Quellenangabe:
Der EuropäischeKrieg gegen Flüchtlinge. Flüchtlingsabwehr und Lagerpläne der EU (vom 15.11.2004),
URL: http://no-racism.net/article/1011/,
besucht am 15.11.2024
[15. Nov 2004]
Die Lagerpläne diverser europäischer PolitikerInnen und des UNHCR, die im Verlauf der Jahre 2003 und 2004 an die Öffentlichkeit gelangten und in Gremien der EU beraten wurden, sind Ausdruck einer präventiven und auch Militärischen Interventionsstrategie im weltweiten Krieg gegen die Armen.
Inhalt:
I. Lagerpläne 2003
II. Schon existierende Lager, Verfahren und Abkommen zur Flüchtlingsabwehr und -Rückführung
III. Lagerpläne 2004 als Reaktion auf die Rettungsaktion der "Cap Anamur"
IV. Kritik und Widerstandsstrategien
Die ersten Europäischen Pläne für Flüchtlingslager in Kriegs- und Krisenregionen und an den Rändern der EU entstanden nicht zufÀllig zeitgleich zum Beginn des Irakkriegs im Frühjahr 2003. Fast ein Jahr lang gab es nur in Spezialistenkreisen eine Diskussion über solche Lagerpläne. Mit dem Medienrummel um den "Fall Cap Anamur" im Juli 2004 tauchten sie plötzlich wieder auf, ausgelöst durch den Vorschlag des deutschen Innenministers Schily - in eiliger Abstimmung mit seinem italienischen Amtskollegen Pisanu - "Auffanglager" für BootsFlüchtlinge in Nordafrika einzurichten. Die italienische Regierung hat Anfang Oktober begonnen, in Italien gelandete BootsFlüchtlinge nach Libyen zu verfrachten, wo sie bis zu ihrer Abschiebung in von Italien finanzierten libyschen Lagern untergebracht werden. Mittlerweile geben sich Regierungsmitglieder und Wirtschaftsvertreter aller wichtigen EU-Staaten die Klappe von Ghaddafis Zelt in die Hand. Ghaddafi meinte wohl kaum die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und MigrantInnen, als er in seiner Rede zur Eröffnung eines Gasprojekts mit Berlusconi am 7.10.04 sagte: "There ist no life without mobility and mobility is brought about by energy." Bundeskanzler Schröder erklärte am 15.10.04 im deutschen Fernsehen, er sei sich mit seinem libyschen Amtskollegen einig, dass man Flüchtlingen lieber in ihren Herkunftsländern helfen, sprich: sie gemeinsam zurück verfrachten und am Eindringen in die "Festung Europa" hindern sollte.
Die Chronologie der Lager-Debatten in den Jahren 2003 und seit Sommer 2004 zeigt die Menschenverachtung der EU-Flüchtlingspolitik, aber auch ihre internen Widersprüche.
Das erste Papier des britischen Kabinetts und Innenministeriums, zynischerweise "A New Vision for Refugees" genannt, stammt vom Februar 2003 und enthielt zwei Elemente:
1. Intervention, einschließlich mit Militärischen Mitteln, in ländern, die Flüchtlinge produzieren, um den "Strom" von Flüchtlingen zu stoppen und ihrer Rückkehr zu ermöglichen;
2. Schaffung eines "global network of safe havens", später "Regional Protection Areas" (RPA, regionale Schutzzonen) genannt, sowohl nahe bei oder gar in Flüchtlinge produzierenden ländern, als auch näher an oder in der EU.
Modell waren die Lager in Makedonien während des Kosovokriegs, in die Flüchtlinge von Militärs interniert und bewacht wurden und aus denen allenfalls eine kleine Minderheit nach festgelegten Kontingenten befristet in EU-Staaten einreisen durfte.
Ebenfalls vorgeschlagen wurde eine Ergänzung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, um die Rückführung von in Europa angekommenen Flüchtlingen in die "safe havens" zu ermöglichen.
Als zusätzliche Variante legte Blair dann im März 2003 dem EU-Ratspräsidenten ein Konzept für sog. "Transit Processing Centres" (TPC) außerhalb der EU-Grenzen vor, in die sowohl Flüchtlinge im Transit als auch aus der EU zurückgeschobene zur DurchFührung von Asylverfahren interniert werden sollten. Insbesondere gehe es um als "offensichtlich unbegründet" abgelehnte Asylanträge, vor allem von Flüchtlingen aus bestimmten als "sicher" definierten Herkunftsländern, die in den Lagern widerlegen könnten, dass sie "Wirtschaftsmigranten" seien.
Hintergrund dieser Vorschläge war, dass im Jahr 2002 großbritannien zum Land mit der höchsten Zahl an AsylbewerberInnen in der industrialisierten Welt geworden war und Blair seiner Wählerschaft versprochen hatte, daran etwas zu ändern. Ähnlich wie Schily im Jahr 2004 behauptete er aber auch, so ein System sei "menschlicher", da dann ja die gefährliche Reise zum Zielland wegfallen würde. Der britische Vorschlag wurde damals unterstützt durch die niederländische, die Österreichische und die dÀnische Regierung.
Als Reaktion auf diese Konzepte präsentierte Ruud Lubbers, UNHCR, am 17.3.03 auf einem Treffen in London sein "three prong modell" (Drei-Säulen-Modell) für ein effektiveres Flüchtlings-Management: Der "domestic approach" hatte eine effizientere nationale AsylPrüfung und Flüchtlingsbetreuung zum Ziel, mit der "Hilfe in Krisenregionen" sollten "Flüchtlingsströme" schon vor Ort gestoppt werden, und mit dem "EU prong" solle eine gemeinsame EuropäischeBewältigung von Migrationswellen erreicht werden, u.a. durch die Einrichtung geschlossener Lager zur DurchFührung von Asylverfahren auch für Flüchtlinge, die bereits Europa erreicht haben. Unterschied zu den britischen Plänen: Die Lager sollten innerhalb der Grenzen der (erweiterten ) EU statt außerhalb errichtet werden. Die Flüchtlingszentren sollten laut UNHCR "den Asylmissbrauch eindämmen", da derzeit bis zu ÃÂÃ
ÅŸ aller Asylbewerber, die es bis nach Europa schaffen, nicht die klassischen Kriterien eines Flüchtlings erfüllen würden. Deshalb seien auch Listen sicherer Herkunftsländer sinnvoll. Flüchtlinge aus diesen ländern könnten ihr Verfahren in solchen Lagern durchführen und die wenigen anerkannten sollten nach einem Quotensystem auf die EU-länder verteilt werden, die übrigen würden schnellstens "nach Hause geschickt". Der UNHCR führte nicht zuletzt finanzielle Argumente ins Feld: für Asylbewerber in Europa würden rund 10.000 Dollar jährlich an Unterstützung aufgewendet. Dagegen zahle der UNHCR für Millionen Flüchtlinge in der Welt im Durchschnitt nur 50 Dollar pro Jahr (nach: SZ 4.6.03).
Auf einer Tagung der EU-Justiz- und Innenminister Ende März 2003 unterstützten die Niederlande, Italien und Spanien die UNHCR-Variante des britischen Konzepts, während der deutsche Innenminister Schily sich skeptisch äußerte. In einem Interview gegenüber dem "Observer" (11.5.03) sagte er, der britische Vorschlag werde die Zahl derjenigen, die nach Europa gelangen, eher erhöhen als reduzieren. Er stimme den Zielen zu, meine aber, diese Lager würden nicht funktionieren, sondern nur noch zusätzliche Flüchtlinge anziehen. Auf einem UNHCR-Symposium Ende Juni 2003 in Berlin betonte er demgegenüber die Wirksamkeit der deutschen Regelungen über "sichere Drittstaaten" und "sichere Herkunftsländer" und dass man doch alles tun müsse, um schon in den Herkunftsregionen Flucht zu verhindern. Die deutsche Regierung hat sich auf EU-Ebene schon immer gegen Quotenregelungen zur Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen und will sich nicht auf "Lastenteilung" mit ländern einlassen, die (nicht zuletzt aufgrund ihrer EU-aussengrenzen) bei der Flüchtlingsabwehr nicht so "effektiv" sind.
Im Gegensatz zu Schilys Argumentation kritisierte die schwedische Regierung das Konzept aus rechtlichen und humanitären Gründen, ähnlich wie eine große Zahl an Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen. Die EU-Kommission ging deshalb Anfang Juni offiziell auf Distanz zu den britischen Plänen und auch zum UNHCR-Konzept für die TPCs. Der Beschluss Nr. 26 auf der EU-Gipfelkonferenz Mitte Juni 2003 in Griechenland lautete wörtlich: Die EU-Konferenz fordert die EU-Kommission auf, "Mittel und Wege zu prüfen, wie die Schutzkapazität von Herkunftsländern erhöht werden kann. (...) Der Rat stellt fest, dass eine Reihe von Mitgliedsstaaten beabsichtigt, als Teil dieses Prozesses gemeinsam mit dem UNHCR die Möglichkeit für einen verbesserten Schutz der Flüchtlinge in ihrer Herkunftsregion zu prüfen." Offiziell ließ großbritannien seinen Vorschlag der TPCs fallen, und in den Medien wurde es meist so dargestellt, als habe die EU die britischen Vorschläge abgelehnt. Aber der EU-Gipfel gab grünes Licht für Pilotprojekte und beschloss eine 12-Monatsstudie sowie einen Bericht über "praktische Vorschläge". "The idea is to bring safe havens closer to the people and their places of origin", sagte ein EU-Kommissionssprecher zu Reportern auf dem EU-Gipfeltreffen. Das bedeutet eine klare Zustimmung zum Konzept der regionalen Verlagerung des Flüchtlingsschutzes in die Nähe der Herkunftsländer von Flüchtlingen.
Nach der EU-Gipfelkonferenz 2003 gab es noch einige kleine Meldungen über geplante Transitlager für Flüchtlinge, z.B. in Kroatien und Bulgarien, wo die Regierungen diese aber dementierten, und "Regional Protection Areas", z.B. in Kenia. Ansonsten wurde das Thema öffentlich kaum noch diskutiert.
Neben den hier eher unbekannten "Resettlement"-Programmen in Verbindung mit Flüchtlingslagern in verschiedenen Krisenregionen, wo Flüchtlinge sich um Aufnahme in bestimmten Zielstaaten bewerben können, gibt es an den Rändern Europas bereits etliche Lager zur Abwehr und Abschreckung von Flüchtlingen und MigrantInnen. Beispielhaft seien hier nur einige erwähnt:
Die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko wurden erst vor weniger als zehn Jahren als Schlupflücher nach Europa entdeckt. Deshalb wurden 1999 die alten Stacheldrahtzäune ersetzt durch drei Meter hohe Metallzäune, fluchtlichtbestrahlt, kamera-, mikrofon- und sensorüberwacht. Vor dem Zaun lagern Hunderte von AfrikanerInnen, und immer wieder schaffen es einige, den Zaun zu überwinden - und damit nach Europa einzureisen. Als Konsequenz wird jetzt der Zaun auf sechs Meter erhöht und die Bewachung verstärkt. In den Exklaven befinden sich Lager mit je 500 Plätzen, die immer voll sind. (Angaben nach: FR 16.8.04)
Auf der anderen Seite des Mittelmeers gibt es insbesondere in Italien zunehmend Lager. Auf der Afrika am nächsten gelegenen Insel Lampedusa kommen schon seit 20 Jahren "clandestini" an. Früher nahm niemand Notiz davon, und die ImmigrantInnen reisten weiter aufs italienische Festland. Seit einiger Zeit werden sie sofort in ein Lager gesteckt, mit einem Neubau wurde begonnen, angeblich um die Tourismusbranche vor den Flüchtlingen zu schützen. Gezielt wird Rassismus geschört. Eine Restaurantbesitzerin meint jedoch: "Wir haben nichts gegen die Illegalen, aber sie sollen als freie Menschen kommen!" (SZ 28.7.03)
Auf Sizilien und dem italienischen Festland gibt es seit 1998 Abschiebelager, ironischerweise Centri di Permanenza Temporanea (CPT) - Zentren für den zeitweiligen Aufenthalt - genannt. Die geschlossenen Zentren in Agrigent und Caltanissetta wurden durch die Inhaftierung der Flüchtlinge von der Cap Anamur auch hier bekannt. Weitere CPT gibt es z.B. in Apulien, wo sie ursprünglich zur Inhaftierung der Flüchtlinge gedacht waren, die von Albanien über die Adria nach Italien gelangten. Deren Zahl wurde durch gemeinsame Patrouillen italienischer und albanischer Spezialtruppen fast auf Null gesenkt. Im CPT Regina Pacis in San Foca, direkt am Touristenstrand gelegen und im Sommer 2003 Ziel internationaler Proteste, sind deshalb vor allem Menschen ohne Papiere interniert, die über Libyen nach Sizilien gelangt sind.(Näheres zu den italienischen Lagern in dem Buch "Italien. Legalisierung von Flüchtlingen - Militarisierung der Grenzen?" herausgegeben von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) im Febr. 2002)
Wenig bekannt ist bisher über Lager in nordafrikanischen ländern. Insbesondere Italien hat jedoch in den letzten Jahren vor allem auf die Transitländer Libyen, Tunesien und Ãgypten verstärkten Druck ausgeübt, um sie zu einem konsequenteren Einsatz bei der überwachung sowohl der Küsten als auch der jeweiligen "grünen Grenzen" in der Sahara zu veranlassen. Die nordafrikanischen länder sind dazu aber nicht ohne Gegenleistungen bereit, denn sie haben keine Mittel, die Grenzen aufzurÃŒsten und auch wenig Interesse daran. Die Geldüberweisungen der eigenen Staatsbürger aus dem Ausland stellen eine der wichtigsten Einnahmequellen dar. Deshalb benutzt Italien als Druckmittel Einwanderungsquoten und Entwicklungshilfe. Mit Tunesien wurde z.B. im Dezember 2003 ein neues Abkommen geschlossen, das AusrÃŒstung und Ausbildungshilfe für Grenzkontrollen, aber auch erhöhte Einwanderungsquoten enthielt. Daraufhin beschloss das tunesische Parlament strenge Strafen für Schleuser. Es gibt in Tunesien, das zwar die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, aber kein Asylverfahrensgesetz hat, 13 mit italienischem Geld finanzierte Abschiebehafteinrichtungen, die meisten an geheimen Orten. Ãgypten bekam erst im Oktober 2002 eigene Einwanderungsquoten, als sich ein Verbindungsbeamter der italienischen Polizei in Kairo niederlassen durfte. (Mehr zu diesen Abkommen in dem Artikel von Paolo Cuttitta, "Das diskrete Sterben", FR 19.8.04).
Libyenist nicht Auswanderungs- sondern Einwanderungs- und Transitland, deshalb galten für Italien keine Einwanderungsquoten, und aufgrund des EU-Embargos konnten keine (Militärischen) GrenzschutzausrÃŒstungen geliefert werden. All das ist jetzt anders, seit Libyen für die EU nicht mehr als "Schurkenstaat", sondern als profitbringender Geschäftspartner gilt. Das zu analysieren, wäre einen eigenen Artikel wert. Wenig bekannt ist aber auch die Wende der libyschen Politik nach innen gegenüber Einwanderern, insbesondere aus Nigeria, Niger und Tschad sowie aus Ãgypten und anderen nordafrikanischen ländern, die lange als billige Arbeitskräfte willkommen waren. Die Wende begann schon im Herbst 2000, als Zusammenstöße zwischen Libyern und anderen Afrikanern bei Tripolis zu sechs Toten führten. Viele Nigerianer wurden abgeschoben. Seit März 2004 schränkt ein Gesetz die Einwanderung ein und sieht die Ausweisung arbeitsloser Ausländer vor. Die Abzuschiebenden "wohnen" in Zelten in der Wüste, und Massenabschiebungen, z.B. nach Eritrea, begannen zeitgleich mit der Ankunft eines italienischen Beamten.
Auch Marokko hat nicht aus eigenem Antrieb mit Massenabschiebungen schwarzer Afrikaner begonnen - am 30.11.03 per Charterflug mit 416 Personen nach Nigeria. Von der EU bekommt Marokko über drei Jahre 40 Millionen Euro zum "Kampf gegen illegale Migration". Parallel dazu wächst der Rassismus gegen Schwarze (nach: taz 25.8.04).
Das EU-Programm AENEAS soll im gesamten Mittelmeerraum "die Bereitschaft der Drittländer zum Abschluss von Rückübernahmeabkommen fördern".
Es gibt jedoch auch Abschiebevereinbarungen, die aufgrund von Widerstand in den Herkunftsländern und in Europa gescheitert sind, wie z.B. das im Januar 2003 bereits unterzeichnete Abkommen zwischen der Schweiz und Senegal. Es sah vor, abgelehnte afrikanische Asylsuchende, deren Identität nicht nachgewiesen werden konnte, nach Senegal abzuschieben und sie dort auf dem Flughafen zu internieren, wo afrikanische Botschaften sich dann "ihre" Staatsbürger heraussuchen sollten. Aufgrund von Protesten von Menschenrechtsorganisationen und afrikanischer MigrantInnen, die sich gerade im Senegal aufhielten, weigerte sich das senegalesische Parlament im März 2003, das Abkommen zu verabschieden.
Relativ weit entwickelt ist jedoch die Politik der Lager, Internierungen und Rückübernahmeabkommen an den neuen Ostgrenzen der EU. Dies betrifft Flüchtlinge und MigrantInnen im Transit, aber auch bereits in die EU eingereiste Asylsuchende. Österreich und die drei baltischen Staaten sprachen sich vor kurzem für die Errichtung eines Aufnahmelagers für Flüchtlinge aus Tschetschenien außerhalb der EU, z.B. in der Ukraine, aus.
Am 19.7.04, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Rettung von 37 afrikanischen Flüchtlingen im Mittelmeer durch das Schiff "Cap Anamur" der gleichnamigen Hilfsorganisation, sprach der deutsche Innenminister Schily auf einem Treffen der EU-Justizminister zum ersten Mal von der Möglichkeit, Auffanglager für BootsFlüchtlinge in Nordafrika einzurichten. "Humaner als ertrinken" nennt Schily diese Lösung. Bei einer Umfrage des Fernsehsenders ntv am 20.7.04 sprachen sich 76% der ZuschauerInnen für Lager in Nordafrika aus.
Was für Lager das genau sein sollen und für wen, wer darin das Sagen hat und wer über ihre Einrichtung entscheidet, darüber war bisher allerdings nur in täglich anders lautenden Medienberichten die Rede. Z.B. äußerten Schily und sein italienischer Amtskollege Pisanu in einer gemeinsamen Presseerklärung am 16.8.04, es solle für auf See aufgegriffene Flüchtlinge eine Einrichtung geschaffen werden, "die außerhalb der Grenzen Europas Asylgesuche entgegennimmt und prüft" (FR 17.8.04). Diese Institution solle dann für anerkannte Flüchtlinge eine Aufnahme in einem Drittland besorgen, in der Regel "in der Nähe ihres Heimatlandes mit Unterstützung der EU" (Schily lt. FAZ 22.7.04). Asyl in Europa sollten die Flüchtlinge hingegen nur auf "freiwilliger Basis der jeweiligen Staaten" erhalten. Zugleich solle außerhalb Europas eine Clearingstelle eingerichtet werden, bei der EU-Staaten ihren Bedarf an legaler Einwanderung anmelden könnten. In der SZ vom 2.8.04 wird Schily mit folgenden Vorstellungen zitiert: "Es wird dort (in Nordafrika) eine Aufnahmeeinrichtung geben und eine Institution, die aus Beamten der Asylbehörden der EU-Mitgliedsstaaten zusammengesetzt ist. Diese Behörde prüft: Haben die Flüchtlinge einen Grund nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der einer Rückkehr ins Heimatland entgegensteht? Wenn sie keinen haben, müssen sie zurück. (...) Eine gerichtliche Kontrolle muss es nicht zwangsläufig geben. Wir sind außerhalb des Rechtsgebietes der EU." Schily verwies immer wieder auf die in der am 29.4.04 von den EU-Innenministern beschlossenen Asylverfahrensrichtlinie verankerte Drittstaatenregelung, die auf deutschen Druck zustande kam.
All diese Vorstellungen hatte Schily ohne Absprache mit den anderen Regierungsmitgliedern und deren Parteien geäußert, und in den folgenden Wochen entstand darüber eine bundesdeutsche Debatte. Die Meinungen zu den Lagerplänen gingen dabei quer durch die Parteien, und auch bei den Wohlfahrtsverbänden gab es sowohl ablehnende als auch zustimmende Reaktionen.
Auf EU-Ebene kursierten in den letzten Wochen auch die unterschiedlichsten ÃuÃerungen zu und Interpretationen von Schilys Plänen. Beim Treffen der EU-Innenminister Anfang Oktober sprach Schily plötzlich nur noch von "BegrÃŒÃungszentren" für Flüchtlinge in Nordafrika, und in der Presse herrschte viel Verwirrung: "Schilys Lagerpläne gescheitert" schrieben die einen, "Sehr viel Zustimmung für die überlegungen des deutschen Innenministers" die andern. Beschlossen wurde die Einrichtung von fünf Aufnahmezentren für Migranten in Algerien, Libyen, Mauretanien, Marokko und Tunesien zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt. EU-Kommissar Vitorino betonte, in den Lagern könnten keine Asylanträge für die EU gestellt werden, sondern nur für das jeweilige Gastland. Der marokkanische Innenminister erklärte, sein Land sei nicht bereit, derartige Lager zu akzeptieren. UN-Flüchtlingshochkommissar Lubbers lehnt jedoch Schilys Ideen nicht grundsätzlich ab, sofern in den Lagern außerhalb der EU ein faires Asylverfahren gewährleistet und der UNHCR einbezogen sei. Am 14.10.04 sagte das EU-Parlament "Nein" zu Flüchtlingslagern außerhalb der EU, da sie die "offensichtliche Gefahr" mit sich brÀchten, dass "die Grundrechte verletzt werden". Wenige Tage später stellte Schily seine Pläne auf dem G 5-Treffen in Florenz zur Diskussion. Italien unterstütze seine Pläne, Frankreich und Spanien sprachen sich dagegen aus, der Vertreter großbritanniens reiste vor Ende der Sitzung ab. Am 5.11.04 trafen sich die 25 EU-Regierungschefs. Laut "Frankfurter Rundschau" vom 6.11.04 wurde dort folgendes beschlossen: "(Es) sollen bis 2010 einheitliche Asylbestimmungen für die EuropäischeUnion verabschiedet werden, wobei ausdrücklich auch die Möglichkeit überprüft werden soll, Asylanträge außerhalb des Territoriums der EU bearbeiten zu lassen. In diesem Zusammenhang soll die Zusammenarbeit mit Transitstaaten für Flüchtlinge besonders im Mittelmeerraum und im Osten Europas ausgebaut werden. Damit wird laut Experten die Absicht verfolgt, Flüchtlinge möglichst weit außerhalb der EU-Grenzen an der Weiterreise zu hindern - ein Vorschlag, der dem italienischen und deutschen Dringen auf Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika in zunächst unverbindlicher Form entgegenkommt."
Inzwischen werden Fakten geschaffen: Italien schiebt Flüchtlinge ohne AsylPrüfung von Lampedusa nach Libyen ab. Nach Aufhebung des Waffenembargos der EU gegen Libyen am 11.10. 04 verhandeln nicht nur Berlusconi und Pisanu, sondern auch Schröder und Schily mit Ghaddafi. Es geht dabei vor allem um Geschäfte mit Öl, Gas und Aufträgen für die EuropäischeWirtschaft, nicht zuletzt die RÃŒstungsindustrie. Flüchtlingsabwehr ist insofern für Europa nicht nur ein politisches Interesse, sondern es wird auch daran verdient, wenn die nordafrikanischen länder mit Patrouillenbooten und überwachungstechnik ausgestattet werden. Ob auch Zelte oder Baumaterial für Lager geliefert werden, wie es schon durch die Medien ging, ist dann eine zweitrangige Frage.
Am liebsten hätten alle Machthaber nÃŒrdlich und südlich des Mittelmeers unerwünschte Flüchtlinge und nicht (mehr) als billige Arbeitskräfte auszubeutende MigrantInnen dort, wo sie nach ihrer Meinung hingehören: in ihren Herkunftsländern. Dass hierbei bereits "Erfolge" zu verbuchen sind, berichtete z.B. die taz in einem kleinen Artikel am 21.8.04: Die Polizei in Sierra Leone habe ein Schiff mit mehr als 500 Flüchtlingen an Bord am Auslaufen Richtung Kanaren gehindert. Bei der gemeinsamen Aktion sierra leonischer, spanischer und guineischer Behörden seien der KapitÀn und die Crew festgenommen worden.
Nicht nur die Besatzung der "Cap Anamur" landete also in diesem Sommer wegen Unterstützung von Flüchtlingen hinter Gittern. Dass zumindest von dieser Organisation solche Aktionen nicht mehr unternommen werden, machte "Cap Anamur" durch die Abwahl ihres Vorsitzenden Elias Bierdel Anfang Oktober 2004 klar - ironischerweise zeitgleich zu den Massenabschiebungen von Lampedusa.
Die aktuellen Lagerpläne sind Ausdruck einer Zuspitzung und Militarisierung der Europäischen Flüchtlingspolitik. Lager bedeuten nicht nur menschenunwürdige und konfliktgeladene Lebensbedingungen, sondern vor allem eine Entrechtung, Stigmatisierung und Isolation der in sie eingewiesenen Menschen. Sie fördern Ausgrenzung und Rassismus gegen Menschen, die durch die Internierung als Nicht-bürgerInnen gekennzeichnet werden. Dies gilt nicht nur, aber noch verstärkt für geschlossene, exterritoriale Lager, deren Extrembeispiel Guant"¡namo ist. Die von Schily vorgeschlagenen EU-Lager in Nordafrika sind eine Vorverlagerung der EU-Grenzen und könnten auf mittlere Sicht als "sichere Drittstaaten" deklariert werden, in die Flüchtlinge, die bereits nach Europa eingereist sind, abgeschoben werden können. Dass auch anerkannte Flüchtlinge nicht mehr in die EU einreisen dürfen, dazu dienen die Bemühungen um "heimatnahe Schutzzonen". In Gesprächen mit korrupten Herrschern wird Technik und know how zur Migrationsverhinderung als "Entwicklungshilfe" verkauft.
Flucht- und Wanderungsbewegungen nach Europawerden in EU-Dokumenten als Bedrohungsfaktoren festgeschrieben und verbunden mit dem Kampf gegen "Kriminalität" und "Terrorismus". "Dabei hebt das EuropäischeMigrationsregime gezielt die Unterscheidung von Vertriebenen, Flüchtlingen und MigrantInnen zugunsten konstruierter bedrohlicher "MigrationsströmeâÃÂàauf. Einzig die kleine Schar erwünschter ArbeitsmigrantInnen kann noch auf legalem Weg nach Europa einreisen." Die menschenrechtlich argumentierende, defensive Kritik der asyl- und Flüchtlingspolitischen Organisationen greift zu kurz, "weil sie ausblendet, dass die EuropäischeMigrationspolitik eine Facette zur Aufrechterhaltung der globalen Ungleichheitsordnung darstellt, aus der sich der Reichtum der Metropolen speist" (Dirk Vogelskamp in "Krieg gegen die Armen", Diskussionspapier Sept. 2004). Der Kampf für politische und soziale Rechte muss deshalb auf alle ausgedehnt werden, unabhängig von einem Flüchtlings- oder Aufenthaltsstatus.
Die Regierungen der Europäischen Staaten, der Transit- und Herkunftsländer arbeiten bereits auf allen Ebenen zusammen. Es gibt jedoch Widersprüche in ihrer Politik: Die Grenzen der EU werden nie ganz geschlossen sein - nicht nur, weil bestimmte Kapitalfraktionen auf einen ethnisch hierarchisierten Arbeitsmarkt zur Profitmaximierung setzen und deshalb rechtlose MigrantInnen brauchen, sondern auch, weil Menschen beim Kampf ums überleben sich nicht aufhalten lassen durch Stacheldraht und Patrouillenboote. Die aus-grenzende Politik der Herrschenden nimmt jedoch zunehmend den Tod der Unerwünschten in Kauf. Wenn wir dagegen Widerstand aufbauen wollen, müssen auch wir uns auf internationaler Ebene vernetzen: mit Flüchtlingen hier, ihren Landsleuten "zuhause" und auf dem Weg, mit Menschenrechtsorganisationen in Europa, in Transit- und Herkunftsländern. Es geht um die Durchsetzung des Zugangs nach Europa, um den Kampf für gleiche Rechte hier und um den Widerstand gegen Abschiebungen. Letztlich geht es um politische und soziale Menschenrechte für alle.
Dieser Text von Cornelia GunÃer, Flüchtlingsrat Hamburg, wurde für ak - analyse und kritik verfasst. Es ist die überarbeitung eines Referates einer Veranstaltung des Flüchtlingsrats: Der EuropäischeKrieg gegen Flüchtlinge. Hintergründe und Folgen des "Falls Cap Anamur" am 23.9.04 in Hamburg (Ankündigung, Referat sowie weitere interessante Texte auf www.fluechtlingsrat-hamburg.de).