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Quellenangabe:
Chiapas 1994, Oaxaca 2006 (vom 07.11.2006),
URL: http://no-racism.net/article/1869/, besucht am 22.12.2024

[07. Nov 2006]

Chiapas 1994, Oaxaca 2006

Deutsche Übersetzung eines Textes von Neil Harvey, der am 4.11.2006 in der linken mexikanischen Tagenzeitung La Jornada publiziert wurde.

Die entfesselte Gewalt der letzten Tage in Oaxaca ist aufs Schärfste zu verurteilen, und die APPO verdient uneingeschränkte Solidarität. Die Tatsache, dass lokale Amtsinhaber und Polizisten derart ungestraft agieren konnten, ist ein Zeichen für das mangelnde Interesse der mexikanischen Regierung, eine wirkliche politische Lösung zu finden.

Die Parallelen zu Chiapas sind zahlreich und besorgniserregend, denn sie zeigen einmal mehr die Unfähigkeit der Regierung, legitime Forderungen anzuerkennen, beispielsweise die Forderung nach dem Rücktritt eines Gouverneurs, der durch den Einsatz von Gewalt versucht, die soziale Unzufriedenheit zu beenden.

Im Januar 1994 versuchte der damalige Präsident Salinas, die zapatistische Bewegung durch Militäraktionen zu zerschlagen, bis die Zivilgesellschaft mittels Mobilisierungen eine politische Lösung forderte. Ein großer Teil der Bevölkerung erkannte, dass die EZLN eine Bewegung war und ist, die gerechte Forderungen vertritt, und dass ihre Rebellion einen wichtigen Raum im Kampf für die Demokratie nicht nur in Chiapas, sondern im ganzen Land eröffnete. Auch in Oaxaca wird nicht nur ein einfaches Abwechseln der Parteien in der Regierung gewünscht, sondern die Forderung nach der Entmachtung der Herrschenden greift tiefer. Es sind die partizipative Demokratie, die Verbesserung des Bildungssystems und die Befriedigung der Bedürfnisse der am meisten marginalisierten Bevölkerungssektoren, die zu einer wirklichen demokratischen Umwälzung beitragen.

In Chiapas fand der Machtwechsel Ende 1994 vor dem Hintergrund einer tief greifenden politischen und ökonomischen Krise statt. Der Gouverneur Eduardo Robles konnte die Ablehnung eines wichtigen Teils der Bevölkerung nicht abwenden, die weiter eine rebellische Bewegung unterstützte. In der Regierungsperiode 1994-2000 hatte Chiapas drei Gouverneure, darunter zwei Interimsgouverneure, die auf repressive Mittel zurückgriffen. Ernesto Zedillo seinerseits versuchte, der Finanzkrise mit Unterstützung der Regierung Clinton beizukommen, und ordnete im Februar 1995 eine erneute Offensive gegen die EZLN an. Wieder mobilisierten sich Tausende Bürger und Bürgerinnen, um den Dialog und das Ende der Repression zu fordern. Es sei darauf verwiesen, dass die Regierung unter Zedillo, ebenso wie die unter Abascal und Fox, mit einem doppelzüngigen Diskurs arbeiteten. Zedillo verriet den Dialog und brachte einen Militarisierungsprozess ins Rollen, der bis heute verheerende Auswirkungen auf die indigenen Gemeinden von Chiapas hat.

In Chiapas spiegelte sich das fehlende Interesse der Regierung an einer politischen Lösung auch in der Bildung und dem Auftreten der mit dem alten Regime der PRIistas verbundenen paramilitärischen Gruppen wider, die von staatlicher Seite organisiert und trainiert wurden, damit sie zapatistische Sympathisanten angriffen. Diese Gruppen wurden derart straffrei gehalten, dass die Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die ihre Existenz Wochen schon vor dem Massaker von Acteal dokumentierten, ignoriert wurden. Im Gegenteil, die offizielle Reaktion auf das Massaker war nicht die Festnahme der intellektuellen Verantwortlichen dieses Verbrechens, sondern eine Verstärkung der Truppen in der chiapanekischen Region „Los Altos“, mit dem Argument, das sei nötig, um „Ordnung, Frieden und Gesetz wiederherzustellen“. Das heißt, es war derselbe Diskurs, den jetzt die Regierung auf Oaxaca anwendet. Es folgten die Angriffe auf die Autonomen Landkreise, die Abschiebung von Ausländern und die klientelistische Verwaltung der finanziellen Mittel des Bundeslandes und der medizinischen Versorgung. Wie wir in Chiapas gesehen haben, ist es unmöglich, in dieser „Normalität“ zu leben, die die Regierung gewaltsam zu erzwingen versucht hat. Die Militarisierung spaltet und polarisiert die Gemeinden und macht friedliche Lösungen immer unmöglicher.

Im Jahr 2001 vergaben sich sowohl die Regierung als auch sämtliche Parteien die Gelegenheit, die Vereinbarungen von San Andrés zu ratifizieren. Anstatt die indigene Autonomie als Recht in der Verfassung zu verankern, sprachen die Gesetzgeber den indigenen Völkern die rechtlichen Möglichkeiten ab, ihre Autonomie bezüglich der Nutzung ihrer Rohstoffe und Territorien auszuüben. Gleichzeitig warb die Regierung Fox für ihren Puebla-Panama-Plan (PPP), um die notwendige Infrastruktur (Autobahnen, Häfen und Flughäfen, Energieversorgung, Staudämme etc.) für Investoren zu schaffen, die an der Nutzung der natürlichen Rohstoffe, der billigen Arbeitskraft und der strategischen Lage im Südosten Mexikos interessiert waren. Dieses Modell dient den Gruppen, die an der Macht sind, nicht aber der Mehrheit der Bevölkerung. Der PPP stieß auf so viel Widerstand in Chiapas und Oaxaca, außerdem in San Salvador Atenco, dass die Regierung nicht weiter für ihren Plan Propaganda machte, obgleich sie etliche der Projekte weiter verfolgte. Nun verspricht Felipe Calderón, den PPP wieder zu beleben, was in einer ohnehin schon erschütterten Region noch mehr Konflikte schüren könnte. Die Gemeinsamkeit zwischen Chiapas, San Salvador Atenco und Oaxaca ist der Widerstand gegen einen aufgezwungenen Entwicklungsplan, der seinem Charakter nach ausschließend und unhaltbar ist und ohne die Beteiligung der davon direkt betroffenen Gemeinden formuliert wurde.

In diesen Tagen gibt es Proteste in Mexiko und im Ausland gegen die Repression. Am 30. Juni beispielsweise fanden in mehr als 15 US-amerikanischen Städten Proteste vor mexikanischen Konsulaten statt, und in Barcelona wurde die Botschaft besetzt. Die EZLN ihrerseits hat die Bevölkerung aufgerufen, am 1. und 20. November offen gegen die Repression zu protestierten. Diese Protestaktionen zeigen nicht nur die fehlende Demokratie in den Institutionen, sondern auch die große Ausdauer und Beharrlichkeit der sozialen Bewegungen im Kampf für ihre legitimen Forderungen.

Quelle: La Jornada