Rückwärtige Überspringung


Von Ljubomir Bratic


Wir stehen vor dem Problem, eine antinationale Position zu definieren und zwar heute, wo sich viele linke Positionen angesichts der neoliberalen Welle als durch und durch national erweisen. Was den Nationalstaat betrifft - um ganz kurz seine Befindlichkeit zu charakterisieren -, können wir Frank Zappa’s Aussage bezüglich Jazz paraphrasieren: Er ist nicht tot aber er stinkt merkwürdig. Mit diesem Geruch scheinen sich aber viele zurechtzufinden. Sie glauben nach wie vor an eine Ewigkeit des – so offensichtlich – Vorübergehenden und plädieren für dessen Therapie. Das soll ihr Bier sein. Meine Aufgabe in diesem Text besteht darin, die möglichen organisatorischen und politischen Auswege aus dieser Situation zu skizzieren. Es ist kein leichtes Unterfangen, und ich werde sie sicher nicht zufriedenstellend beantworten. Ich glaube aber, dass so ein Versuch in unserer momentanen Situation lohnenswert ist.


Zunächst glaube ich, dass es sinnvoll wäre, von einer konkreten Situation, von einem sich gerade strukturierenden Ereignis auszugehen. Zur Zeit scheint mir die Idee eines Gegenjubiläums zum Jubiläumsjahr 2005 am naheliegendsten. In dieser Idee verflechten sich wieder einmal mehrere Linien der außerparlamentarischen Opposition im österreichischen Staat. Und wie es mir scheint, steht sie noch weit vor einer Klarheit bezüglich Ziele, bezüglich der zu bekämpfenden Idee und Gestalten und auch bezüglich der Mittel dorthin zu gelangen. Die Vorgeschichte dieser Initiative ist folgende: Irgendwann hat jemand (eine oder mehrere) die Idee gehabt. Diese Idee wurde zunächst in den bestehenden Kontexten mit ein paar Anderen diskutiert. Dann fand sich eine bestimmte Gruppe bereit mehr Arbeit zu leisten, heißt, sich um der Idee herum zu scharren und nachzudenken was, wie, wo, wer, usw.. Entstanden ist aus diesen Sitzungen ein Aufruf, der vor dem Sommer an einen erweiterten Kreis geschickt wurde, um das erste öffentliche Treffen für eine Plattform zustande zu bringen... Diese Plattform gibt es zur Zeit, dazu einige Arbeitsgruppen und auch einige andere am Werk tätigen Gruppen und Individuen, die entweder auf der Mailingliste stehen oder durch Mundpropaganda davon erfahren haben und an ihren eigenen Manifestationen basteln. Soweit die Struktur. Jetzt das Ereignis. Zunächst einmal nennt sich die Plattform „Gegenjubiläum“; das heißt, dass neben einer Gegnerschaft zum offiziellen Jubiläum, auch ein Aufruf zum Jubiläum der anderen Art als diejenige seitens der Bundesregierung geplant und durchgeführt wird. Die Situation wird mit eigenen Mittel zum Ereignis strukturiert, zu einem Geschehen wo nicht bloß die Meinungen, sondern auch die Prinzipien einer Funktion zu spielen beginnen. An der Definition dessen was das bedeutet wird zur Zeit gearbeitet. Und es scheint mir keineswegs gewiss, dass diese Inszenierung eine Antinationale sein wird.


Politik und Verwaltung
Was heißt heute Politik und damit verbunden, was ist ein politisches Projekt? Meines Erachtens, gestützt auf Rancier´s Überlegungen, ist Politik ein Versuch der Anteillosen in unserer Gesellschaften, aus ihrer Situation auszubrechen, ein Teil zu werden, ein Teil der als rationell und regierungsfähig betrachtet wird und nicht als emotional abgetan und insofern nur regiert werden kann. Die Regierung an sich hat nicht mit der Politik zu tun, sie gehört der Ebene der Verwaltung an, zu dem was Joseph von Sonnenfells im Jahr 1771 Polizey genannt hat. Wenn aber die Regierung nicht zur Politik gehört, dann gehören auch diejenigen Strukturen nicht dazu, die sich an der Regierung, in welcher Form auch immer beteiligen. Damit soll klar sein, dass es sich bei den Parteien, Interessensvertretungen, Kammern usw. um keine politischen Projekte handelt. Ihres ist es, die Verwaltung, an der sie sich beteiligen, möglichst in ihrem Sinne zu lenken. Das hier ist kein Vorwurf, es ist nur eine Feststellung. Diese Organisationen können zur Politik aufgerufen werden, sie selber betreiben aber Verwaltungstätigkeiten.


Was ist dann ein politisches Projekt seitens derjenigen, die Politik betreiben wollen? Zunächst einmal kann nur ein kollektives Projekt ein politisches Projekt sein. Es gibt keine individuelle Politik, genauso wenig wie es eine individuelle Sprache gibt. Damit heißt es auch, dass es sich um eine organisatorische Tätigkeit und um eine Form der Organisation handeln muss. Der Unterschied ist nur der, dass deren Herkunft nicht die Verwaltung, die Regierung, die Polizey ist, sondern sich außerhalb und vor allem gegenüber diesen befindet.


Das politische Projekt, mit Badiou gesprochen, entsteht aus einer Situation, aus dem, was in einer solchen Situation möglich zu tun und zu sagen ist. Das bedeutet, dass die politischen Urteile, Prozesse und Kämpfe existent sind. Sie fungieren aber nicht als Teil der Regierung und insofern sind sie nicht Bestandteile der bestehenden Normierungstechniken. Das Politische hat etwas mit der Autonomie zu tun, vielleicht nicht beabsichtigt aber in der Tatsächlichkeit stattfindend. Und es ist immer gebunden an einen Prozess, der so etwas wie den Hintergrund des Entscheidens und der geltenden Prinzipien bildet. Die Frage der Prinzipien ist die des Engagements der Gruppe im Namen einer gewissen Anzahl der festgelegten Normen und Forderungen. Dieses Engagement ist wiederum charakterisiert durch Ausdauer und Beharrung auf dieser einen Einstellung. Diese politischen Subjektivierungen sind die heutzutage aktiven Fortsetzungen dessen, was einmal Klasse genannt wurde; die Fortsetzung und gleichzeitig Überwindung.


Das Politische beginnt also dort, wo es Konflikte innerhalb bestimmter bestehender Prozesse, innerhalb der bestehenden Effekte und Effizienzen, auch innerhalb dessen was Staat genannt wird, gibt. Eine antinationale Position in diesem Kontext anzunehmen, heißt keineswegs den Staat negieren, sich jenseits dieser Gebilde zu phantasieren und dort behaupten, an einer Politik gegen den Staat zu arbeiten. Diese Position bedeutet zweierlei: Erstens den Staat als ein reales Objekt (und nicht als Effekt) anzunehmen, ihm bestimmte essenzielle Züge anzuerkennen und zweitens den Prozess Staat und die daraus resultierenden Kämpfe außer Acht zu lassen. Eine Aufgabe des Rahmens Staat bedeutet auch eine Aufgabe des Kampfplatzes Staat und damit die Aufgabe des Interesses an einer für die Alltagsregulierung der Individuen relevanten Kampfebenen. Der Staat und sein real existierendes Gesicht - der Nationalstaat - muss wieder als Terrain des Kampfes anerkannt werden, als ein Raum, der Möglichkeiten für politische Interventionen anbietet. Diese Forderung impliziert nicht, dass die Vergesellschaftungsform des nationalen Kollektivs nicht bekämpft werden soll. Und es impliziert bei weitem nicht die Beteiligung an den Mechanismen der sogenannten „parlamentarischen Demokratie“. Diese Art der Betätigung gehört als Teil der Verwaltung und Regierung nicht zur Politik. Insofern auch nicht zum Gruppenengagement, sondern allein zum individuellen Bereich der einzelnen Meinungen. Das ist der Bereich, in dem die MeinungsforscherInnen ihre Erfolge feiern können. Diese Forderung heißt, dass innerhalb der antirassistischen Bewegung Forderungen an die Adresse des Staates gestellt werden und auch werden müssen. An wen soll sich sonst die Forderung nach Legalisierung richten, wenn nicht an jene Institutionen, die die Illegalisierung betreiben. „Forderung“ heißt aber in einem politisch antirassistischen Kontext bei weitem nicht nur Appelle adressieren, sondern auch Arbeit an Schaffung bestimmter Bedingungen, in denen die staatlichen Institutionen anders agieren müssen als restriktiv. Der Staat und seine heutige Ausformung Nationalstaat befinden sich aus der Sicht des politischen Antirassismus in einem politischen Feld. Insofern wird hier ein Feld für politische Interventionen geboten. Nicht Rückzug sondern Offensive kann zur Zeit im Hinblick auf die stattfindende Umfunktionalisierung des Effektes Staat die einzige Antwort sein. Dabei sind nicht die Ämter wichtig, nicht die Positionen innerhalb der Verwaltung, sondern der Prozess des Einwirkens.


Insofern ist auch die Forderung mancher migrantischer, antirassistischer Gruppen - gerichtet an die MehrheitsösterreicherInnen, ihre Arbeitsplätze in sogenannten Integrationsbereich den MigrantInnen zu überlassen - nur als sekundär politisch zu bezeichnen. Dies in dem Sinne, dass hier eine Delegitimierungsstrategie für Teile der Verwaltung ihre Anwendung findet. Die Erfüllung dieser Forderung wäre aber kein politischer, sondern nur ein Akt der Durchsetzung mancher verwaltungstechnischer Ansprüche gegenüber der anderen.
Wo sollen wir landen?


Wie kann diese Analyse auf das heruntergebrochen werden, was Gegenjubiläum heißt? Zunächst einmal beteiligen sich bei der Sache keine politischen Parteien, obwohl ProponentInnen dieser in dem Umfeld herumschwimmen. Dadurch beruht die Sache auf die Selbstorganisation bestimmter handelnder AkteurInnen. Die Plattform versteht sich nur als Initialzündung. Sie steht somit zwar hinter dem Gedanken des Gegenjubiläums, aber sie übt keine Kontrollfunktion aus.


Die einzige Ebene, wo die Plattform einen Einfluss ausüben kann und wird, ist diejenige des Diskurses. Denn auch wenn sich Vielfältiges ergibt, entwickelt sich innerhalb der ausserparlamentarischer politischer Bestrebungen nichts was nicht ein Teil bestimmter Kontinuitäten wäre. Die Aktionen, die in solchen Zusammenhängen passieren, kontextualisieren sich in zweifacher Weise. Zunächst als Bestandteil bestimmter Entwicklungslinien und zweitens aus der Behauptung, dieser weiterzuführen (oder zu kritisieren oder abzulehnen...). Die Plattform ist eine selbstorganisierte verwaltungsferne Zusammenschluss der Interessen von Individuen und Gruppen, insofern auch als einer Art Allianz zu verstehen.


Wie ist das aber mit der Beziehung zum Staat? Da wird die Sache schon komplizierter. Zunächst einmal verwirt die Plattform die staatliche Ikonographie und Symbole nicht. Sie versucht diese zu modifizieren, aber „Österreich“ heißt dabei eben „Österreich“ und „Jubiläum“ ist ein Teil von „Gegenjubiläum“... Die vorherrschende Überzeugung dabei ist die, dass es sich nicht um gleiche Inhalte handelt. Wer vertritt aber diese Überzeugung, wer ist das Wir der Plattform? Offensichtlich jemand, der sich schöpferisch betätigt und in der Öffentlichkeit wirksame Mittel entwirft. Außer der Gegnerschaft zur Regierung und dem Drang zur Schaffung gibt es zur Zeit nicht sehr viel mehr. Es fehlt an einem politischen Kern, an den klar definierten Prinzipien und daran, was der Zweck der Übung sein soll. Es genügt nicht, den Staatsvertrag und seine nicht erfüllten Paragraphen zu verlautbaren, denn dieser Staatsvertrag hat aus antinationaler und antirassistischer Sicht nur eine einzige Funktion: die Schaffung einer Gehülse für die österreichischen Nation und damit einher gehende rechtliche und sonstige Ausschließungen. Eigentlich könnten wir aus antinationaler Sicht nur eine Abschaffung des Staatsvertrages fordern! Für den geplanten Ereignis heißt das, dass es konsequenterweise nicht affirmativ die Gründung des Staates 1955 sondern allein die Befreiung vom Nationalsozialismus oder auch die Besatzung der nationalsozialistischen Gebiete, also nicht die staatliche Konstitution, sondern die militärisch strategische Ebene der Alliierten zu jubilieren gilt.


Aus diesem Blickwinkel gesehen können wir uns die Frage stellen, ob diese Ballung der Jubiläen nicht auch eine strategische Bedeutung hat, ob da nicht die grundsätzliche Entwertung dieses einen ersten und wichtigsten Jahres vorangetrieben wird? Der Staat, der gleichzeitig den eigenen Staatsvertrag und den Sieg über den Nationalsozialismus feiert, wird aus diskursiven Gründen dazu neigen nur den Staatsvertrag und somit nur sich selbst zu feiern. Alles andere ist in einer solchermaßen strukturierten Öffentlichkeit sekundär, auch wenn das Gegenteil beteuert wird. Diesen Zusammenhang sollte die Plattform mitdenken, bei den Entscheidungen bestimmte Inhalte zu forcieren. Sollte ein konsequent politisches Gegenjubiläumsjahr durchgeführt werden, dann kann es nur um den Sieg gegen die NS-Schergen gehen und keineswegs um die zweite österreichische Republik. Nur in diesem Punkt verflüchtigt sich in diesem Projekt die Bedeutung des Nationalen. Und somit verbunden auch dessen performative Bestätigung. Nur in diesem Punkt können wir behaupten, einen konsequenten Kampf gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und für eine bessere Welt zu ehren. Alle anderen angeführten Jahrzahlen haben etwas zu tun mit dem Nationalismus, mit Eurozentrismus, mit Entmündigung, mit Ausschließungen und mit Beherrschung und Disziplinierung. Sie ergeben also kein Grund zu jubilieren, sondern nur einen der zur ihrer Infragestellung führen kann. Will die Plattform also konsequent eine antinationale Position vertreten, dann muss und soll sie sich auf diesen neuralgischen Punkt der Befreiung oder eben Besiegung konzentrieren. In diesem Sinne haben die Worte wie Österreich, Heimat, Staatsvertrag, EU usw. - innerhalb der Prinzipien die hinter der beabsichtigten Ereignisses stehen - keinen Platz, wenn das ein politisches antirassistisches Projekt werden soll.
Ljubomir Bratic
Philosoph, Sozialwissenschafter und freie Publizist