismus ist
eine Bewusstseinsform, die nicht über sich selbst aufgeklärt werden
kann, die sich dagegen wehrt, ihrer selbst aufgeklärt zu werden.
© Martin Blumentritt, Hamburg 1996