Quellenangabe:
Aufruf nach Wien (vom 09.10.2005),
URL: http://no-racism.net/article/1385/,
besucht am 22.11.2024
[09. Oct 2005]
Zum vierten Mal seit 1999 wird im Mai 2006 in Wien im Rahmen der EU-Präsidentschaft Österreichs ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) und der Staaten Lateinamerikas und der Karibik stattfinden.
Parallel zu diesem offiziellen Gipfel werden soziale Bewegungen, Nicht-Regierungsorganisationen und andere Akteure den Alternativengipfel "Enlazando Alternativas 2" ("Alternativen verknüpfen") abhalten.
Nach 500 Jahren einer durch Kolonialismus geprägten Geschichte haben sich die Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika nicht wirklich grundlegend verändert. Die schüttere Fassade nationaler Unabhängigkeit und nationalstaatlicher Demokratisierung auf dem so genannten "Neuen Kontinent" kann mit ihrer Schwäche und ihrem Zynismus nicht über die noch nie dagewesene Verarmung hinwegtäuschen, die unzählige Kulturen zerstört und ganze Bevölkerungsmehrheiten in Lateinamerika marginalisiert. Diese Realität ist eine Folge der vom Norden bestimmten Geschichte, in der die europäischen und nordamerikanischen Regierungen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen und auf den bestehenden Beziehungen der politischen und wirtschaftlichen Unterordnung beharren.
Ein Jahr nach der Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten hat diese mit der größten Krise in ihrer Geschichte zu kämpfen. Im Zuge dieses Erweiterungsprozesses wurde die Chance vergeben, das politische Projekt EU um eine starke soziale, solidarische und auf die fundamentalen Rechte der MigrantInnen und Flüchtlinge ausgerichtete Perspektive zu erweitern. Im Text der Europäischen Verfassung ist der Vorrang, den die politischen Machthaber den Interessen des kapitalistischen Marktes einräumen, klar ausgedrückt. Das überwältigende "Nein", mit dem die Bevölkerung Frankreichs und Hollands gegen den Verfassungsvertrag und für ein anderes Europa gestimmt hat, ist ein großer Erfolg für die soziale Bewegung. Jetzt ist das Europäische Verfassungsprojekt tot und die europäischen politischen Machthaber, die keine Alternativvorschläge haben, verloren ihre Legitimität. Trotzdem bestehen sie auf der Durchführung immer neuer ökonomischer und politischer Richtlinien, die im Falle ihrer Umsetzung die in Europa herrschende Krise noch verstärken werden.
Deregulierung, Privatisierung und Freier Handel sind die neoliberalen Konzepte, die von Nationalökonomen in Wien, Chicago und Santiago de Chile entworfen wurden und als Markenzeichen einer Wirtschaftsordnung gelten, welche die Macht der Waffen um die "Demokratur der Reichen" erweitert. Der ungerechten Logik des Marktes folgend, werden immer mehr Menschen sozial ausgeschlossen und damit ihre Menschenrechte mit Füßen getreten. Dadurch, dass ihnen der Zugang zu Wasser, Bildung, Arbeit, Nahrung und einem funktionierenden Gesundheitswesen erschwert bzw. unterbunden wird, leiden insbesondere Frauen und Kinder.
Zugleich werden unzählige natürliche Ressourcen, Quellen der Energie und des Lebens, der Raubgier transnationaler Konzerne überlassen. Zu den Gewinnern dieses Prozesses zählen neben den US-amerikanischen vor allem europäische Großunternehmen, die sich an den Privatisierungen der öffentlichen Dienste - insbesondere des Wassers - ebenso bereichern wie an bereits liberalisierten Sektoren wie Banken, Finanzinstitutionen und natürliche Ressourcen.
Im Laufe der letzten zehn Jahre haben sowohl die EU als auch ein Großteil der Regierungen Lateinamerikas auf eine Reihe von biregionalen und bilateralen Verträgen gesetzt, die den Machenschaften der transnationalen Unternehmen einen rechtlichen Rahmen geben. Diese Abkommen sind im Dienste ihrer Interessen ausgearbeitet und enthalten Regeln über Investitionen, intellektuelles Eigentum, Dienstleistungen und Freier Handel - z.B. die Verträge der EU mit Mexiko, Chile, Mercosur und den Andenstaaten "Trade, not aid", "politischer Dialog", und "Kooperation" lauten die Schlagwörter, mit denen die EU einen "Kapitalismus mit menschlichem Gesicht" zu etablieren vorgibt. Hinter der Rhetorik der Forderung nach "Nachhaltiger Entwicklung" und Menschenrechten verbergen sich jedoch europäische Geschäftemacher und große exportorientierte lateinamerikanische Interessensgruppen, die nicht bereit sind zurückzustecken - insbesondere was die Investitionen sowie den Handel mit Agrarprodukten und Dienstleistungen betrifft.
Um in beiden Regionen die Ausbreitung dieses Wirtschaftsliberalismus zu stoppen, haben viele soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen aus Lateinamerika/Karibik und Europa beschlossen, Widerstand zu leisten. Denn diese Art von Handelsverträgen fördert und verstärkt die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Kontinenten. Diese sozialen Bewegungen und Organisationen haben sich seit Mai 2004 zusammengetan, um biregionale Aktivitäten gegen das Ausschließungsmodell und die neoliberale Agenda der Regierungen voranzutreiben.
Im Mai 2004 wurde deshalb in Guadalajara, Mexiko, der erste Alternativengipfel "Enlazando Alternativas" abgehalten.
Heute wie damals sind wir davon überzeugt, dass es nötig ist, in Übereinstimmung mit den Völkern Lateinamerikas und Europas folgende Ziele zu erreichen:
+ Aufbau einer biregionalen politischen Bewegung, die soziale und entwicklungspolitische Netzwerke, NGOs, globalisierungskritische Bewegungen, Solidaritätsgruppen, Gewerkschaften, Land- und Arbeitslose, Campesinos, politische, indigene und ökologische Organisationen, Studenten, Intellektuelle und Künstler beider Kontinente vereinen soll.
+ Widerstand gegen die Auswirkungen des neoliberalen Modells auf beiden Seiten des Atlantiks zu leisten; insbesondere gegen die Wirtschaftspolitik der europäischen Konzerne und Regierungen in Lateinamerika.
+ Schaffung von Alternativen. Es sollen gemeinschaftliche alternative Projekte erarbeitet werden.
+ Das Interesse einer möglichst breiten Öffentlichkeit für die sozialen Bewegungen wecken und eine Zusammenarbeit beider Regionen herbeiführen. Auf diese Weise sollen die Themen des offiziellen Gipfels ebenso bekannt gemacht und diskutiert werden wie die Alternativvorschläge zur Politik der EU gegenüber Lateinamerika.
+ Die Durchführung von Aktionen und Mobilisierungen, welche die soziale Unzufriedenheit in Form von öffentlichen Protesten zum Ausdruck bringen.
Tribunal der Völker zu Transnationalen Unternehmen
Im Mai 2006 werden während der vier Tage des Alternativengipfels in Wien nicht nur die Verträge zwischen Lateinamerika und der EU, die Entwicklungspolitik und die Militarisierung beider Kontinente in Frage gestellt, sondern auch ein Tribunal der Völker veranstaltet, im Rahmen dessen die Machtmechanismen der europäischen transnationalen Konzerne in Lateinamerika und Europa selbst untersucht werden.
Demonstration
Den Abschluss dieser Großveranstaltung wird eine Demonstration am 13. Mai 2006 bilden, welche der Weltöffentlichkeit die Einheit in der Vielfalt der sozialen, politischen, feministischen und ökologischen Kämpfe in Europa und Lateinamerika vor Augen führt.
Die VeranstalterInnen dieses ALTERNATIVENGIPFELS laden alle AktivistInnen und SympathisantInnen sozialer und entwicklungspolitischer Netzwerke, globalisierungskritische Bewegungen, Gewerkschaften, Land- und Arbeitslose, Indigene, KünstlerInnen und Intellektuelle Lateinamerikas und Europas ein, vom 10. bis 13. Mai 2006 nach Wien zu kommen und sich an den Diskussionen um eine friedliche, demokratische und sozial gerechte transatlantische Allianz auf Grundlage der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker aktiv und solidarisch zu beteiligen.
"Enlazando Alternativas 2" ist Bestandteil eines breites Mobilisierungsprozesses, an dem sich unter anderem das Sozialforum von Caracas im Jänner 2006 und das Europäische Sozialforum in Athen im April 2006 beteiligen, deren weltanschauliche Ausrichtung von dieser Initiative voll geteilt wird.
EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH!
Wir werden sie gemeinsam aufbauen.
Wien, im September 2005