Immigration in Frankreich: zwischen kolonialer Unterdrückung und Widerstand
06.04.2002
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1. Aufruf zum internationalen noborder-Camp in Strasbourg - engl. (Dez. 2001)


mehr zu Grenzcamps auf www.no-racism.net
 
Im Sommer 2002 (von 19. - 28. Juli) wird in Strassburg ein internationales noborder-Camp stattfinden. Anti- RassistInnen und Anti-KapitalistInnen, sowie selbstorganisierte MigrantInnen und Flüchtlinge aus ganz Europa werden aufeinander treffen. Da das Camp in Strassburg stattfindet und sich mehrere französische Zusammenhänge an der Initiative beteiligen, wird der politischen Situation in Frankreich besonders Aufmerksamkeit gegeben werden. Der folgende Artikel versucht die Hintergründe der Immigration in Frankreich und deren soziale Kämpfe kurz zu beleuchten.


Immigration in Frankreich: zwischen kolonialer Unterdrückung und Widerstand

Wie bei anderen Kolonialmächten, kennzeichnet sich die Kolonialherrschaft der "Grande Nation", über die Länder Nord- und Westafrikas, so wie in Zentralamerika und im Pazifik, durch Sklaverei und Ressourcenplünderung, die dazu beigetragen haben den Wohlstand in Europa aufzubauen.

In der Nachkriegszeit gab es mehrere Immigrationswellen in die europäischen Metropolenländer. Die MigrantInnen die nach Frankreich auswandern, kommen zum grössten Teil aus dem Maghreb. Als billige Arbeitskraft arbeiten sie oft in den Fabriken, auf dem Bau, bei der Ernte auf den grossen Gemüse- und Obstplantagen Südfrankreichs oder in der Prostitution.

Die Kolonien erkämpften sich ihre Unabhängigkeit, doch die koloniale Beziehung zu diesen Ländern und den MigrantInnen blieb bestehen. Die koloniale Unterdrückung und die rassistische Diskriminierung zieht sich bis heute quer durch die französische Gesellschaft und ihre Geschichte.

Die MigrantInnen liessen sich in "bindonvilles" nieder, dh sehr prekäre Konstruktionen wie mensch sie aus den Slums in Brasilien kennt. Oder sie wurden in Transitsiedlungen (cités de transit) untergebracht, in ihren eigenen Wörtern "Pappkartonbauten die für 6 Monate gedacht waren, in denen aber verschiedene Leute heute bereits über 30 Jahre drin wohnen".

Die französische Arbeiterklasse der Nachkriegszeit war gut organisiert um ihre Anliegen durch Streiks u.ä. durchzusetzen. Die eingewanderten ArbeiterInnen, die oft aus einer ländlichen Gegend kamen, wo ihnen im Laufe der kolonialen Zeit die Lebensgrundlagen zerstört worden waren, waren nicht vergleichbar organisiert, sie machten also weniger Probleme und erledigten die Arbeit für billigere Löhne.

Doch die MigrantInnen, besonders aus dem Maghreb versuchten sich immer wieder zu organisieren. Am 17. Oktober 1961, kurz vor der Unabhängigkeit Algeriens, kam es zu einer massiven gewaltfreien Demonstration in Paris bei der viele MigrantInnen sowohl den Unabhängigkeitskampf in Algerien unterstützen wollten, wie gegen die rassistische Diskriminierung und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen demonstrieren wollten. Über 10.000 AlgerierInnen wurden an dem Tag verhaftet,und in Stadien und staatlichen Gebäuden zusammengebracht. Vier Tage lang wurden sie erkennungsdienstlich behandelt und systematisch geschlagen. Es kam zu Hinrichtungen, viele starben an ihren Verletzungen, die Leichen wurden zum Teil in die Seine geschmissen. Offiziell hieß es 2 Tote, doch die AlgerierInnen reden von mindestens 200 Toten. Frankreich hat dieses schwere Menschenrechtsverbrechen nie anerkannt. Erst 40 Jahre später, im Oktober 2001, tauchte das Thema in der öffentlichen Debatte auf und eine Gedenktafel wurde an einer Brücke der Seine angebracht.

Der Pappkarton und das Blech der Bidonvilles wurde heute zwar durch Beton ersetzt und viele Leute wurden in 20stöckige Zweckbauten am Stadtrand gesteckt (die sogenannten "cités des banlieues"), doch die Verhältnisse haben sich nicht grundsätzlich geändert weil der französische Staat alles gemacht hat um diese so beizubehalten.

Das Bildungssystem ist ein beispielhaftes Instrument der Diskriminierung. Die Schulen der Banlieues arbeiten Hand in Hand mit der Polizei. Eine Aufsichtskraft berichtet, dass die Bullen oft am Ausgang der Schulen stehen und mindestens zweimal pro Woche jemand auf die Wache mitnehmen. Die Abwesenheiten werden gemeldet. Wenn ein Schüler zu oft blau macht, wird die Familie bestraft indem ihr das Kindergeld gestrichen wird. Dass der junge Rachid jeden Dienstag auf seine jüngere Geschwister aufpassen muss, weil seine Mutter arbeitet und deswegen nicht zur Schule geht, interessiert keinen. Es wird also Druck auf die Eltern ausgeübt damit die Kinder das Maul halten. Viele Jugendliche werden zur Schule gar nicht erst zugelassen, andere werden von einem Schuljahr in das andere "weitergelassen" ohne dass viel nach ihnen geschaut wird. Sie werden immer nur an beruflicher Ausbildung orientiert. Mit 15 oder 16 kommen sie auf den Arbeitsmarkt, nicht selten können viele von ihnen kaum gut französisch sprechen, lesen oder schreiben. Arbeitslosigkeit und billige, minimal ausgebildete Arbeitskraft ist schliesslich gut für den Kapitalismus, es erhöht den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt und senkt damit die Produktionspreise damit die Industrien auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben. Die MigrantInnen reden hier oft von "chômage programmé" oder "soziale Dressur", d.h. vorprogrammierte Arbeitslosigkeit.

Eine merkwürdige Anekdote aus einer Schule in Strassburg: kurz nach dem 11. September werden in den Schulen in ganz Frankreich 3 Gedenkminuten an die Opfer in NY angeordnet. Der Schuldirektor einer Schule in Strassburg befiehlt den LehrerInnen und Aufsichtskräften, ca 40 Schüler in ein anderes Klassenzimmer zu bringen mit der Begründung, dass diese die Gedenkminuten eh nicht verstehen werden und sich nicht entsprechend ruhig verhalten werden. Sollten weitere Schüler sich problematisch verhalten, sollen diese sofort zum Direktor gebracht werden. Ohne Erklärung werden die ca 40 Schüler (fast alle männlich und "Araber") unter Aufsicht eingesperrt. Gegen den Willen des Direktors erklärt ihnen eine der Aufsichtkräfte, dass sie willkürlich von ihren Mitschülern getrennt wurden. Die Reaktion der Jungendlichen ist klar:"Nique la France! Scheiss Rassisten ...".

In Frankreich herscht auch die "double peine", die Doppelstrafe. D.h MigrantInnen und sogar französische MigrantInnenkinder werden vor Gericht anders behandelt als FranzösInnen. Für eine Straftat werden sie erstens oft härter bestraft als andere und anschliessend werden sie auch noch abgeschoben. Die Straftaten sind oft kleine Delikte, die Zeichen von Armut sind, Zeichen dass sie an einem Wohlstand teilhaben wollen der ihnen verweigert wird, d.h. klauen, dealen mit Haschisch, beim Schwarzfahren erwischt werden etc. Ein Aktivistin aus Strassburg meinte: "es klingt absurd, aber wenn der ÖPNV in den Banlieues besser ausgebaut wäre und es Nachtbusse geben würde, dann würden nicht so viele Autos geklaut werden". Wie im Film La Haine (Hass) von Mathieu Kassovitz, klauen die Jugendliche ein Auto weil sie sonst nachts nicht nach Hause kommen. 75 % der "double peine" werden nach Algerien abgeschoben. Viele von ihnen sind gar nicht dort aufgewachsen, sie haben ihre Familie, Kinder und FreundInnen in Frankreich. Selbstverständlich kommen sie lieber als "sans papier" illegalisiert nach Frankreich zurück.

Im Sommer 2001 wurden in verschiedenen Städten Frankreichs für Banlieues und bestimmte Stadtteile Sondergesetze durchgesetzt: z.B. Jugendliche unter 14 Jahre durften ab einer bestimmten Uhrzeit abends nicht mehr auf der Strasse sein. Die Polizei war befugt, sie festzunehmen und die Eltern mussten sie auf der Polizeiwache abholen, oft mit Drohungen wie Kindergeldstreichung u.ä verbunden. Regelmässig kommt es in diesem Zusammenhang zu polizeilichen Übergriffe. Leute werden auf der Strasse, auf der Wache oder im Knast misshandelt, und im schlimmsten Fall umgebracht. Offiziell gibt es keine Todesstrafe in Frankreich, doch in den Strassen werden regelmässig Jugendliche erschossen und die Polizei bleibt unbestraft.

Ausschreitungen und brennende Autos in den Banlieues sind eine Ausdrucksform der Anliegen
der MigrantInnen. Der Kampf der MigrantInnen für Würde und ihre Rechte hat die Geschichte
Frankreichs für immer geprägt, auch wenn diese oft ignoriert wird.


Widerstand

Die Bewegung der MigrantInnen der 70er Jahre betrifft hauptsächlich die EinwanderInnen der ersten Generation. Im September 1972 gab es bereits eine "sans papiers" Bewegung die durch Hungerstreiks 35.000 Regularisierungen erwirken konnte. 1973 kommt es zu einem Generalstreik gegen rassistische Verbrechen, und 1976 zu einer breiten Verweigerung Mieten zu zahlen. Diese Kämpfe wurden mit heftiger Repression und Abschiebungen seitens des Staates beantwortet.

Anfang der 80er wird die Regierung von Giscard im Zuge einer ökonomischen Krise von den Sozialisten mit Mitterand abgelöst. Diese Zeit entspricht der Geburt einer Bewegung der Jugendlichen MigrantInnenkinder (2. Generation) die sich den gleichen Diskriminierungen wie ihre Eltern ausgesetzt sehen. Vom 15. Oktober bis zum 3. Dezember 1983 kommt es beispielsweise zum historischen "Marche pour l'Egalité", der mit 100.000 Leuten in Paris ankommt. In der folgenden Zeit gibt es mehrere grosse Mobilisierungen und eine grössere gesellschaftliche Debatte. Kurz nach dem Marsch steht eine Auseinandersetzung in der Autofabrik TALBOT im Mittelpunkt. Die zahlreichen angestellten MigrantInnen werden von den französischen "Patrons" mit Entlassung bedroht. Da die üblichen Gewerkschaften CFDT und CGT die Sache ignorieren, schliessen sich die ArbeiterInnen mit den Jugendlichen MigrantInnen zusammen. Eine Person von MIB kommentiert es folgendermassen "solange die ‚beurs' die multikulturelle Karte spielen, läuft alles ok, aber sobald Forderungen nach Würde, gleiche Behandlung vor Gericht kommen oder Kofrontationen mit der Polizei stattfinden, dann sind sie nicht mehr gewollt."

Die Bewegung wird durch geschickte Politik des Staates integriert. "SOS Rassisme" und andere staatliche geförderte Organisationen tauchen plötzlich auf, verwirren die Bewegung und geben der Dynamik der Selbstorganisation einen Schlag. Doch die alltägliche Unterdrückung, die Abschiebungen und die Morde an Jugendlichen setzen sich fort, immer wieder kommt es zu Ausschreitungen und Mobilisierungen.

Das Beispiel Gutenberg:

In Nanterre, werden 130 Familien aus den Bidonvilles in einer Transitsiedlung bei Gutenberg "provisorisch" untergebracht. Die Jugendlichen sind marginalisiert, die Gesellschaft CETRAFA verwaltet die Unterkunft in einem kolonialen Stil: Polizeidruck, Einschüchterung und Erpressung. Die Leute werden nicht einmal als MieterInnen anerkannt. Viele Jugendliche werden aus der Schulen ausgeschlossen oder in zweitrangige Ausbildungen gesteckt. An einem Oktoberabend 1982 wird der 19 jährige Student Abdeni Guemiah von einem französischen Nachbarn erschossen. Es reicht! Die Jugendlichen aus der cité lassen ihrer Wut freien Lauf und zerstören die Büros der CETRAFA. Die Eltern schliessen sich an und weigern sich die Mieten zu zahlen. Die selbstorganisierten MigrantInnen fordern eine Umsiedlung in anständige Wohnungen und die Bestrafung von Abdenis Mördern. 1985 werden alle Familien umgesiedelt und der Mörder bekommt 12 Jahre Haft. Gutenberg gilt gerne als Bezugspunkt für die Selbstorganisation und Autonomie des Kampfes.

Anfang der 90er kommt eine neue Generation von AktivistInnen. Sie sind im Beton der Banlieues aufgewachsen und haben von der Immigration nur von ihren Eltern erfahren und sogar die vergangenen Kämpfe sind ihnen fremd. Sie organisieren sich um sich gegen die double peine (Strafe + Abschiebung) zu wehren. Das autonome "Comité National contre la Double Peine" wird schnell zu einem der wichtigen politischen Akteure. Demos, Bürobesetzungen, Rettung von von Abschiebung bedrohten Leute aus den Flughäfen usw. gehören zu ihren Aktionen. Mehrere kleine Organisationen fangen an sich zusammenzuschliessen und der "Mouvement des Immigrés de Banlieue (MIB)" wird gegründet. Der MIB dient als Struktur und Sprachrohr der MigrantInnen. Sie beschäftigen sich mit Wohnbedingungen, double peine, Gerichtsverhandlungen bei Morden an Jugendliche, Abschiebungen, Respekt der Freiheit die muslimische Religion auszuüben, usw. Der Staat versucht den MIB mit Repression einzuschüchtern: ihre Büros wurden vor 3 Jahren von der Polizei gestürmt, die Computer zerstört, ihre Akten über double peine und Abschiebungen zerstört usw. Den AktivistInnen werden Prozesse angehängt, z.B einer wurde beim Plakatieren verhaftet und dabei wurden ihm 80g Haschisch unterschoben.

Seit dem 11. September ist die Spannung gestiegen. Der Diskurs über den "Kampf gegen den Terrorismus" richtet sich auch an die MigrantInnen und Banlieue-BewohnerInnen. "Das muslimische Problem" wird in allen Zeitungen thematisiert. Im Juni 2002 stehen in Frankreich die Präsidentschaftswahlen an, "Innere Sicherheit" ist Wahlkampfthema Nr. 1. Neulich war Präsident Jacques Chirac in Mantes la Jolie, einem Banlieue-Stadtviertel in Paris. Dort wurde vor 10 Jahre ein Bewohner von einem Polizisten erschossen und erst vor kurzem wurde der Polizist freigesprochen, was zur Empörung geführt hat. Um die Verhältnisse in Frankreich zu betonen hat Chirac dort eine Wahlveranstaltung gemacht und von der notwendigen "impunité zéro" (französisch für Null Toleranz) gesprochen.

Der MIB beteiligt sich an der Organisation des noborder-Camps in Strassburg. Für sie stellt es eine Gelegenheit dar, andere soziale Kämpfe und Bewegungen aus Europa kennenzulernen und ihre Anliegen in einem anderen Kontext zu artikulieren.

Mit dem voranschreitenden Abbau der Wohlfahrtstaaten in Europa, den Kriegen weltweit und ökonomische Krisen wie in Argentinien werden die Zeichen von Krise in der Regierbarkeit der Staaten immer sichtbarer. Da jetzt kein Wohlstand mehr verteilt werden kann, wird überall an der Schraube der sozialen Kontrolle gedreht. Nachdem der Mythos vom "Ende der Geschichte" durch die sogenannten Anti-Globalisierungs Proteste weltweit angekratzt wurde, ist der Diskurs des "Kampfes gegen den Terrorismus" ein billiger Versuch die Menschheit in eine pensée unique, ein Einheitsdenken, wieder zu versetzen, die die Welt wie bei Walt Disney in Guten und Bösen einteilt. Die Staaten stempeln überall Menschen als Terroristen ab um Repression gegen sie zu rechtfertigen. Armut, Immigration und die politische Aktivität von Menschen die die herrschenden Verhältnisse in Frage stellen, wird kriminalisiert. Eine konkrete Äusserung davon ist das Schengen Informationssystem in Strassburg (SIS), das Megadateien enthalten soll mit den Namen von allen Nicht-EU-Bürgern und allen auffälligen politischen AktivistInnen.

Doch der Diskurs des "Kampfes gegen den Terrorismus" ist nur eine hauchdünne Fassade die es anzukratzen gilt. Die Begegnung und Konvergenz verschiedener politischer und sozialer Strömungen, die sichtbar machen, dass es um Unterdrückungsverhältnisse geht, wird dazu beitragen eine neue Kraft zu entwickeln. Das Camp in Strassburg wird im Gegensatz zu den vorhersehbaren Gegengipfel Mobilisierungen einen guten Rahmen für Austausch und Aktion anbieten. Also Zelte packen und auf nach Strassburg von 19. bis 28. Juli 2002!

 


Mouvement des Immigrés de Banlieue (MIB)

noborder-Netzwerk



Der Artikel ist auch auf der Seite des autonomen Zentrums Freiburg erschienen
   
 

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