Knapp ein Jahr nachdem ein Container voller erstickter Flüchtlingim
britischen Dover entdeckt wurde, sind jetzt die Schlepper ohne große
Öffentlichkeit wegen fahrlässiger Tötung von einem holländischen
Gericht verurteilt worden. Statt als organisierte Flüchtlingsmafia
erwiesen sich die sieben Angeklagten als kleine Bande, der ihnen ursprünglich
zur Last gelegte Mord stellte sich als ein von einem defekten Kühlsystem
verursachter Unfall heraus.
Damit habe,
kommentierte die Nachrichtenagentur AFP, das Gericht
»einen vorläufigen Schlussstrich unter den Tod von 58 chinesischen
Flüchtlingen (...) gezogen«. Die Richter scheuten sich, den
niederländischen Grenzbehörden - wie von den Verteidigern gefordert
- eine Mitschuld anzulasten.
Dabei lassen
jährlich mehrere hundert Flüchtlinge ihr Leben bei
ähnlichen »Unfällen« im direkten europäischen
Einzugsbereich. Nimmt man die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Nordafrika
und den vorderen Orient hinzu, so steigt die Zahl in die Tausende. Den
»Schlussstrich« unter deren Leben zieht eine Fluchtabwehr,
die den
unglücklichen Ausnahmefall durch die Hochrüstung der Grenzanlagen
zur Regel erhebt.
Nun fand
einmal im Zentrum statt, was sich eigentlich an der
Peripherie ereignen sollte. Nichts anderes meinen die
EU-Regierungschefs, wenn sie erklären, das Ziel ihrer Politik sei
es,
»in den Herkunftsländern Lebensbedingungen (zu) schaffen, die
es
(Flüchtlingen) ermöglichen soll, in der Heimat zu bleiben«,
wie es
der EU-Kommissar für Justiz, Antonio Vitori, formulierte.
Das Zeugnis
eines türkischen Reservisten auf einer
Flüchtlingskonferenz im März in Ankara verleiht der abstrakten
EU-Fluchtabwehr konkrete Gestalt. Mehr als 100 in der Türkei
gestrandete Flüchtlinge pro Woche habe allein seine Einheit illegal
an die iranische Grenze verfrachtet. Bevor sie über die Grenze gejagt
wurden, nahm man ihnen alle Wertgegenstände ab und prügelte
sie mit Gewehrkolben. Wenn auf der iranischen Seite keine Patrouille mehr
zu sehen war, wurden sie mit Schüssen in die Luft über die Grenze
getrieben.
Was in keinem
EU-Papier zu finden ist, stellt die tägliche Praxis
einer Abschottungspolitik dar, die den Ausnahmefall regelhaft nutzt,
indem sie die Verantwortung der Exekutive überträgt. In
Flüchtlingsangelegenheiten agiert so »die Polizei nicht mehr
als
Instrument zur Vollstreckung des Gesetzes« (Hannah Arendt), sondern
eigenmächtig im Sinne flüchtlingspolitischer Vorgaben.
Mit den illegalen
Repressionen an der ausgelagerten Grenze
korrespondiert die zunehmende Entrechtung von Flüchtlingen innerhalb
Europas. In den Händen der Exekutive wird hier der Flüchtling
zum vollständig verwalteten Objekt. Jeder Schritt wird von Ausländer-
und Sozialbehörden reglementiert, von der Vorenthaltung der Bewegungsfreiheit,
über Nahrungsmittelzuteilungen bis zur Krankenversorgung.
»Unmoralische
Profiteure menschlicher Verzweiflung«, wie das Gericht die »Schlepper
von Dover« aburteilte, ersparen jährlich Zehntausenden das
Schicksal jener, die es auf eigene Faust versuchen und bereits in der
europäischen Peripherie scheitern. Im Geschäft mit ihm als Ware
manifestiert sich nur der sächliche Charakter des Flüchtlings,
der, zum Objekt degradiert, hilflos der unmittelbaren Gewalt aller Akteure
ausgeliefert ist.
12,1 Millionen
Menschen sind nach Schätzungen des Flüchtlingswerks UNHCR derzeit
in der ganzen Welt auf der Flucht.
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