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Quellenangabe:
Kundgebung gegen Brechmitteleinsätze (vom 21.07.2006),
URL: http://no-racism.net/article/1762/, besucht am 24.04.2024

[21. Jul 2006]

Kundgebung gegen Brechmitteleinsätze

Trotz Verbots durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wollen die Hamburger Behörden an der zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln festhalten. Dokumentation einer Aktion gegen diese rassistische Polizeimethode.

Am Donnerstag den 20. Juli 2006 haben in Hamburg ca. 70 Menschen vor dem Universitätskrankenhaus Eppendorf eine Kundgebung gegen die Vergabe von Brechmitteln an mutmaßliche Drogendealer durchgeführt. Im Anschluss an die Kundgebung gab es einen Versuch zu dem hierfür verantwortlichen Institut und dessen Leiter vorzudringen.

Der Hamburger Senat hat angekündigt an der zwangsweisen Vergabe von Brechmitteln an mutmaßliche Drogendealer, bzw. Personen die aufgrund ihrer Hautfarbe unter Generalverdacht stehen, gegen das Betäubungsmittelgesetz zu verstoßen, weiter festzuhalten. Damit wird an einer als Folter zu bewertenden Methode der Beweissicherung festgehalten und ein :: Urteil des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ignoriert, das feststellt, dass diese Praxis der Brechmitteleinsätze gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstößt.

Das Verhalten des Senates ebenso wie die Rolle von MedizinerInnen bei der zwangsweisen Vergabe von Brechmitteln wurde während der Kundgebung in verschiedenen Redebeiträgen thematisiert und die sofortige Einstellung dieser Praxis gefordert.

Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, versuchten die TeilnehmerInnen der Kundgebung nach deren Ende auf das Gelände des Krankenhaus-Komplexes und bis zum "Institut für Rechtsmedizin" und dem für die Vergabe von Brechmitteln verantwortlichen Prof. Püschel vorzudringen. Dies wurde jedoch von einigen BereichtschaftspolizistInnen und der Krankenhaus-Security verhindert, weshalb einige unentwegte rund um die (sehr weitläufige) Anlage liefen und versuchten, über einen Nebeneingang zum rechtsmedizinischen Institut zu gelangen. Aber auch hier stellten sich die (bei 35° nur schlecht ausgerüsteten) StaatsdienerInnen in den Weg.


Text des während der Aktion verteilten Flugblattes


Brechmitteleinsätze sofort stoppen!

Die Bundesregierung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt.

Am 11. Juli 2006 entschied das Gericht, dass die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln gegen mutmaßliche Drogendealer eine inhumane und erniedrigende Praxis darstellt, durch die Art. 3 der Konvention verletzt wird. Beweismittel, welche auf diese menschenrechtswidrige Weise gewonnen wurden, dürfen in einem Strafverfahren nicht verwertet werden. Dem betroffenen Kläger Abu Bakah J. muss die Bundesrepublik ein Schmerzensgeld von 10.000,- Euro zahlen und ihm außerdem die bisherigen Verfahrenkosten ersetzen.

Der aus Sierra Leone stammende J. war 1993 in Wuppertal von Fahndern der Polizei verdächtigt worden, mit Drogen gehandelt zu haben. Sie hatten angeblich gesehen, wie er etwas geschluckt hatte, was die Polizisten für ein Drogenpäckchen hielten. Er wurde festgenommen und in ein Krankenhaus gebracht. Dort forderte man ihn auf, das Brechmittel Ipecacuanha zu schlucken, was J. verweigerte. Daraufhin verabreichte man ihm das Mittel mit Gewalt. Vier Polizisten hielten ihn nieder, dann wurde dem auf dem Rücken liegenden J. von dem Arzt ein Schlauch durch die Nase in den Magen eingeführt, durch den schließlich eine Kochsalzlösung und das Brechmittel Ipacacuanha eingeflößt wurde. Zusätzlich wurde ihm als weiteres Brechmittel auch noch Apomorhin injiziert. Einige Zeit später erbrach J. sich.

Die Polizei fand ein winziges Päckchen in seinem Erbrochenen, das 0,2182 Gramm Kokain enthielt. J. wurde deshalb später wegen Drogenhandels zu einer Bewährungsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Alle deutschen Gerichte, die mit dem Fall befasst waren, bis hin zum Bundesverfassungsgericht, hatten keine Bedenken gegen die folterähnliche Prozedur, welcher J. zuvor ausgesetzt worden war. Das Straßburger Urteil ist daher auch eine schallende Ohrfeige für die gesamte deutsche Justiz. Das Verfahren gegen J. kann jetzt wieder aufgerollt werden.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss zwingend dazu führen, dass die andauernde menschenrechtswidrige Praxis der zwangsweisen Brechmittelvergabe endlich aufhört. Das Urteil weist über den Einzelfall weit hinaus. Es kann nur die Konsequenz haben, dass die gesamte bisherige Praxis der folterähnlichen Methoden von Polizist(Inn)en und Ärzt(Inn)en gegenüber vermeintlichen Drogendealer(Inne)n, die in fünf Bundesländern angewendet wurde, sofort beendet wird.

Doch danach sieht es zur Zeit noch nicht aus. Der Hamburger Justizsenator ließ zunächst verlautbaren, dass an der bisherigen Praxis festgehalten werde. Es handele sich um eine Einzelfallentscheidung, die interpretierbar sei. (Bericht in der "taz nord" am 13.7.2006).

Am 15.07.06 hieß es dann, bis zur Auswertung des Urteils solle als Zwangsmaßnahme ausschließlich die "gläserne Toilette" genutzt werden. Man gehe aber davon aus, dass die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln nach Prüfung des Urteils unter Auflagen weiter geführt werden könne. (Hamburger Morgenpost vom 15.07.2006)

Es scheint, als wolle der Hamburger Senat das Straßburger Urteil umgehen und um jeden Preis an einer Praxis festhalten, die exemplarisch für eine repressive Anti-Drogen Politik in Hamburg steht.

Seit Einführung der Brechmittelvergabe in Hamburg wurde diese Methode hundertfach angewandt, davon viele Male zwangsweise unter Anwendung der Magensonde. Hervorgetan bei dieser Praxis hat sich vor allem das Hamburger Institut für Rechtsmedizin am Universitätskrankenhaus Eppendorf. Sein Leiter, Prof. Püschel, betätigt sich seit Beginn dieser Praxis im Jahre 2001 als willfähriger Helfer der Polizei und lässt keine Gelegenheit aus, sein Handeln zu rechtfertigen. Es ist zu befürchten, dass die folterähnlichen Praktiken im UKE trotz des Straßburger Urteils fortgesetzt werden.

Dabei war für die Straßburger Richter(Innen) gerade der Fall von entscheidender Bedeutung, der in besonders drastischer Weise die Gefährlichkeit der zwangsweisen Brechmittelvergabe aufzeigte. Am 12.12.2001 starb der nigerianische Staatsangehörige Achidi John nach einem zwangsweisen Brechmitteleinsatz im UKE. Verantwortlich für seinen Tod waren fünf Polizisten, die Achidi John mit brachialer Gewalt fixierten, sowie die Hamburger Gerichtsmedizinerin Frau Prof. Lockemann, welche die Magensonde einführte und schließlich das Brechmittel verabreichte. Lockemann ignorierte sein Röcheln, seine Verkrampfung und die Tatsache, dass er während der quälenden Prozedur urinierte und schließlich regelungslos war. Skrupellos verrichtete sie ihr Handwerk, ignorierte alle Warnzeichen und nahm damit den Tod von Achidi John in Kauf.

Bis heute hat die Hamburger Staatsanwaltschaft kein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, geschweige denn Anklage gegen Frau Prof. Lockemann und die beteiligten Polizisten wegen dieses Tötungsdelikts erhoben. Bis heute praktizieren Prof. Lockemann und Prof. Püschel weiter. Unter Prof. Püschel wurden bis zuletzt Brechmittel an vermeintliche Drogendealer vergeben, wie dieser selbst erklärte. Angeblich ohne Einsatz einer Magensonde. Doch welcher Betroffene wehrt sich schon, wenn der Folterer ihm seine Instrumente zeigt?

Seit dem Tod von Achidi John wissen alle Betroffenen, dass Widerstand zum Tod führen kann. Und so nutzt ein Arzt den Tod eines Menschen, um seine Praktiken um so reibungsloser durchführen zu können.

Am 27.12.2004 starb Laye-Alama Condé in Bremen an den Folgen eines Brechmitteleinsatzes. Der Bremer Polizeiarzt hatte so lange Brechmittel und Wasser durch eine Sonde eingeflößt, bis Condé daran erstickte. Die Bremer Staatsanwaltschaft hat vor zwei Monaten Anklage gegen den Polizeiarzt erhoben. Bremen hat nach dem Urteil aus Straßburg die Brechmittelvergabe zunächst ausgesetzt.

ÄrztInnen am UKE, die sich weiter an der zwangsweisen Brechmittelvergabe beteiligen, muss spätestens nach dem Urteil des EGMR klar sein:

Die ärztliche Mitwirkung ist in jedem Fall strafbar. Sie erfüllt den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung mit einer Mindeststrafe von 6 Monaten.


Das Straßburger Urteil muss Konsequenzen haben:


Kampagne gegen Brechmitteleinsätze

Dieser Artikel erschien am 21. Juli 2006 auf :: de.indymedia.org und wurde hier leicht bearbeitet übernommen. (Unter dem verlinkten Text finden sich noch weitere Bilder von der Aktion.)