Berlin: Aktionstag gegen Abschiebung und Abschiebehaft am 30.8.2003
27.08.2003
no-racism.net | deportatiNO

       
 
Abschiebung bleibt Mord!

Antirassistische Initiativen und MigrantInenngruppen beteiligen sich in Berlin am Bundesweiten Aktionstag gegen Abschiebung und Abschiebehaft am 30.8.2003

12:00 bis 13:30 Uhr Breitscheidplatz: Antirassistischer Parcours, interaktive Installation "step into my shoes" und antirassistisches Radio
13:30 Uhr Breitscheidplatz: Kundgebung gegen Abschiebung und Abschiebehaft
20:30 Uhr Abschiebeknast Grünau: Dokumentarfilm zum Hungerstreik im Abschiebeknast und solidarische Grußbotschaften an die Gefangenen (und leckeres Essen)
Abschiebehaft Berlin-Köpenick, Grünauer Straße 140, Anfahrt: S-Bahn bis Grünau und dann Tram 68 bis Rosenweg oder S-Bahn bis Spindlersfeld, dann ca. 15 Minuten laufen.

Zuwanderung, Arbeitsmigration und Zuflucht in die Bundesrepublik Deutschland gibt es seit ihrem Bestehen. Als wiedererstarkende kapitalistische Wirtschaft bildete die BRD nach dem 2. Weltkrieg ein Ziel der weltweiten Migration in Richtung Europa, das billige Arbeitskräfte benötigte. Im Rahmen des sog. »Wirtschaftswunders« wurden bis zum Anwerbestopp 1973 aufgrund der ersten Wirtschaftskrise nach dem 2. Weltkrieg, der ersten Ölkrise mit dem Ölboykott der OPEC-Staaten, mehr als 2,6 Millionen GastarbeiterInnen angeworben, die jedoch – anders als von den PolitikerInnen geplant – im Land blieben und ihre Familien nach holten. Das Asylrecht spielte bis zu dieser Zeit keine Rolle, so dass die Innenministerkonferenz noch am 26.8.1966 beschließen konnte, Flüchtlingen unabhängig von ihren asylrelevanten Gründen einen gesicherten Aufenthalt zu gewähren.

Dies änderte sich jedoch in den 70er Jahren mit einer zunehmend bürgerkriegs- und verfolgungsbedingten Flucht in großem Ausmaß nach Europa und in die BRD. Ursachen waren vor allem die Militärputsche in Chile und der Türkei, der Umsturz in Pakistan, der Krieg im Libanon, die Besetzung und der Krieg in Afghanistan, der Bürgerkrieg in Sri Lanka, der Sturz des Schah-Regimes und die folgende Chomeini-Diktatur im Iran. 1966 wurden 4379, 1979 bereits 51.493 Asylanträge gestellt, 1980 waren es schon 107.811, wobei in den folgenden Jahren die Zahlen großen Schwankungen unterlagen (1983: 19.737, 1986: 99.650).

Mit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blockes kam es zu einer vor allem durch die westlichen Länder forcierten Reethnisierung der dortigen Staaten. Die Bundesrepublik nahm derzeit über eine halbe Millionen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien auf, etwa 2/3 aller AsylbewerberInnen, die zwischen 1989 und 1994 in der BRD einen Antrag gestellt haben, kamen aus den ehemaligen realsozialistischen Ländern Süd- und Osteuropas. Das massive Ansteigen der AsylbewerberInnenzahlen (auf 438.191 im Jahre 1992) ist in erster Linie den (geschürten) ethnischen Kriegen und dem Zerfallserscheinungen nach dem Zusammenbruch 1989 geschuldet, doch hat die Höhe der AsylbewerberInnenzahlen noch einem anderen Grund. In erster Linie kamen Bürgerkriegsflüchtlinge in die BRD, denen eigentlich ein vom Asylverfahren unabhängiger Aufenthalt nach dem Ausländergesetz (AuslG, § 32) zu gewähren gewesen wäre. Dieser wurde den Flüchtlingen jedoch in der Regeln verweigert und sie wurden von der Ausländeradministration geradezu »ins Asyl gedrängt«. Die AsylbewerberInnenzahlen wurden so von der Politik bewusst manipuliert und in die Höhe getrieben, um sie innenpolitisch zur Anheizung ausländerfeindlicher Stimmungen und Pogrome zu instrumentalisieren. – Fast jede Woche brannte in dieser Zeit ein Heim und Bilder ausländerfeindlicher Ausschreitungen gingen im die Welt. Innenpolitisch legitimierte dies die Zustimmung der SPD zum »Asylkompromiss«, also zur Verabschiedung des Asylbewerberleistungsgesetz, der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl am 1.7.1993 und der damit verbundenen Abschottung der EU-Außengrenzen (Schengener Abkommen). Durch die Instrumentalisierung des gesellschaftlichen Rassismus wurden so ökonomische Interessen durchgesetzt, denn die gesetzlichen Verschärfungen verringerten natürlich nicht die Flüchtlingszahlen. Sie drängten immer mehr Menschen in die Illegalität, so dass den Bedürfnissen der Ökonomie nach flexiblen, ausbeutbaren ArbeiterInnen ohne Rechte entsprochen wurde. Diese Politik der Regulation und Akzeptanz von ArbeiterInnen ohne Papiere setzt sich heute auf der EU Ebene fort.

Trotz der »hohen« Asylantragszahlen ist die Auslegung politischer Verfolgung in der BRD besonders restriktiv und die Anerkennungsquoten gehören europaweit traditionell zu den niedrigsten. Lag die Anerkennungsquote Mitte der 80er bei durchschnittlich 10 - 15 %, so ist seit dem ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen, der 2002 mit 1,83 % (2379 Menschen) nach Art. 16a des Grundgesetzes einen historischen Tiefstand erreichte. Zusätzlich bekamen noch 3,17 % (4.130 Menschen) das sog. »kleine Asyl«, welches jedoch keinen unbefristeten Aufenthalt beinhaltet. Trotzdem dürfen rechtliche nicht alle Menschen, die nicht als (politische) Flüchtlinge anerkannt werden, wieder abgeschoben werden. Dies ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der Anerkennung internationaler Konventionen wie der »Genfer Flüchtlingskonvention« oder der »Europäischen Menschenrechtskonvention« und der Nichtanerkennung geschlechtsspezifischer oder nichtstaatlicher Verfolgung durch marodierende »Warlords« im Asylrecht.

Seit Jahren wird die militärisch hochgerüstete EU-Außengrenze im Rahmen der Osterweiterung in Richtung der ärmeren osteuropäischen Transformationsländer verschoben, es werden vorverlagerte Migrationskorridore zum Abfangen und Regulieren der Migrationsströme installiert, an südlichen Mittelmeergrenzen machen hochgerüstete Einheiten Jagd auf die ankommenden Flüchtlingsboote. Ziel der Barrieren ist nicht die komplette Abschottung der EU, denn billige illegalisierte ArbeiterInnen werden in den Bereichen Landwirtschaft, Baugewerbe und bestimmten Dienstleistungsbereichen – Haushalt, Putzgewerbe, Prostitution – weiter dringend benötigt. Es findet nur eine stärkere Regulation und Selektion der ankommenden Menschen statt, der Preis einer Überwindung der Grenzbarrieren wird immer höher, draußen bleiben die Armen und politisch Verfolgten. So fordert das europäische Grenzregime jedes Jahr mehrere 10.000 Tote an seinen Außengrenzen.

Die BRD schob zwischen 1990 und 1998 nach Angaben der Bundesregierung rund 290.000 AusländerInnen ab und jedes Jahr werden es mehr, allein im Jahr 2001 waren es 43.950 Ab- bzw. Rückschiebungen. Zur Zeit diskutieren die EU-Innenminister die Abschiebung von über 100.000 afghanischen Flüchtlingen da das Land ja nun befriedet sei. Eine Vorreiterrolle übernahm hier wieder einmal die BRD, am 21.6.2003 wurde der erste Flüchtling seit 23 Jahren auf Anordnung des Rechtspopulisten Schill nach Afghanistan abgeschoben. Wie so häufig in der Geschichte der BRD wird Rassismus innenpolitisch instrumentalisiert um auf der einen Seite rassistischen Strukturen der Gesellschaft für die eigene Politik einzusetzen und auf der anderen Seite ökonomischen Interessen umzusetzen. Denn die Ausländergesetzgebung bietet den institutionellen Rahmen zur Segregation billiger Arbeitskräfte. So wird der hiesige Arbeitsmarkt »ethnisch unterschichtet«, die dreckigen und schweren Arbeiten werden vermehrt von »Sans Papiers« verrichtet, die Profiteure sind in erster Linie die deutsche Wirtschaft und diejenigen, die noch einen regulären Job besitzen und durch die Ethnisierung die Chance auf einen besseren Arbeitsplatz bekommen. In Zeiten allgemeiner Umstrukturierung und Sozialabbaus fungiert Rassismus dann als ideologische Kittfunktion und Begründungsmuster, die Schuld an den Kürzungen bekommen die MigrantInnen in die Schuhe geschoben und verdecken deren doppelte Benachteiligung. Eine zentrale Stelle spielen hier die »neu« errichteten »Ausreisezentren«, da diese Lager in erster Linie Menschen in die »Illegalität« treiben und dies aus offizieller Sicht als Erfolg, als »unkontrollierte Ausreise« verbucht wird.

Zum Hintergrund des 30.08.

Am 30. August vor 20 Jahren: Der Tod von Kemal Altun
Am 30.8.1983 starb Kemal Altun, 23-jähriger Asylbewerber aus der Türkei, durch einen Sprung aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts in Westberlin, wo eine Klage des Bundesbeauftragten gegen seine Anerkennung als politischer Flüchtling verhandelt werden sollte.
Ein Jahr zuvor hatte sich das BKA bei der türkischen Regierung erkundigt, ob die Auslieferung gewünscht sei. Der junge Türke gehörte zur demokratischen Opposition. Die türkische Regierung ließ sich von der Bundesrepublik nicht zweimal bitten und forderte seine Überstellung in die Türkei.
Das in Gang gesetzte Auslieferungsverfahren führte in der Öffentlichkeit zu einer Welle der Solidarität mit Kemal Altun. Während des politischen Tauziehens um seine Person saß der junge Asylbewerber in Auslieferungshaft, 13 Monate lang, 23 Stunden täglich allein in der Zelle. Dem Druck und der Angst vor seiner Abschiebung hielt Altun am Ende nicht mehr stand.

30. August 1994: Der Tod von Kola Bankole durch die brutale Abschiebepraxis
Der Nigerianer Kola Bankole erstickte am 30.8.1994 in der Lufthansa-Maschine, mit der er abgeschoben werden sollte, an einem Knebel, der ihm vom Bundesgrenzschutz in den Mund gedrückt wurde. Zuvor war er mit Klebeband und Klettbändern an Händen und Füßen gefesselt, mit Skisocken und einem Rolladengurt geknebelt und mit gespritzten Psychopharmaka "ruhig gestellt" worden. Gegen die vier BGS-Beamten fand kein Prozess statt, das Verfahren wurde eingestellt.

Rachid Sbaai stirbt in der Arrestzelle des Bürener Abschiebeknastes am 30. August 1999
Rachid Sbaai wurde am 30.8.1999 in die Arrestzelle der JVA Büren, des größten deutschen Abschiebeknasts, gebracht, wo er gegen 11 Uhr die Matratze seiner Einzelzelle in Brand gesetzt haben soll. Ein Mitgefangener, der sich eine Arrestzelle weiter befand, hörte, wie Sbaai auf Arabisch schrie, dass er gerettet werden müsse, weil es brennen würde, und drückte sofort den Alarmknopf, der sich in jeder Zelle befindet. Allerdings musste er 15 Minuten lang den Todeskampf von Rachid Sbaai mit anhören, bis die Schreie verstummten. Danach kamen mehrere Beamte und Mitarbeiter der Firma Kötter. Sie zogen Sbaai aus der Zelle und versuchten, ihn wieder zu beleben. Als der Anstaltsarzt eintraf, konnte dieser nur noch den Tod durch Rauchvergiftung feststellen.
Die Anstalt bestreitet bis heute, dass auch Sbaai den Alarmknopf ausgelöst hat, obwohl der Alarm registriert wurde. Der Mitgefangene wurde sofort in ein anderes Hafthaus verlegt, der Polizei wurde die Existenz dieses Zeugen nicht mitgeteilt. Das Verfahren ist in der Zwischenzeit eingestellt.

30. August 2000: Der Tod Altankhou Dagwasoundels bei der Flucht aus der Abschiebehaft
In der Nacht zum 30.8.2000 stürzte der 28-jährige Mongole Altankou Dagwasoundel beim Versuch, aus der Abschiebehaft in Berlin-Köpenick zu fliehen, in den Tod. Dagwasoundel befand sich seit etwa vier Wochen im Berliner Abschiebeknast, als er am Abend des 29. August ins Krankenhaus Köpenick eingeliefert wurde. Dort wurde er in einem Zimmer im sechsten Stock untergebracht und von zwei Beamten bewacht. Dagwasoundel versuchte, sich mit verknotetem Bettzeug aus dem Fenster in das darunter liegende Stockwerk abzuseilen und stürzte in die Tiefe.


Die geschilderten Todesfälle im Zusammenhang mit Abschiebungen und Abschiebehaft sind Beispiele dafür, zu welchen verzweifelten Schritten die Opfer der Abschiebemaschinerie getrieben werden. Allein in Berlin sind seit 1993 bereits acht Todesfälle in Zusammenhang mit der Furcht vor Abschiebung oder Abschiebehaft dokumentiert. Zu Beginn des Jahres 2003 kam es zu einer beispiellosen Welle von Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen der Menschen im Abschiebeknast Berlin-Köpenick, die ihre Freilassung erreichen wollten.

Die Namen Kemal Altun, Kola Bankole, Rachid Sbaai und Altankhou Dagwasoundel stehen für unzählige weniger bekannte Flüchtlinge, die ihrer Abschiebung nicht überlebten oder zu verzweifelten Schritten getrieben wurden und werden. Aus Anlass dieser Jahrestage wurde der 30.08.03 als Aktionstag der bundesweiten Vernetzung der Abschiebehaftgruppen gewählt, an dem wir uns in Berlin mit folgenden Aktionen beteiligen möchten:

Um 12:00 Uhr eröffnen wir auf dem Breitscheidplatz den antirassistischen Parcours der JungdemokratInnen/Junge Linke (Brandenburg) und eine interaktive Installation "step into my shoes" der Kunstgruppe Gottlieb. Parallel verbreitet ein "antirassistisches Radio" Informationen gegen Abschiebehaft und Abschiebungen. Im Anschluss findet gegen 13:30 Uhr ebenfalls auf dem Breitscheidplatz eine Kundgebung gegen Abschiebung und Abschiebehaft statt.

Ab 20:30 Uhr zeigen wir direkt vor dem Abschiebeknast Grünau unter freiem Himmel einen Dokumentarfilm zum Hungerstreik im Abschiebeknast im Februar 2003 und übermitteln den Gefangenen unsere solidarischen und lautstarken Grüße. Außerdem gibt es leckeres Essen. (Anfahrt zur Abschiebehaft Berlin-Köpenick, Grünauer Straße 140: S-Bahn bis Grünau + Tram 68 bis Rosenweg oder S-Bahn bis Spindlersfeld, dann ca. 15 Minuten laufen).

Nieder mit den Knästen! Keine Lager in der BRD!

Für das Recht auf Migration weltweit und gegen ein Europa des Kapitals und der Selektion von Menschen nach Verwertungsbedingungen!

Es rufen auf: Antirassistische Initiative (ARI), Flüchtlingsinitiative Brandenburg, Gruppe »Frauen im Exil«, Initiative gegen Abschiebehaft, Initiative gegen das Chipkartensystem, Komitee zur Unterstützung der politischen Gefangenen im Iran (Berlin), Naturfreundejugend Berlin

 


Mehr Info:
Initiative gegen Abschiebehaft
www.berlinet.de/ari/ini
   
 

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