NICHT
SPRACHLOS IN SEATTLE
Die
Millennium-Runde der WTO gerät von Links und Rechts unter Beschuss.
Wie können sich linke WTO-Gegner nach Rechts abgrenzen? von alain
kessi
Als
die Welthandelsorganisation WTO im Mai letzten Jahres in Genf ihre zweite
Ministerialkonferenz veranstaltete, fanden sich in Genf achttausend, weltweit
bei verschiedenen Aktionen Zehntausende Demonstrierende ein, um gegen
die Machtverhältnisse zu protestieren, die von der WTO mit zementiert
werden.
Einigen der StrategInnen der Deregulierung scheint die Aussicht auf öffentliche
Proteste in die Glieder gefahren zu sein. Als sich am 23. September desselben
Jahres UN-VertreterInnen und Topmanager von Konzernen zum Geneva Business
Dialog trafen, fühlte sich Helmut Maucher, Nestlé-Verwaltungsratspräsident
und Präsident der Internationalen Handelskammer ICC-WBO (International
Chamber of Commerce/World Business Organization), veranlasst, die Proteste
- deren UrheberInnen "gut daran täten, sich zu legitimieren"
- zu verurteilen und Staatsregierungen aufzurufen, ihre polizeilichen
Aufgaben wahrzunehmen.
Nun soll es in Seattle, wo vom 30. November bis zum 3. Dezember die dritte
Ministerialkonferenz stattfinden wird, noch schöner kommen. Bereits
im Vorfeld kämpft die WTO mit Legitimationsproblemen. "Du brauchst
nur die Zeitung aufzuschlagen, um zu wissen, daß die Anti-WTO-Kräfte
bisher erfolgreicher waren als wir", klagte jüngst Scot Montrey,
Sprecher der U.S. Alliance for Trade Expansion, einer US-Koordination
von Großkonzernen. Michael Dolan, der als Vizedirektor der von Ralph
Nader gegründeten Public Citizen's Global Trade Watch die Proteste
gegen das WTO-Treffen mitorganisiert, freut sich: "Ich war begeistert,
als sie Seattle ausgewählt haben. Es ist fast so, als ob sie uns
Heimvorteil gewährten."
Von linksradikalen und progressiven Basisgruppen (Grassroots), NGOs und
Gewerkschaften sind eine Reihe von Aktivitäten um die Ministerialkonferenz
geplant: Straßentheater, Aktionen zivilen Ungehorsams bis hin zu
Großdemos. Von diesem Kreis auf Distanz gehalten, aber im Vorfeld
der Proteste dennoch sehr präsent, sind auch rechtsextreme Republikaner
sowie essenzialistisch argumentierende konservative Umweltorganisationen
wie der Sierra Club. Verlangen die Republikaner - wie die radikale Linke
- von der US-Regierung den Ausstieg aus der WTO, fordert der Sierra Club
- wie die etablierten Links-NGOs - eine Einbindung der "Zivilgesellschaft",
also ihrer selbst, in die Entscheidungsprozesse in der WTO.
Das Verwischen des Unterschieds von linken und rechten Ansätzen ist
gerade in Seattle gut sichtbar. Der Stadtrat hat das Stadtgebiet als MAI-freie
Zone (MAI - Multilaterales Abkommen über Investitionen) ausgerufen.
Angeregt wurde die symbolische Anti-Globalisierungsmaßnahme von
Brian Derdowski, republikanischer Abgeordneter im Rat von King County,
wo ebenfalls eine solche Zone eingerichtet wurde.
Auf US-Bundesebene sieht John Talbott, Sprecher der Reformpartei, im Anti-Globalisierungsdiskurs
Ralph Naders von Links sowie Pat Buchanans von Rechts nur unwesentliche
Unterschiede und fordert die Bildung einer neuen Partei: Diese dürfe
weder links noch rechts sein und müsse die malochenden US-ArbeiterInnen
repräsentieren. Dabei unterschlägt er die rassistische, sexistische
und homophobe Haltung Buchanans. Dessen rechter "produzentistischer"
Populismus zielt auf eine arbeitsame, "produktive" Mittel- und
ArbeiterInnenschicht, die von "faulen sozialen Parasiten" von
oben und von unten ausgequetscht wird.
Was läuft schief, wenn eine der größten linken Mobilisierungen
der letzten Jahre - jene gegen Freihandel, gegen Globalisierung, gegen
transnationale Konzerne und speziell gegen das MAI - für rechtskonservative
Gruppen so attraktiv ist?
Im Juni 1999 entschied sich die niederländische antirassistische
Gruppe De Fabel van de illegaal, die wesentlich zum Aufbau einer starken
Bewegung gegen das MAI beigetragen hatte, die Kampagnen gegen den Freihandel
zu verlassen. "Nach genauerem Hinsehen kamen wir zum Schluss, dass
die Wahl des Freihandels als Hauptstoßrichtung aus einer radikal
linken Sicht nicht einleuchtet, sondern aus einer Analyse der Neuen Rechten
abgeleitet ist", erklärte die Gruppe im September 1999 in einem
Offenen Brief. Bereits ein Jahr zuvor, im Oktober 1998, hatte sie ein
erstes Diskussionspapier publiziert: "Mit der 'Neuen Rechten' gegen
die Globalisierung?" Es folgten weitere Artikel, in denen die Auseinandersetzung
mit Schwächen des Diskurses über "Globalisierung"
und "Freihandel" sowie mit Personen, die als Bindeglieder zwischen
linken und rechten AktivistInnen und Gruppen fungieren, gesucht wurde.
In seiner Analyse der Krise des Antirassismus beschreibt der französische
Rassismus-Forscher Pierre-André Taguieff die Aneignung linker Diskurse
durch NeorassistInnen als "Retorsion", als Verwendung eines
Arguments gegen dessen Urheber. Die Frage ist, wann ein linker Diskurs
offen ist für Retorsion. Oder umgekehrt: Wie ein Diskurs strukturiert
sein müsste, damit er nicht neurechter Propaganda dient. Fünf
Eigenheiten scheinen die Diskurse über Freihandel und Globalisierung
für Retorsion zu öffnen: eine verkürzte Kapitalismuskritik,
verbunden mit einer unkritischen Haltung gegenüber dem nationalen
(Sozial-) Staat, Emotionalisierung, ein Verschwörungsansatz und die
Rede von der "Natur"-zerstörenden Moderne.
Die Kritik an der Globalisierung passt deshalb so gut in die rechte Rhetorik,
weil darin ein internationales, nicht ortsgebundenes Kapital für
wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten verantwortlich gemacht wird.
Die verkürzte Analyse übersieht die Rolle des lokalen Kapitals
im Akkumulations- und Ausbeutungsprozess und erlaubt so die Forderung,
dieses gegenüber dem internationalen Finanzkapital, das künstlich
vom "produktiven Kapital" getrennt wird, zu verteidigen.
Besonders anfällig für die nationalchauvinistische Retorsion
sind jene, die wie die Bielefelder Sozialwissenschaftlerin Maria Mies
oder die trotzkistischen und anderen altlinken TheoretikerInnen in Le
Monde Diplomatique den Sozialstaat verteidigen. Da sie ihr geliebtes Objekt
als geschichtslos und losgelöst vom Kolonialismus und den Bedingungen
der keynesianischen Ära beschreiben, fällt ihnen nicht auf,
dass der Nationalstaat mit der Deregulierung keineswegs verkümmert.
Auch wollen sie nicht wissen, dass es nationalstaatliche Regierungen sind,
die die Deregulierung vorantreiben - und sich dabei für ihren Staat
Vorteile erhoffen.
Der imperialistische Nationalstaat dient den Konzernen als Türöffner,
indem seine Regierung auf diplomatischem und militärischem Weg auf
abhängige Regierungen Druck ausübt. VertreterInnen der großen
US-Konzerne und der US-Diplomatie beispielsweise arbeiten beim Zugriff
auf neue Investitionszonen eng zusammen. Bei diesen Verflechtungen kommen
die Bemühungen einiger US-Konzerne auch anderen US-Konzernen zu Gute.
Um dieser Verflechtung zwischen Konzernen und "ihrer" Regierung
gerecht zu werden, haben kritische BeobachterInnen in den letzten Jahren
den ortlosen Begriff des multinationalen Konzerns (Multi) durch den des
transnationalen Konzerns ersetzt, der in einem Land verankert ist, aber
von dort aus "über die Landesgrenzen hinaus" (transnational)
tätig ist.
Zudem klinkt sich der Globalisierungsdiskurs leicht in Verschwörungstheorien
ein, wie sie bereits in der Phrase der Politikverdrossenheit auf nationalstaatlicher
Ebene aufscheint - "die in Bern/Berlin/Wien tun ja doch nur, was
sie wollen". Über die nationale Ebene hinaus, wo die Distanz
zu den relevanten Gremien größer ist, kommen sie noch besser
zur Geltung.
Nicht mehr Prozesse der Produktion und Kapitalakkumulation stehen im Zentrum
der Aufmerksamkeit, sondern Clubs einflussreicher Männer (und einiger
Frauen), die hinter verschlossener Tür die Zukunft der Welt aushandeln.
Die Empörung über die anfangs geheimen Verhandlungen in der
OECD war ein tragendes Moment der Mobilisierung gegen das MAI. Da die
Akteure der Globalisierung in dieser Lesart so mächtig und ihre Geschäfte
so geheimnisvoll sind, ist es auch kaum möglich, gegen sie Widerstand
zu leisten. Die Arbeit der VerschwörungstheoretikerInnen beschränkt
sich dann regelmäßig auf missionarische "Aufklärung".
Die Retorsion kann, wenn man diese Kriterien berücksichtigt, erheblich
erschwert werden. In der Vorbereitungsarbeit für die Innenstadt-Aktionswoche
im Juni 1997 holten sich viele AktivistInnen das Rüstzeug zu Analysen
des Weltmarktes, des Standortwettbewerbs und den Mythen der Globalisierung,
die nicht so schnell von Retorsion heimgesucht werden dürften. Der
Blick auf lokale Auswirkungen globaler Prozesse, die materielle Verankerung
der Analyse, vor allem aber die Verbindung mit einer kritischen Einschätzung
des "öffentlichen Raums" samt seiner rassistischen Regulierung,
lassen sich nicht so schnell in einen rechten Diskurs einbinden.
Während der Vorbereitung zu den Protesten in Seattle kamen Links-Rechts-Überschneidungen
wiederholt zur Sprache. Eines der beteiligten Grassroots-Netzwerke, die
PGA (Weltweite Aktion gegen "Frei"handel und die WTO), beschloss
im August, den Kampf nicht weiter gegen Freihandel, sondern gegen den
Kapitalismus zu richten.
In den Vorbereitungen für Seattle wurde aber auch klar, dass für
eine massive Mobilisierung eine breite Zusammenarbeit möglich und
wünschenswert ist. Es scheint den radikaleren Gruppen und AktivistInnen
im Vorfeld der Aktionen zumindest ansatzweise gelungen zu sein, einem
größeren Umfeld ihre Kritik an retorsionsanfälligen Haltungen
darzulegen.
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