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Quellenangabe:
Aufruf zur International Refugee Human Rights Tour 2006 (vom 11.05.2006),
URL: http://no-racism.net/article/1676/, besucht am 28.03.2024

[11. May 2006]

Aufruf zur International Refugee Human Rights Tour 2006

Von 29. Juli bis 5. August 2006 touren AktivistInnen zu den Lagern in Nürnberg, München, Neuburg und Landshut. Sie protestieren gegen "Deutschland Lagerland" und fordern: Flüchtlingslager abschaffen! Ausgrenzung und Isolation beenden! Bleiberecht!

Flüchtlingslager sind ein Mittel der Unterdrückung, der wirtschaftlichen Ausbeutung und der Isolation. Die AntiLagerTour ruft dazu auf, diese unmenschliche Internierung abzuschaffen und eine Politik zu beenden, die Flüchtlinge diskriminiert, isoliert und kriminalisiert.

Flüchtlingen werden in Lagern grundlegende Menschenrechte vorenthalten. Sie haben keinerlei Privatsphäre, sie sind von der Gesellschaft, in der sie Leben, isoliert, sie sind von Infektionskrankheiten bedroht und psychischer Zermürbung und Repression ausgesetzt, sie werden von Bildung ausgeschlossen, sie werden wirtschaftlich ausgebeutet und dürfen noch nicht einmal selbst entscheiden, was sie essen.

So fragt Elvisa B. wütend: "Was soll ich meinen Kindern zum Essen geben, was?" Sie ist am Donnerstag zu spät zur Essensausgabe gekommen, weil sie mit ihrem jüngsten Kind beim Arzt war. Jetzt bekommt sie erst am nächsten Dienstag wieder die Pakete - wenn sie Glück hat, und ihre Rationen für die nächste Woche nicht abbestellt wurden. Als 13jährige floh sie mit ihrer Familie vor dem Krieg in Bosnien. Heute lebt die 26jährige allein erziehende Mutter im größten südbayerischen Flüchtlingslager in Neuburg an der Donau. Sich und ihre drei kleinen Kinder muss sie mit dem Inhalt von Lebensmittelpaketen ernähren, arbeiten darf sie nicht.

Warum Flüchtlinge hier sind


Elvisa B. und ihre Kinder teilen das Schicksal tausender Flüchtlinge in Bayern, die aufgrund von Krieg, politischer und religiöser Verfolgung, Armut, Hunger, rassistischer oder sexueller Diskriminierung ihr Land verlassen haben, darunter Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, Männer und Frauen aus Iran und Afghanistan, dem Irak oder dem Kongo, Oppositionelle, die vor den EU-gestützten Diktaturen in Äthiopien und Togo geflohen sind.
So wie die afghanische Familie A. die im Flüchtlingslager in Landshut lebt. Für die drei in Deutschland aufgewachsenen Töchter ist es unvorstellbar, nach Afghanistan zurückzukehren und sich den rigiden Regeln der fundamentalistischen Stammesherrn zu unterwerfen.

Oder Ahmed D. (27), ein staatenloser Kurde, der vor der Unterdrückung in Syrien geflohen ist. Er bewohnt ein halbes Zimmer im Münchner Flüchtlingslager in der Emma-Ihrer-Straße. Behindertengerecht ist das nicht, aber wer kümmert sich schon um die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahrers ohne Pass.

Lager sollen die "Bereitschaft zur Rückkehr" erzwingen


Drei Schicksale, die man um Tausende ergänzen könnte. Alle diese Menschen werden per Gesetz dazu gezwungen, auf unbegrenzte Dauer in Sammellagern für Flüchtlinge zu leben. Diese Lager bestehen in der Regel aus Baracken oder Containern, die durch Zäune oder durch ihre abgeschiedene Lage außerhalb von Wohngebieten von der restlichen Bevölkerung abgetrennt sind. Privatsphäre gibt es hier nicht, die Menschen leben auf engstem Raum zusammen. Bis zu vier Personen müssen sich ein 15 m² großes Zimmer teilen, Duschen und Toiletten werden gemeinschaftlich genutzt, ebenso die Küche, falls überhaupt vorhanden. Willkürliche Personenkontrollen und Zimmerdurchsuchungen durch Lagerleitung und Polizei, eingeschränkte Besuchszeiten und die Angst, morgens um fünf zur Abschiebung abgeholt zu werden, gehören zum Alltag im Lager. Dieser permanente Ausnahmezustand führt bei vielen BewohnerInnen zu körperlichen und psychischen Erkrankungen. Eine eigene Wohnung anzumieten ist verboten, selbst wenn man sie selbst bezahlen könnte. Der Lagerzwang soll nämlich "die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern", so das bayerische Innenministerium.

Systematische Ausgrenzung und Isolation


Flüchtlinge unterliegen einem Arbeitsverbot und sind deshalb zum Nichtstun verdammt. Erst nach einem Jahr haben sie theoretisch die Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, jedoch nur mit einen "nachrangigen Zugang" zum Arbeitsmarkt. Flüchtlinge müssen deshalb einen Arbeitgeber finden, der ihnen schriftlich bestätigt, sie anstellen zu wollen. Mit dieser Bestätigung müssen sie eine Arbeitserlaubnis beantragen. Doch in der Regel werden diese Jobs, die den Flüchtlingen zugesagt sind, von der Agentur für Arbeit an andere Arbeitssuchende vergeben. Der Dank für diese kreative Meldung freier Stellen ist frustrierend, die Flüchtlinge gehen leer aus. Damit werden Flüchtlinge und andere Arbeitslose gegeneinander ausgespielt.

Wer es trotz aller Widrigkeiten geschafft hat, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, darf sich nicht sicher fühlen. Viele der in der Vergangenheit erteilten Arbeitserlaubnisse werden derzeit wieder entzogen. Dennoch haben sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, obwohl sie jahrelang in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben.

So von der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts ausgeschlossen, werden Flüchtlinge als Menschen zweiter Klasse behandelt. Zweimal pro Woche werden im Auftrag der Bezirksregierung Lebensmittel von der Firma Dreikönig aus dem baden-württembergischen Schwäbisch Gmünd angeliefert, z.T. verdorben und mit weit überschrittenem Haltbarkeitsdatum. Diese unzureichende Versorgung mit Sachleistungen, ergänzt durch Toilettenpapier und gebrauchte Kleidung, beraubt die Menschen jeglicher Selbstbestimmung.

An Bargeld verfügen die Flüchtlinge in Bayern nur über 40 Euro im Monat (Kinder 20 Euro), mit denen zusätzliche Lebensmittel, Fahrkarten, Kinderspielzeug oder Medikamente kaum zu bezahlen sind. In vielen Fällen wird dieser Betrag durch die Ausländerbehörden als Sanktion gekürzt oder ganz gestrichen.

Die "Residenzpflicht" verbietet es Flüchtlingen, den Landkreis zu verlassen, in dem sie wohnen müssen. Ein Verstoß gegen diese Beschränkung der Bewegungsfreiheit wird mit Geld- und Freiheitsstrafen geahndet. Damit werden Flüchtlinge kriminalisiert, wenn sie Verwandte oder Freunde besuchen und sich politisch oder sozial engagieren. Zudem dient diese Kriminalisierung dazu, den Betroffenen später unter Verweis auf ihre Vorstrafen ein Bleiberecht zu verweigern.

Die Unfähigkeit zur Integration in die Welt-Gesellschaft


Ausgrenzung, Isolation und Kriminalisierung ist kennzeichnend für die Flüchtlingspolitik - nicht nur in Bayern, sondern deutschland-, europa- und weltweit. Die Staaten der EU versuchen, Europa zur einer asylfreien Zone zu machen, was tödliche Konsequenzen nach sich zieht. Menschen ertrinken im Mittelmeer, werden an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla erschossen oder werden in der Wüste von Libyen und Marokko ausgesetzt.
Mit rigiden Ausländergesetzen, Grenzen, Lagern, Gefängnissen und Abschiebungen versuchen die EU-Staaten zu kontrollieren, wer sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhält. Dies bedeutet nicht nur ein Festhalten an rückständigen, nationalistischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie sichern sich damit eine Vorrangstellung in einem weltweiten kapitalistischen System, das der Mehrzahl der Menschen den Zugang zu lebenswichtigen wirtschaftlichen, natürlichen und sozialen Ressourcen verwehrt und große Teile der Welt für die Steigerung des ökonomischen Profits zerstört. Während sie Kapital und Waren eine immer größere Bewegungsfreiheit einräumen, beschränken sie die Bewegungsfreiheit der sechs Milliarden "Mitglieder der menschlichen Familie" (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) mit immer rigideren Mitteln. Diese Politik ignoriert die Realität, dass es schon immer Menschen gab und immer geben wird, die sich trotz aller gesetzlichen Verhinderungsversuche auf den Weg machen, um einer existenzbedrohenden Lebenssituation zu entkommen und bessere Lebensperspektiven zu finden. Staaten, die diese Realität nicht wahrhaben wollen, beweisen damit nur ihre Unfähigkeit, sich in eine Weltgesellschaft zu integrieren. Indem sie an ihrer nationalstaatlichen Ideologie festhalten, nehmen sie in Kauf, Menschen zu quälen, ihrer Rechte zu berauben und ihre Würde zu missachten.

Menschenrechte werden nicht erbettelt, sie werden erkämpft!


Weltweit protestieren Flüchtlinge dagegen, per Gesetz ausgegrenzt, isoliert und kriminalisiert zu werden. Diese Diskriminierung aufgrund ihrer nationalen Herkunft stellt einen Verstoß gegen die Menschenrechte dar. Während der letzten Jahre hat der Kampf gegen diese Politik auch in Bayern stattgefunden, in Form von öffentlichen Protesten, Boykott von Lebensmittelpaketen und vielen oftmals öffentlich unsichtbaren Akten des täglichen Widerstands gegen Lagerleiter, Behörden und Polizeischikanen. Diesem Kampf sehen auch wir uns verbunden. Wir, Flüchtlinge und ihre UnterstützerInnen, fordern, die Menschenwürde der Flüchtlinge zu achten und ihre Rechte und Bedürfnisse zu respektieren. Wir rufen Sie/Euch auf, gemeinsam mit uns die Abschaffung aller Flüchtlingslager und ein sofortiges Ende der "legalisierten" Praxis der Ausgrenzung, Isolation, Kriminalisierung und Entrechtung von Flüchtlingen zu fordern!