| ZURÜCK

"Solidarität mit den AktivistInnen in Genua"
[2004-03-01]

Zahlreiche Spontandemonstrationen gegen Polizeigewalt

Nachdem in Genua ein Demonstrant von einem Polizisten erschossen wurde, kam es noch in derselben Nacht zu zahlreichen Aktionen in Städten Deutschlands und Österreichs.

"Un ragazzo morto!!!" - Der Tod eines Demonstranten wurde kurz nach 18 Uhr erstmals vom alternativen Nachrichtenkanal Indymedia gemeldet. Dann herrschte Verwirrung. Schließlich bestätigten Berichte internationaler Nachrichtenagenturen, wie Reuters, das Gerücht. Carlo Giuliani, ein 23-jähriger italienischer Aktivist, war von einem Polizisten erschossen worden. Die Antiglobalisierungs-Bewegung hatte ihr erstes Todesopfer in Genua zu beklagen.

Als sich die Regierungschefs beim G8-Gipfel in der "Festung Genua" zum obligatorischen Familienfoto aufstellen sollten, gab es nur noch bedrückte Mienen. Kurz zuvor war auch von offizieller Seite bestätigt worden, dass der junge Mann durch einen Kopfschuss getötet worden war. Auf Indymedia trafen die ersten Augenzeugenberichte ein. Der schwerverletzte Giuliani wäre noch von einem Fahrzeug der Carabinieri überrollt worden. Fotos die über Reuters verbreitet wurden, dokumentieren das Geschehen. Eines zeigt eine Gruppe von Demonstranten, die einen Wagen der Carabinieri attackieren. Auf einem anderen ist Giuliani zu sehen. Er trägt ein weißes, ärmelloses T-Shirt. Über den Kopf hat er eine blaue Strumpfmaske gezogen. In seinen Händen hält der Mann einen Feuerlöscher ungefähr auf der Höhe seines Gesichtes. Aus dem Wagen schiebt sich eine Hand hervor, die Finger am Abzug der Pistole.

"Notwehr", lautete die offizielle Erklärung des Vorfalls. Manche Aktivisten sehen das anders. Auf Indymedia erscheinen Aufrufe. Man suche Augenzeugen, welche die Notwehrthese widerlegen könnten. Ein offensichtlich zermürbter Aktivist postet gegen 2 Uhr morgens noch einen Bericht auf die Website des Alternativkanals.

"Hier nochmals ein Bericht von einer mainstream-Zeitung (Repubblica) zu den Schuessen in Genua. Es gibt auch eine furchtbare Bildergalerie unter folgender Adresse (die meisten sind schon bei indy im Netz).
Eigentlich ist der Sinn von indymedia, dass wir die wir auf der Straße waren selbst Berichte schreiben und sie nicht von anderen Webseiten kopieren, schon gar nicht von anderen Medien.
Aber die Stimmung hier in Genua ist wütend. Es hätte jede und jeden von uns treffen können, die Schüsse galten uns allen. Die Polizei ging äußerst brutal vor, es gab mehr als 180 Verletzte. ‘(...)
Das sind keine optimalen Bedingungen um konzentriert einen Bericht zu schreiben mit den Bildern der Blutlache des Toten vor Augen und der Vorstellung wie es denen gehen mag die zu dem Zeitpunkt als geschossen wurde unmittelbar dabei waren oder was die FreundInnen und Angehörigen fühlen."

Aktivistengruppen wie ATTAC kritisieren die "Brutalität der Polizei" und den Einsatz von Schusswaffen. Von "militanten Gruppen" distanzieren sie sich aber explizit. Hauptvorwurf an die Genueser Sicherheitskräfte: "Schon im Laufe des Tages waren Aktionen von GegnerInnen der wirtschaftlichen Globalisierung von der Polizei angegriffen und gezielt aufgelöst worden. Dabei machte sie kaum einen Unterschied zwischen den einzelnen Veranstaltern, ob es sich nun um gewaltfreie Gruppen, GewerkschafterInnen, 3.Welt-AktivistInnen oder Militante handelte. Die Beamten gingen meist ziemlich brutal vor, der Einsatz von Tränengas war die Regel." Zahllose Bilder zeigen martialisch ausgerüstete Einsatztrupps, Polizisten - bis an die Zähne bewaffnet, die oft nur leicht bekleideten Aktivisten gegenüberstehen.

Verletzte gibt es auf Seiten der Polizei ebenso wie auf Seiten der Aktivisten. Auch zehn Journalisten werden in den Straßenschlachten verwundet. Der Tod des jungen Aktivisten und das bis dato noch nicht bestätigte Gerücht um eine Frau, die angeblich von einem Panzerfahrzeug überrollt und lebensgefährlich verletzt worden sein soll, rufen eine internationale Solidaritätswelle hervor. Hauptkritikpunkte der Antiglobalisierungsgegner sind: verstärkte Demobilisierungsversuche der Regierungen seit Göteborg, martialische Ausrüstung der Sicherheitskräfte, Einsatz von Schusswaffen, systematische Provokationen durch Polizeieinheiten.

Noch in der Nacht von Freitag auf Samstag kommt es zu zahlreichen Spontandemonstrationen in Deutschland. Vor der italienischen Botschaft in Berlin entrollen Aktivisten ein Transparent. Um Mitternacht gehen in Bremen 50 Personen auf die Straße. Weitere Aktionen gab es in Hamburg und Leipzig. Auch für heute, Samstag, sind zahlreiche Solidaritätskundgebungen angesetzt.

Gerüchte, dass der G8-Gipfel abgebrochen werden soll, zerschlagen sich. Auch die Aktivisten machen weiter. Das ist gegen 23 Uhr fix, nachdem es einige Stunden zuvor noch Überlegungen gab, von weiteren Aktionen Abstand zu nehmen. "Trotz Furcht vor Übergriffen werden die Proteste in Genua fortgesetzt", berichtet Indymedia.

Die Wut über das Vorgehen der Polizei und den Tod des Demonstranten entlädt sich in zahllosen Kommentaren in den Foren von Indymedia. Auch die zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Antiglobalisierungsbewegung seit langem schwelende Gewaltdebatte flammt wieder auf.

Bei der für heute angesetzten Großdemonstration werden etwa 100.000 Aktivisten erwartet. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden nochmals verschärft. Die Reaktionen der Politiker fielen unterschiedlich aus. Bundeskanzler Schröder sprach von einem tragischen Vorfall. Der wohl unpassendste Kommentar kam von Tony Blair. Laut einem Bericht von BBC erinnerte er daran, dass die am G8-Gipfel teilnehmenden Regierungsvertreter demokratisch gewählt worden wären, nicht aber die Aktivisten.

Telepolis - Magzin der Netzkultur, 21.07.2001

 

 

Als sich die Regierungschefs beim G8-Gipfel in der "Festung Genua" zum obligatorischen Familienfoto aufstellen sollten, gab es nur noch bedrückte Mienen. Kurz zuvor war auch von offizieller Seite bestätigt worden, dass der junge Mann durch einen Kopfschuss getötet worden war.