VOM
BLOSSEN ARBEITER
ZUM VOLLSTÄNDIGEN MENSCHEN
Der
traditionelle Marxismus arbeitete an der Befreiung der kapitalistischen
Arbeit statt an ihrer Abschaffung. Von Moishe Postone
Der traditionelle Marxismus bezog sich stets positiv auf den Standpunkt
der »Arbeit«. Damit unterscheidet er sich grundlegend von
der reifen Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Zwar konstituiert
und determiniert laut Marx die Arbeit tatsächlich die Gesellschaft
- aber nur im Kapitalismus. Sie wirkt auf Grund ihres spezifischen historischen
Charakters bestimmend und nicht einfach als eine Tätigkeit, die den
Stoffwechselprozess von Mensch und Natur vermittelt. Mit dem, was Theoretiker
wie Hilferding der »Arbeit« zuschreiben, hypostasieren sie
die Besonderheiten der Arbeit im Kapitalismus zu etwas Überhistorischem.
Insoweit die Marxsche Analyse dieser Besonderheit zu zeigen vermag, dass
die Arbeit zwar als transhistorische, ontologische Grundlage der Gesellschaft
erscheint, in Wirklichkeit aber historisch bestimmt ist, enthält
sie auch eine Kritik einer derartigen, für den traditionellen Marxismus
charakteristischen Ontologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Aus
der Marxschen Analyse des spezifischen Charakters von Arbeit im Kapitalismus
ergibt sich außerdem ein der Kritik vom Standpunkt der »Arbeit«
diametral entgegengesetzter Zugang zum Verhältnis von gesellschaftlicher
Form und gesellschaftlichem Inhalt im Kapitalismus. Die traditionelle
Auffassung von »Arbeit« legt eine Vorstellung von der Mystifizierung
gesellschaftlicher Verhältnisse nahe, die zwischen dem gesellschaftlichen
»Inhalt« und seinen mystifizierten Formen keine innere Beziehung
kennt. In der Marxschen Analyse jedoch stehen die Formen der Mystifizierung
(das, was er »Fetisch« nannte) genau in einem solchen engen
Verhältnis zu ihrem »Inhalt« - sie werden als notwendige
Erscheinungsformen eines »Wesens« behandelt, das sie sowohl
ausdrücken als auch verschleiern. (1) Gesellschaftliche Verhältnisse
erscheinen laut Marx »als das, was sie sind, d.h. (...) als sachliche
Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse
der Sachen.« (2) In anderen Worten: Die in den Kategorien Ware und
Wert ausgedrückten quasi-sachlichen, unpersönlichen gesellschaftlichen
Formen verschleiern nicht einfach die »realen« gesellschaftlichen
Verhältnisse im Kapitalismus (das heißt die Klassenverhältnisse),
wie der traditionelle Marxismus vermeinte; vielmehr sind die in diesen
Kategorien ausgedrückten abstrakten Strukturen diese »realen«
gesellschaftlichen Verhältnisse.
Marx wirft der politischen Ökonomie vor, die innere, notwendige Beziehung
zwischen gesellschaftlicher Form und Inhalt nicht gesehen zu haben: »Sie
hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form
annimmt, warum sich also Arbeit in Wert und das Maß der Arbeit durch
ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt.«
(3) Seine Analyse der Besonderheit des geschichtlich bestimmten Inhalts
- also der kapitalistischen Arbeit - bildet den Ausgangspunkt für
seine Antwort auf diese Frage. Es liegt im Charakter der Arbeit im Kapitalismus,
dass sie die Form des Werts (der seinerseits in weiteren Formen erscheint)
annehmen muss.
Die innere Beziehung zwischen gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem
Inhalt in der Marxschen Kritik verweist darauf, dass es ein Widerspruch
wäre, sich die Überwindung des Kapitalismus - seine reale Demystifikation
- in einer Weise vorzustellen, die nicht auch die Transformation des notwendigerweise
in mystifizierter Form erscheinenden »Inhalts« einschließt.
Insofern ist die Aufhebung des Werts und der mit ihm verbundenen abstrakten
gesellschaftlichen Verhältnisse nicht von der Aufhebung der Wert
produzierenden Arbeit zu trennen. Bei dem in der Marxschen Analyse erfassten
»Wesen« handelt es sich nicht um das der menschlichen Gesellschaft,
sondern um das »Wesen« des Kapitalismus. Es muss durch die
Überwindung dieser Gesellschaft abgeschafft und nicht erst noch verwirklicht
werden. Wenn dagegen, wie im traditionellen Marxismus, kapitalistische
Arbeit als »Arbeit« hypostasiert wird, erscheint die Aufhebung
des Kapitalismus als Befreiung des »Inhalts« des Werts von
seiner mystifizierten Form, was dann erlauben soll, diesen »Inhalt«
(die »Arbeit«) bewusst zum Prinzip der Ökonomie zu erheben.
Doch das ist nichts anderes als ein etwas raffinierterer Ausdruck für
die abstrakte Entgegensetzung von der Planung als dem Prinzip des Sozialismus
und dem Markt als dem Prinzip des Kapitalismus, einer Entgegensetzung,
die ich weiter oben [bezieht sich auf sein Buch; die Red.] eingehender
kritisiert habe. Denn in ihr wird weder angesprochen, was geplant werden
soll, noch der Grad, in dem die Planung wahrhaft bewusst und frei von
den Imperativen struktureller Herrschaft ist. Die einseitige Kritik der
Distributionsweise und die transhistorische gesellschaftliche Ontologisierung
der Arbeit hängen eng zusammen.
Mit seiner Kritik am historisch spezifischen Charakter der kapitalistischen
Arbeit transformierte Marx die auf der Arbeitstheorie des Werts aufgebaute
Gesellschaftskritik von einer »positiven« zu einer »negativen«
Kritik. Die Kapitalismuskritik, die den Ausgangspunkt der klassischen
politischen Ökonomie - die transhistorische, undifferenzierte Auffassung
von »Arbeit« - beibehält, um daraus die strukturelle
Existenz von Ausbeutung zu beweisen, ist dagegen ihrem Begriff nach eine
»positive« Kritik. Diese Kritik bestehender gesellschaftlicher
Bedingungen (Ausbeutung) und Strukturen (Markt und Privateigentum) geht
von dem aus, was bereits existiert (»Arbeit« in der Form industrieller
Produktion). Insofern verweist sie am Ende auf eine bloß andere
Variante der existierenden kapitalistischen Gesellschaftsformation. Die
Marxsche Kritik der Arbeit im Kapitalismus liefert dagegen die Grundlage
für eine »negative« Kritik - eine, die das Bestehende
auf der Grundlage dessen kritisiert, was sein könnte - und damit
auf die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft verweist. In diesem
Sinn (und nur in diesem, nicht soziologisch reduzierten Sinn) ist der
Unterschied zwischen den beiden Formen von Gesellschaftskritik als der
zwischen einer »bürgerlichen« Gesellschaftskritik auf
der einen und einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft auf der
anderen Seite zu verstehen.
Der traditionelle Marxismus begreift gesellschaftliche Herrschaft wesentlich
als Klassenherrschaft. Die Aufhebung des Werts erscheint als die Abschaffung
einer vermittelten, unbewussten Form von Verteilung, an deren Stelle eine
bewusst und rational regulierte Vergesellschaftung treten soll. Und die
Aufhebung des Mehrwerts wird als Abschaffung des Privateigentums und der
Ausbeutung - nämlich der Aneignung des allein von der Arbeit produzierten
gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine unproduktive Klasse - konzipiert:
die produktive Arbeiterklasse soll sich also die Ergebnisse ihrer kollektiven
Arbeit wieder aneignen. (4) Im Sozialismus würde die Arbeit demnach
offen zum regulierenden Prinzip des gesellschaftlichen Lebens aufsteigen,
womit die Grundlage für die Verwirklichung einer rationalen und gerechten,
auf allgemeinen Prinzipien gegründeten Gesellschaft geschaffen wäre.
Eine derartige Kritik ist ihrem Wesen nach mit der früh-bürgerlichen
Kritik der Landaristokratie und der vorangegangenen Gesellschaftsformen
identisch. Es handelt sich um eine normative Kritik an unproduktiven gesellschaftlichen
Gruppierungen vom Standpunkt derjenigen Gruppen aus, die »wahrhaft«
produktiv seien: sie macht »Produktivität« zum Kriterium
gesellschaftlicher Norm. Weil sie voraussetzt, die Gesellschaft als Ganzes
sei durch die Arbeit konstituiert, identifiziert sie darüber hinaus
die Arbeit (und damit die arbeitenden Klassen) mit den allgemeinen Interessen
der Gesellschaft und betrachtet die Interessen der Kapitalistenklasse
als partikulare, die diesen allgemeinen Interessen entgegengesetzt seien.
Der theoretische Angriff auf eine als Klassengesellschaft charakterisierte
Ordnung, in der unproduktive Gruppen eine bedeutende oder beherrschende
Rolle spielen, steht für eine Kritik des Besonderen im Namen des
Allgemeinen. Letztlich dient die Arbeit, weil sie in dieser Sicht die
Beziehung zwischen Menschheit und Natur konstituiert, als Bezugspunkt,
von dem aus die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen
beurteilt werden können: Verhältnisse, die mit der Arbeit in
Harmonie stehen und ihre grundlegende Bedeutung reflektieren, gelten als
gesellschaftlich »natürlich«. Deshalb nimmt Gesellschaftskritik,
indem sie den Standpunkt der »Arbeit« bezieht, einen quasi-natürlichen
Blickwinkel ein: den einer sozialen Ontologie. Im Namen der »wahren«
Natur der Gesellschaft wird das Künstliche kritisiert. Damit liefert
die Kategorie »Arbeit« dem traditionellen Marxismus einen
im Namen von Gerechtigkeit, Vernunft, Universalität und Natur argumentierenden
normativen Standpunkt.
Der Standpunkt der »Arbeit« impliziert auch eine historische
Kritik. Diese Kritik verdammt nicht einfach nur die existierenden Verhältnisse,
sondern versucht zu zeigen, dass sie zunehmend anachronistisch werden
und dass mit der Entwicklung des Kapitalismus auch die Verwirklichung
der guten Gesellschaft möglich wird. Das historische Entwicklungsniveau
der Produktion dient als Maßstab, um die relative Angemessenheit
der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu beurteilen, die
als bestimmte Form der Distributionsweise interpretiert werden. Die industrielle
Produktion gerät nicht zum Gegenstand der historischen Kritik, sondern
wird als »fortschrittliche« gesellschaftliche Dimension aufgefasst,
die - im Kapitalismus zunehmend von Privateigentum und Markt »gefesselt«
- der sozialistischen Gesellschaft als Grundlage dienen wird. (5) Der
Widerspruch des Kapitalismus erscheint als einer zwischen »Arbeit«
und Distributionsweise, der sich in den Kategorien Wert und Mehrwert ausdrückt.
In diesem Interpretationsraster führt die kapitalistische Entwicklung
zu einem wachsenden Anachronismus von Markt und Privateigentum - diese
entsprechen immer weniger den Bedingungen der industriellen Produktion
- und ermöglicht so ihre eigene Abschaffung. Sozialismus besteht
demnach in der Etablierung einer der industriellen Produktion angemessenen
Distributionsweise - öffentliche Planung in Abwesenheit von Privateigentum.
Emanzipation
gründet demnach auf »Arbeit« - sie wird in einer Gesellschaftsformation
verwirklicht, in der die »Arbeit« ihren unmittelbar gesellschaftlichen
Charakter realisiert und offen als das wesentliche gesellschaftliche Element
zu Tage tritt. Diese Vorstellung von Emanzipation ist natürlich untrennbar
mit einem Verständnis von der sozialistischen Revolution als dem
»Zu-Sich-Selber-Kommen« des Proletariats verbunden: das produktive
Element der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, verwirklicht sich im Sozialismus
als die universelle Klasse.
Die Kritik einer Dimension der existierenden Gesellschaftsformation vom
Standpunkt einer anderen ihrer Dimensionen - das heißt die Kritik
der Distributionsweise vom Standpunkt der industriellen Produktion aus
- hat schwere Mängel und weitreichende Konsequenzen.
Statt über die kapitalistische Gesellschaftsformation hinauszuweisen,
hypostasiert und projiziert die traditionelle Positivkritik vom Standpunkt
der »Arbeit« die geschichtlich für den Kapitalismus spezifischen
Formen von Reichtum und Arbeit auf die gesamte Geschichte und auf alle
Gesellschaften. Eine derartige Projektion verdeckt das Besondere einer
Gesellschaft, in der die Arbeit eine einzigartig konstituierende Rolle
spielt, und verschleiert zugleich den Charakter einer möglichen Überwindung
dieser Gesellschaft.
Die kritische Analyse der Formbestimmungen der modernen Gesellschaft öffnet
einen gänzlich anderen Zugang zur normativen Dimension von Kritik
als eine Kritik an Klassenausbeutung und -herrschaft. Dass eine auf »Arbeit«
gegründete Kritik Spezifika des Kapitalismus für überhistorisch
erklärt, macht es auf einer anderen Ebene zugleich notwendig, auch
Begriffe wie Vernunft, Universalität und Gerechtigkeit neu zu durchdenken.
Innerhalb der positiven Kapitalismuskritik gelten diese Ideen (die historisch
die Ideale der bürgerlichen Revolution ausdrückten) als nicht-kapitalistische
Momente der modernen Gesellschaft: Die Partikularinteressen der herrschenden
Kapitalistenklasse haben in der kapitalistischen Gesellschaft ihre Verwirklichung
verhindert, aber sie würden im Sozialismus vermutlich Wirklichkeit
werden. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich demgegenüber näher
ausführen, dass Ideale wie Vernunft, Universalität und Gerechtigkeit,
wie sie sowohl von der traditionellen marxistischen als auch der früheren
bürgerlichen Gesellschaftskritik verstanden werden, keineswegs ein
nicht-kapitalistisches Moment der modernen Gesellschaft repräsentieren.
Sie sind vielmehr im Kontext der spezifischen, über die »Arbeit«
hergestellten, gesellschaftlichen Konstitution des Kapitalismus zu verstehen.
Tatsächlich ist der für die traditionelle Kritik charakteristische
Gegensatz zwischen abstrakter Universalität und konkreter Partikularität
keiner zwischen Idealen, die über den Kapitalismus und dessen gesellschaftliche
Realität hinausweisen, vielmehr handelt es sich bei ihm um einen
Grundzug dieser Gesellschaft.
Derartige mit der für den Kapitalismus charakteristischen gesellschaftlichen
Konstitution zusammenhängende normative Begriffe sind keineswegs
als bloße Täuschungen, die die Interessen der Kapitalistenklasse
verschleiern, zu verstehen. Genauso wenig wird hier behauptet, der Kluft
zwischen den Idealen und der kapitalistischen Realität komme überhaupt
keinerlei Bedeutung für die Emanzipation zu; aber diese Kluft und
die mit ihr verbundene Form der Emanzipation bleibt innerhalb der Grenzen
des Kapitalismus.
Zur Debatte steht also das Niveau, auf dem die Kritik sich auf den Kapitalismus
einlässt - ob der Kapitalismus als eine Form von Vergesellschaftung
oder bloß als eine Form von Klassenherrschaft verstanden wird und
ob gesellschaftliche Werte und Begriffe in den Kategorien einer Theorie
gesellschaftlicher Konstitution statt in funktionalistischen (oder idealistischen)
Kategorien behandelt werden. Sowohl die Vorstellung, dass diese normativen
Begriffe ein nicht-kapitalistisches Moment der modernen Gesellschaft repräsentierten,
als auch die Idee, sie seien bloße Täuschungen, entspringt
nämlich einem gemeinsamen auf Klassenausbeutung und -herrschaft innerhalb
der modernen Gesellschaft fixierten Kapitalismusverständnis. Die
Theorie gesellschaftlicher Konstitution bildet die Grundlage der negativen
Kritik, die ich skizzieren werde. Sie versucht, die Bedingung der Möglichkeit
theoretischer und praktischer Kritik nicht im Bruch zwischen Ideal und
Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu verorten,
sondern im widersprüchlichen Charakter der sie konstituierenden Form
gesellschaftlicher Vermittlung.
Der normative Aspekt der traditionellen Kritik ist innerlich mit ihrer
historischen Dimension verbunden. Die Vorstellung, die Ideale der modernen
Gesellschaft repräsentierten ein nicht-kapitalistisches Moment dieser
Gesellschaft, entspricht der Idee, es gebe einen strukturellen Widerspruch
zwischen der auf dem Proletariat basierenden industriellen Produktionsweise
- als einem nicht-kapitalistischen Moment der modernen Gesellschaft -
und dem Markt sowie dem Privateigentum. Indem die »Arbeit«
zum Ausgangspunkt genommen wird, verflüchtigt sich mit der historischen
Spezifik von Arbeit im Kapitalismus auch die des kapitalistischen Reichtums.
Es wird somit unterstellt, die gleiche Form des Reichtums, die sich im
Kapitalismus eine Klasse von Privatbesitzern anverwandelt, würde
im Sozialismus kollektiv angeeignet und bewusst reguliert werden.
Die Idee, der Modus der Reichtumsproduktion sei ihrem Wesen nach vom Kapitalismus
unabhängig, schließt des Weiteren ein eindimensionales, lineares
Verständnis von technischem Fortschritt ein - »Fortschritt
der Arbeit« -, der seinerseits oft mit gesellschaftlichem Fortschritt
gleichgesetzt wird. Dieses Verständnis unterscheidet sich erheblich
von der Marxschen Position, die vom Kapital bestimmte industrielle Produktionsweise
habe die Produktivkraft der Menschheit zwar beträchtlich gesteigert,
jedoch in entfremdeter Form, weshalb sie auch die arbeitenden Individuen
beherrscht und die Natur zerstört.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen von Kritik wird auch an
der Art und Weise deutlich, wie sie die für den Kapitalismus charakteristische,
grundlegende Form gesellschaftlicher Herrschaft bestimmen. Die Gesellschaftskritik
vom Standpunkt der »Arbeit« versteht diese Form der Herrschaft
wesentlich als Klassenherrschaft, die in der privaten Verfügungsgewalt
über die Produktionsmittel verwurzelt sei. Die Kritik der kapitalistischen
Arbeit dagegen charakterisiert die grundlegende Herrschaftsform dieser
Gesellschaft als einer abstrakten, unpersönlichen, strukturellen
Form, die der historischen Dynamik des Kapitalismus zu Grunde liegt. Sie
sieht diese abstrakte Herrschaftsform in den historisch spezifischen gesellschaftlichen
Formen des Werts und der Wert produzierenden Arbeit begründet.
Diese Lesart der Marxschen Kapitalismustheorie bereitet den Boden für
eine weit reichende Kritik abstrakter Herrschaft - der Beherrschung der
Menschen durch ihre Arbeit. Sie liefert zugleich - und das hängt
damit eng zusammen - den Ausgangspunkt für eine Konstitutionstheorie
einer gesellschaftlichen Beziehungsform, der eine enorme Entwicklungsdynamik
innewohnt. Im traditionellen Marxismus jedoch wird die Kritik verflacht
und auf eine Kritik des Marktes und des Privateigentums reduziert sowie
die den Kapitalismus charakterisierende Produktionsweise und Form der
Arbeit in den Sozialismus projiziert.
Wie bereits bemerkt, treffen sich der traditionelle Marxismus und die
frühe bürgerliche Kritik in ihrem Verständnis des geschichtlichen
Fortschritts. Er wird paradoxerweise als eine Bewegung hin zum »natürlich«
Menschlichen gefasst. Das ontologisch Menschliche (zum Beispiel: Vernunft,
»Arbeit«) soll zu sich selbst kommen, indem es sich gegen
die existierende Künstlichkeit durchsetzt. Somit trifft die Kritik,
die Marx gegen einige Aspekte der Aufklärung im Allgemeinen und die
klassische politische Ökonomie im Besonderen vorgebracht hat, auch
die auf dem Prinzip der »Arbeit« gegründete Gesellschaftskritik:
»Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für
sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche.
Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen,
die der Bourgeoisie natürliche (...). Somit hat es eine Geschichte
gegeben, aber es gibt keine mehr.« (6) Selbstverständlich ist
das, was als natürliche Institution angesehen wird, für »die
Ökonomen« nicht das gleiche wie für die traditionelle
marxistische Theorie. Die Denkform aber bleibt dieselbe.
Die Gesellschaftskritik vom Standpunkt der »Arbeit« bleibt
also insgesamt an die klassische politische Ökonomie gebunden, auch
wenn sie sich von ihr in einigen Punkten unterscheidet. Wie diese findet
sie in der Distributionssphäre den Fokus ihrer kritischen Überlegungen.
Während die Marxsche Kritik in der Form der Arbeit (und somit in
der Produktion) ihren Gegenstand findet, bleibt »Arbeit« für
den traditionellen Marxismus unhinterfragt die transhistorische Quelle
des Reichtums und die Grundlage der gesellschaftlichen Konstitution. Statt
zu einer Kritik der politischen Ökonomie kommt er zu einer kritischen
politischen Ökonomie. Was ihren Arbeitsbegriff anbelangt, verdient
diese Kritik den Titel »ricardianischer Marxismus«. (7) Der
traditionelle Marxismus ersetzt die Marxsche Kritik der Produktions- und
Distributionsweise durch eine Kritik lediglich der letzteren, und die
Marxsche Theorie der Selbstabschaffung des Proletariats durch eine Theorie
der Selbstverwirklichung des Proletariats. Der Unterschied zwischen den
beiden Formen der Kritik ist weit reichend: Was der Marxschen Analyse
als das zentrale Objekt der Kapitalismuskritik gilt, wird dem traditionellen
Marxismus zur gesellschaftlichen Grundlage von Freiheit.
Diese Verkehrung kann nicht mit einem Verweis auf die Exegese adäquat
erklärt werden - etwa mit dem Vorwurf, die Marxschen Schriften seien
in der marxistischen Tradition nicht korrekt interpretiert worden. Sie
verlangt eine gesellschaftliche und geschichtliche Erklärung. Die
hätte sich auf zwei Ebenen zu bewegen: Als erstes sollte sie versuchen,
die Möglichkeit der traditionellen Kapitalismuskritik theoretisch
zu begründen. Beispielsweise könnte sie dies tun, indem sie,
der Marxschen Vorgehensweise folgend, nach der Art und Weise fragt, in
der sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus manifestieren.
In dieser Arbeit werde ich einen Schritt in diese Richtung unternehmen.
Ich werde zeigen, dass der historisch spezifische Charakter der Arbeit
im Kapitalismus für Marx darin besteht, als transhistorische »Arbeit«
zu erscheinen.
Ein weiterer Schritt - dem ich mich in dieser Arbeit nur annähern
werde - hätte deutlich zu machen, wie die Distributionsverhältnisse
zum exklusiven Fokus einer Gesellschaftskritik werden konnten. Man müsste
die Implikationen entfalten, die im Verhältnis von erstem und drittem
Band des Kapitals stecken. Die Marxsche Analyse der Kategorien Wert und
Kapital im ersten Band bezieht sich auf die dem Kapitalismus zu Grunde
liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, auf seine fundamentalen Produktionsverhältnisse.
Seine Analyse der Kategorien Produktionspreis und Profit im dritten Band
zielt auf die Distributionsverhältnisse. Die Produktions- und Distributionsverhältnisse
hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch. Marx weist
darauf hin, dass die Distributionsverhältnisse sich als Kategorien
der unmittelbaren Alltagserfahrung darstellen, dass sie manifeste Formen
der Produktionsverhältnisse sind, die diese Verhältnisse sowohl
ausdrücken als auch verschleiern; und zwar auf eine Weise verschleiern,
die dazu führen kann, dass erstere für letzteren gehalten werden.
Wenn der Marxsche Begriff der Produktionsverhältnisse, wie im traditionellen
Marxismus, nur in Bezug auf die Distributionsweise interpretiert wird,
werden die manifesten Formen für das Ganze gehalten. Diese Art systematischer
Fehldeutung, die in den bestimmten Erscheinungsformen der kapitalistischen
Vergesellschaftung angelegt ist, hat Marx in seinen Ausführungen
zum »Fetisch« auf den Begriff zu bringen versucht.
Wenn so die Möglichkeit einer derartigen »kritischen politischen
Ökonomie« aus den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen
Verhältnisse selbst erklärt worden ist (anstatt sie verwirrtem
Denken zuzuschreiben), könnte man zweitens versuchen, die historischen
Bedingungen für das Entstehen solcher Denkformen auszuleuchten. Dazu
gehört zu analysieren, wie die Arbeiterbewegungen im späten
19. und frühen 20. Jahrhundert in ihrem Kampf um Selbstkonstitution,
um gesellschaftliche Anerkennung und um die Durchsetzung sozialer und
politischer Veränderungen, Gesellschaftstheorie angeeignet und formuliert
haben. Die oben skizzierte traditionelle Position zielt offensichtlich
darauf, die Würde der Arbeit geltend zu machen und zur Verwirklichung
einer Gesellschaft beizutragen, in der die wesenhafte Bedeutung der Arbeit
materiell und moralisch anerkannt wird. Das ist insofern verständlich,
als im Prozess der Formierung und Konsolidierung der Arbeiterklasse und
ihrer Organisationen die Frage ihrer Selbstabschaffung und der Abschaffung
der Arbeit kaum ein zentrales Thema sein konnte. Die auf der Affirmation
der »Arbeit« als der Quelle des gesellschaftlichen Reichtums
basierende Vorstellung von der Selbstverwirklichung des Proletariats entsprach
der Unmittelbarkeit dieses historischen Kontextes genauso wie die damit
zusammenhängende Kritik des freien Marktes und des Privateigentums.
Doch diese Vorstellung wurde als eine Bestimmung des Sozialismus in die
Zukunft projiziert, obwohl sie viel eher ein entwickeltes Kapitalverhältnis
als seine Abschaffung impliziert.
Für Marx ist die Abschaffung des Kapitals die notwendige Vorbedingung
für die Würde der Arbeit, weil nur dann eine andere Struktur
gesellschaftlicher Arbeit, ein anderes Verhältnis von Arbeit und
Erholung und andere Formen individueller Arbeit gesellschaftlich allgemein
werden können. Die traditionelle Position dagegen spricht einer fragmentierten
und entfremdeten Arbeit Würde zu. Es mag so gewesen sein, dass dies
für das Selbstwertgefühl der Arbeiter wichtig war und bei der
Demokratisierung und Humanisierung kapitalistischer Industriegesellschaften
eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ironischerweise betreibt diese
Position implizit aber die Verewigung solcherart Arbeit, indem sie die
ihr innewohnende Form des Wachstums als für die menschliche Existenz
notwendig hinstellt. Während Marx die historische Überwindung
des »bloßen Arbeiters« als eine Vorbedingung für
die Verwirklichung des vollständigen Menschen erachtete, läuft
die traditionelle Position darauf hinaus, den vollständigen Menschen
als diesen »bloßen Arbeiter« verwirklichen zu wollen.
Die in diesem Buch vorgelegte Interpretation versteht sich selbst als
geschichtlich. Die Kapitalismuskritik, die auf einer Analyse der Besonderheit
der Formen von Arbeit und Reichtum in dieser Gesellschaft basiert, sollte
ihrerseits im Kontext der geschichtlichen Entwicklungen gesehen werden,
in denen sich die Unzulänglichkeiten der traditionellen Interpretationen
manifestiert haben. Meine Kritik des traditionellen Marxismus ist nicht
einfach retrospektiv: um ihre eigene Geltung unter Beweis zu stellen,
versucht sie, die Unzulänglichkeiten und Fallen des traditionellen
Marxismus zu vermeiden und die traditionelle Interpretation der Kategorien
in deren eigene kategoriale Interpretation einzubetten. Damit würde
sie beginnen, ihre eigene gesellschaftliche Möglichkeit zu begründen.
Anmerkungen:
Der Textauszug entspricht, bis auf Kürzungen, den Seiten 62-71 des
amerikanischen Originals von »Time, labor, and social domination«.
Übersetzung und Textbearbeitung durch Norbert Trenkle und Ernst Lohoff
auf Grundlage der vorläufigen Übersetzung des ç a-ira-Verlages.
Die Fußnoten sind mit Ausnahme der Literaturverweise nicht wiedergegeben.
(1) Vgl. dazu Marx' Analyse der relativen Wertform und der Äquivalentform
in Das Kapital, Band 1 (MEW 23), S. 64 - 78.
(2) MEW 23, S. 87
(3) MEW 23, S. 95
(4) Vgl. in diesem Sinne etwa Maurice Dobb: Political Economy and Capitalism,
London 1940, S. 76 - 78
(5) Vgl. etwa Karl Kautsky: Karl Marx' oekonomische Lehren, Stuttgart
1906, S. 262 - 263
(6) MEW 23, S. 96 FN 33
(7) Für eine ausführliche Kritik dessen, was er »Links-Ricardianismus«
nennt, vgl. Hans Georg Backhaus: Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen
Werttheorie, in ders.: Dialektik der Wertform, Freiburg 1997 [zuerst 1974,
1975 und 1978].
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