S26: Die Monate Danach
vom 10.11.2000
Zusammenfassung ueber die Ereignisse nach den Septemberprotesten gegen
den IWF/WB-Gipfel in Prag.
Die Verletzten
Ab Dienstag (S26) haben Aerzte 123 Polizeibeamte behandelt (der beruehmteste
unter ihnen war in jeder Zeitung und ist jetzt ein grosser Held bei der
tschechischen Polizei; er hatte eine gebrochene Nase), 142 AktivistInnen
und 200 Finanzleute. Unsere freiwilligen INPEG- SanitaeterInnen leisteten
350-400 Personen auf den Strassen erste Hilfe. Die meisten vorkommenden
Verletzungen waren Nasenbrueche, voruebergehender Verlust des Gehoers,
Verletzungen an Gesicht, Kopf, Hals, Brust, Armen und Beinen sowie Komplikationen
nach Traenengaseinwirkung oder Schock. 30 Personen waren schwer verletzt
und kamen ins Krankenhaus. Am Abend des S26 kam die Polizei in das Convergence
Centre und nahm die Personen fest, die sichtbare Verletzungen hatten.
Im Vergleich zur Verletzung des oben erwaehnten "armen" Polizisten habe
ich Informationen, dass ein Tschche von einem Polizeiauto angegriffen
wurde, wobei sein Knie so schwer verletzt wurde, dass er es wahrscheinlich
nie mehr wieder gebrauchen koennen wird.
Die Verhafteten
Waehrend der Proteste wurden 859 Personen festgenommen; 350 von ihnen
waren internationale Gefangene, die anderen TschechInnen. 130 Personen
wurden in das Polizeilager Balkova fuer Auslaender gebracht, einen der
haertesten Knaeste. Nach drei Wochen haft wurden ein Deutscher und eine
Ungarin aus dem Gefaengnis entlassen; sie werden nicht angeklagt, weil
die Polizei ermittelte, dass sie an keiner illegalen Aktion teilgenommen
haben.
Presseberichten zufolge (29.9.2000) wird gegen 20 Personen Anklage erhoben
wegen der Teilnahme an Ausschreitungen, Sachbeschaedigung oder Angriff
auf Polizeibeamte; 18 dieser Personen sind international (7 aus Ungarn,
3 aus Daenemark, 3 aus Polen, 2 aus Spanien und je 1 aus Deutschland,
den USA, Oesterreich) und 2 aus Tschechien. Zur Zeit wird nach den Informationen
der Legal Observers noch gegen 17 Personen Anklage erhoben, alle stammen
nicht aus Tschechien. Ein Daene und ein Pole sind immer noch in der tschechischen
Republik in Haft. Die meisten der unter Anklage stehenden Personen sind
in ihre Heimatlaender zurueckgekehrt. Das Problem fuer sie ist, dass sie
sich neue tschechische AnwaeltInnen suchen muessen und nur schlecht mit
ihnen Kontakt halten und ihnen Informationen geben koennen. Gegen einen
Polen hat bereits eine Verhandlung stattgefunden und er wurde wegen eines
Steinwurfs (!) zu einem Jahr Gefaengnis verurteilt, aber er hat einen
guten Anwalt und es sieht nicht so schlecht aus. Ein 16jaehriger Oesterreicher
zahlte fuer die Sachbeschaedigung an Autos, die er veruebte, er war aber
auch im Gefaengnis. Der tschechische Praesident Havel gewaehrte im Amnestie,
er wurde aber in Oesterreich seiner Schule verwiesen.
Polizeibrutalitaet
Es gibt mehrere Hundert Beschwerden wegen Polizeibrutalitaet. Die Polizei
weist alle ab, weil sie sich angeblich zu aehnlich seien und die Polizei
geht daher davon aus, dass es sich um eine Kampagne seitens der AktivistInnen
handele. Der Premierminister Milos Zeman und der Innenminister Stanislav
Gross wollten zunaechst alle Personen unter Anklage stellen, die von Polizeibrutalitaet
und Agents Provocateurs sprachen, weil dies die tschechische Polizei in
Misskredit bringe. Nach einigen Wochen kamen sie mit einem neuen Argument
(das sie immer noch anbringen): dass es sich um eine gut organisierte
Medienkampagne durch eine internationale Organisation handele. Die tschechischen
Medien und die tschechische Oeffentlichkeit glauben nicht (weil sie es
nicht glauben wollen), dass es Agents Provocateurs der Polizei gibt, selbst
wenn die Legal Observers ein Video haben, dass einen Mann zeigt, der Scheiben
einschlaegt und danach unbehelligt durch eine Polizeikette gelassen wird.
Es gibt auch viele ZeugInnen (AktivistInnen und JournalistInnen), die
Aehnliches gesehen haben.
Etwas besser steht es um die Brutalitaet in Polizeiwachen. Die Legal Observers
haben Dutzende, vielleicht Hunderte Beschwerden und detaillierte Beschreibungen
erhalten, wie Leute geschlagen wurden, ihnen Schlaf, Nahrung und Wasser
entzogen wurden, ueber sexistische Angriffe und psychischen Terror. Die
tschechischen Medien haben einige Faelle von Inhaftierten veroeffentlicht:
- Der tschechische Journalist Jan Bouchal und ein belgischer Kollege waren
im Kongresszentrum, sie waren akkreditiert, wurden zuerst verbal und dann
physisch von Polizisten angegriffen, gefesselt und in die Polizeiwache
Branik in Prag verbracht, wo sie einen Tag in einer 8 Quadratmeter grossen
Zelle festgehalten wurden. Sie wurden erkennungsdienstlich behandelt,
was nach tschechischem Gesetz nicht legal ist, da sie nicht unter Anklage
gestellt wurden. Sie wurden spaeter ohne Angabe von Erklaerungen freigelassen.
- Der koreanische Wissenschaftler Byeongju Jeong wurde von der Polizei
am Abend der S26 festgenommen, als er von seinem Arbeitsplatz nach Hause
ging. Er wurde zwoelfmal auf Beine und Kopf geschlagen und in die Polizeiwache
Holesovice in Prag verbracht. Der ihm zustehende Telefonanruf und Dolmetscher
wurden ihm verweigert. Er hoerte Schreie und Weinen aus anderen Zellen.
Nach 12 Stunden wurde er nach Rudna bei Prag gebracht, nochmals geschlagen.
Dort sah er einen Griechen, dem die Brille zerschlagen worden war und
Glassplitter im Auge hatte. Ihm wurde auch dort Nahrung verweigert, er
durfte nicht die Toilette aufsuchen, und er wurde
nochmals in eine andere Wache in Prag-Zizkov verlegt, dort ebenfalls geschlagen.
Die Polizisten trugen keine Dienstnummern. Er wurde ohne Angabe von Gruenden
freigelassen.
- Der tschechische Passant Josef Kudlik wurde in die Polizeiwache Ocelarska
in Prag eingeliefert. Er sah, wie ein Polizist eine Person mit dem Kopf
gegen Stahl schlug, ueberall war Blut und ausgeschlagene Zaehne, er hoerte
Leute schreien und weinen. Er sah, dass Polizisten weiter auf Personen
einschlugen, die sich nicht mehr ruehrten, andere Polizisten sahen dabei
zu. Er verbrachte die Nacht in der Wache, erhielt weder Nahrung noch Wasser
und wurde ohne Angabe von Gruenden freigelassen.
- Der Israeli Yehoshua Tzarfati, Aktivist in der SanitaeterInnengruppe,
wurde auf die Polizeiwache Prag 4 gebracht und sass spaeter 2 Tage im
Lager Balkova. Er wurde mehr als 10 Minuten geschlagen und trug ein blaues
Auge und Rippenverletzungen davon.
- Der amerikanische Historiker Matt Price, ein Aktivist, wurde am Abend
der S26 festgenommen, als der Delegierten im Hotel Renaisance Parolen
entgegenrief. Er wurde gegen eine Wand geworfen, ins Gesicht geschlagen,
wodurch er ein blaues Auge davontrug. Spaeter wurde er in eine Wache gebracht,
durfte nicht telefonieren. Zwei Tage spaeter wurde er freigelassen, ohne
dass Anklage gegen ihn erhoben wurde.
- Die amerikanische Aktivistin und Kuenstlerin Sylvia Yolanda Mach. Sie
musste eine Geldstrafe von 500 tschechischen Kronen zahlen, weiss aber
nicht, wofuer. Bei der Festnahme wurde sie verletzt und ins Krankenhaus
gebracht. Dort erklaerte ihr eine Polizistin, sie werde wegen Angriffs
auf Polizeibeamte angeklagt. Nach Ankunft in der Wache wurde ihr der zustehende
Telefonanruf verweigert, es gab mehr psychischen Terror, so dass sie in
Panik aus dem Fenster sprang. Dabei wurde sie erheblich verletzt und wird
zur Zeit in einem oesterreichischen Krankenhaus behandelt; es gibt Probleme
mit einem Fuss.
Die Polizei steht unter der Aufsicht einer Kommission des Innenministeriums.
Ich kenne in den letzten 5 Jahren keinen Fall, in dem ein Polizeibeamter
vor Gericht gestellt wurde, schuldig gesprochen wurde oder irgendwelche
Massnahmen gegen Beamte ergriffen wurden.
Soli-Demos
Am Tag danach gab es viele Soli-Demos fuer die Inhaftierten, in Berlin,
Dresden, Stockholm, Paris, Madrid, Wien, London, Rom, Mailand, Barcelona,
Oslo, Bratislava etc.
Die Reaktion der Politiker und der Bevoelkerung nach S26
Der fruehere neoliberalistische Premierminister Vaclav Klaus forderte
zukuenftig radikale Polizeiaktionen gegen Personen, die Sachbeschaedigungen
begehen oder jemand angreifen. Praesident Vaclav Havel (der bekannteste
tschechische Dissident, der sogar fuer den Friedensnobelpreis nominiert
war!!!) sagte, dass sich die Polizei korrekt verhalten habe und er ihnen
danke. Der Verkehrsminister Jaromir Schling sagte, die Polizei solle mit
Gummigeschossen ausgeruestet werden. Miroslav Macek, der derselben Partei
angehoert wie Vaclav Klaus, sagte, die Polizei sollte mit scharfer Munition
auf DemonstrantInnen schiessen. Der Praesident der Christlichen Akademie,
Tomas Halik, sagte, er danke das erste Mal in seinem Leben der Polizei
dafuer, dass sie gute Arbeit geleistet habe. Der Innenminister Stanislav
Gross ist jetzt einer der populaersten, und populistischsten, Politiker
(aber das war er auch schon vorher); er will das Gesetz dahingehend aendern
lassen, dass der Einsatz von Gummischossen legal ist (unterhalb einer
Entfernung von 15 Metern koennen die Geschosse toedlich sein) und er will
Maskierungen bei Demonstrationen verbieten lassen.
Nach Umfragen des Gallup-Instituts vor den Protesten befuerworteten 29%
der tschechischen Bevoelkerung die Proteste, nach S26 waren es 17%. Die
Haelfte der Einwohner von Prag glaubt, dass die Polizei richtig vorgegangen
ist. Keiner meint, die Polizei sei zu brutal gewesen. Das Interessante
dabei ist, dass nach meinen Erfahrungen aus Gespraechen mit sehr vielen
Leuten (in der Schule, mit FreundInnen/Bekannten -keine AktivistInnen-,
bei oeffentlichen Diskussionen, in Kneipen etc.), die meisten nicht gegen
die DemonstrantInnen waren. Es gab Erstaunen, wenn ich ihnen Fotos von
den Demos zeigt, weil es da keine Gewalt gab, und die Leute fingen dann
an, selbst ueber S26 nachzudenken und nicht mehr die offizielle Version
zu glauben.
Die Polizei
Die Polizei erhielt 89 Million CZK (DM 4,81 Millionen) allein fuer die
Septemberaktionen. Innenminister Gross meint, die Polizei habe diese Summe
effektiv eingesetzt. Im allgemeinen kann ich sagen, dass die tschechischen
PolizeibeamtInnen in den Augen der tschechischen Oeffentlichkeit und der
Politiker Helden sind. Es gab in einer Lokalzeitung in Prag einen Artikel,
die Polizisten fuerchteten sich jetzt vor den psychischen Folgen wegen
der Brutalitaet der DemonstrantInnen und vor Rache. Viele BeamtInnen haben
schon eine finanzielle Belohnung erhalten oder werden es noch.
Noch was Lustiges - die Polizeifunkgeraete (den Informationen eines Polizisten
zufolge) wurden einige Monate vor dem September gekauft und funktionierten
schon vor S26 nicht besonders. Nach dem "Blutigen Dienstag" (so nennt
es der dogmatischste tschechische Publizist Ivan Brezina) gab die Polizei
oeffentlich bekannt, dass die Demonstranten eine Maschine gehabt haetten,
die die Funkgeraete stoerte und dass diese Maschine 1 Million US-Dollar
kosten wuerde. Wo haetten wir eigentlich diese Summe hernehmen sollen
- und wie haette so ein grosses Geraet ueber die Grenzen gebracht werden
koennen, die so dichtgemacht worden waren???
Die Medien
Seit Januar 2000 gab es Artikel zu den Protesten, und zwar nur ueber die
erwartete Gewalt. Dann wurde die Lage etwas besser und im Sommer hatten
wir einige gute Kontakte und es wurden bessere Artikel ueber uns und unsere
Protestgruende geschrieben. Aber das war noch nichts Tolles. Ich meine,
es ist unerheblich, um welche offizielle Zeitung/Zeitschrift, Radio- oder
Fernsehsender es geht, bis auf ein oder zwei Zeitschriften sind die alle
nicht gut. Es haengt vom Journalisten ab, weniger von der Zeitung. Nach
S26 ging eine ziemliche Hysterie los und die Medien haben die perfekt
umgesetzt und die oeffentliche Meinung manipuliert. In den Tagen nach
S26 gab es keinen guten Artikel, dann erschienen einige zur Polizeibrutalitaet,
aber ich kenne nur wenige, in denen erwaehnt wurde, dass nicht alle DemonstrantInnen
gewalttaetig waren. Ich will an dieser Stelle nicht mehr sagen, ich schreibe
noch an einer detaillierten Analyse der tschechischen Medien. Wenn Interesse
vorhanden ist, werde ich sie ins Englisch uebersetzen.
Die Zukunft von INPEG
Wir sind noch bei der Arbeit, zur Zeit stellen wir eine Broschuere in
englischer Sprache ueber unsere Arbeit in verschiedenen Arbeitsgruppen
fertig, was gut gelaufen ist, und was nicht gut gelaufen ist. Ich glaube,
INPEG wird weiterbestehen in der Form einer Kommunikationsplattform fuer
verschiedene anarchistische, autonome, radikal-oekoligische, Menschenrechtsgruppen
sowie weitere AktivistInnen und Gruppen. Wir hatten keine Probleme miteinander,
mit Ausnahme der Sozialisten, und ich denke, wir werden wegen ihrer autoritaeren
Tendenzen mit denen nicht mehr zusammenarbeiten. Wir werden versuchen,
in Prag ein Informationszentrum aufzubauen, in dem alle Gruppen, die bei
der INPEG dabei sind (und natuerlich auch andere Gruppen), ihre Informationen
verteilen, Diskussion organisieren koennen, etc. Ich meine, die TschechInnen
haben auch von den internationalen Leuten viel gelernt, wir haben tolle
Kontakte aufgebaut, wir haben viel Technik behalten (dass war eines der
groessten Probleme der tschechischen AktivistInnen), und ich meine, das
Treffen von IWF/WB war das Beste, was uns passieren konnte. Es war eine
tolle Erfahrung!
Contact: Alice Dvorska von INPEG (in englisch oder tschechisch!)
alice.dvorska@email.cz
Nachbereitung der
S26-Proteste in Prag und Ausblick
Es hat zwar einige
Zeit gedauert, aber mittlerweile sind einige Diskussionen nach Prag zu
ersten Ergebnissen gekommen.
Ein Text aus Berlin ist nun in englisch und Deutsch ins Internet gestellt
worden. Seht Selbst: http://pages.hotbot.com/edu/stop.wto/Pragauswertung.html
http://pages.hotbot.com/edu/stop.wto/Pragueevaluationa.html
Eine schon vor einigen
Tagen erschiene Rückbetrachtung einer der Pressesprecherinnen von INPEG
findet ihr unter: http://pages.hotbot.com/edu/stop.wto/The_Months_After.html
Weitere Diskussionen
in Österreich wären angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr auf
internationaler Ebene tut, wünschenswert.
Einer der nächsten Anlaufpunkte für globalen Widerstand ist im Jänner
in Davos gegen das Weltwirtschaftsforum: 27. Januar 2001 DEMO gegen das
World Economic Forum (WEF) in Davos Blockaden und Aktionstage: 25. - 30.
Januar 2001
siehe: http://www.reitschule.ch/reitschule/anti-wto
[home]
- 26. Sept 2000 - GLOBALER AKTIONSTAG GEGEN KAPITALISMUS - S26 - [home]
|