Quellenangabe:
Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen - 1993 bis 2006 (vom 28.03.2007),
URL: http://no-racism.net/article/2035/,
besucht am 27.12.2024
[28. Mar 2007]
Dokumentation einer Aussendung der Antirassistischen Initiative Berlin, die seit 1993 rassistische Übergriffe dokumentiert. Seither kamen durch staatliche Maßnahmen der BRD mindestens 351 Flüchtlinge und MigrantInnen ums Leben.
Die Zahl der Flüchtlinge, die in der BRD Asyl beantragten, war 2006 mit 21.000 die niedrigste seit 1983. Zugleich wurden bei 30.756 Entscheidungen des Bundesamtes nur 251 Personen als Asylberechtigte anerkannt (0,8 %). 1.097 (3,6 %) Menschen erhielten einen Abschiebeschutz nach § 60 Abs.1 des Aufenthaltsgesetzes.
Aber für 100 % der Flüchtlinge bedeutet der Aufenthalt in der BRD - egal, wie er endet - einen jahrelangen Kampf gegen den erklärten Grenzabschottungs- und Abschiebewillen des Staates. Ein Marathon, der aufgrund seiner zeitlichen Länge mittlerweile die Kinder und Kindeskinder der ursprünglich eingereisten Menschen betrifft. Ca. 300.000 Menschen leben in der BRD mit sogenannten Ketten-Duldungen oder Grenzübertrittsbescheinigungen in der ständigen Angst vor Abschiebung - z.T. seit eineinhalb Jahrzehnten oder länger.
Mit der Wahl des Begriffes "Freiwillige Ausreise" zum aktuellen UNWORT des Jahres 2006 wird der zynische Sprachgebrauch der PolitikerInnen und Behörden hervorgehoben. Ein verharmlosender Sprachgebrauch angesichts der eigentlichen Gewalt, der die Flüchtlinge staatlicherseits ausgesetzt sind. Eine Gewalt, die auf allen Ebenen das Ziel verfolgt, den Flüchtlingen die Unerreichbarkeit eines Bleiberechts deutlich zu machen, um sie so zur "freiwillen Ausreise" zu zwingen. Wenn die "Rechnung" nicht aufgeht, dann wird der Aufenthalt mit massivem Polizeieinsatz - oft unter Beteiligung sogenannter Abschiebeärzte - beendet.
Abgesehen von den überraschenden nächtlichen Abholungen aus den Wohnungen mit großem Aufgebot und deutlichen körperlichen Gewaltmaßnahmen, werden Menschen auch direkt bei Behördenterminen verhaftet oder aus ihren Betten in psychiatrischen Kliniken zur Abschiebung weggeschleppt. Einige Flüchtlinge werden zur Einnahme von Beruhigungsmitteln genötigt oder vor Injektionen gar nicht gefragt. Minderjährige Kinder werden durch die Abschiebung von Mutter oder Vater getrennt. Angesichts der drohenden Abschiebung und deren vorhersehbaren Folgen gehen viele Menschen in die Illegalität. Vordergründig haben sie sich dadurch zunächst dem Zugriff der Abschiebebehörden entzogen - die Festnahme der jetzt per Haftbefehl Gesuchten ist dann aber nur noch eine Frage der Zeit.
Und selbst die wenigen anerkannten Flüchtlinge sind sich ihres Lebens nicht sicher. Aufgrund von Auslieferungsersuchen - speziell der Türkei - wurden Menschen aus ihren Wohnungen geholt und in Untersuchungs- bzw. Auslieferungshaft genommen. Das sind Menschen, die aufgrund ihrer nachgewiesenen Folter- und Verfolgungserlebnisse nach Artikel 16a des Grundgesetzes Asyl bekamen und plötzlich durch die Festnahme in die akute Gefahr geraten, in den Verfolgerstaat ausgeliefert zu werden.
Die vorliegende Dokumentation beschreibt in fast 5000 Einzelgeschehnissen die Auswirkungen des staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus auf die Betroffenen. Auf Flüchtlinge, die gehofft hatten, in diesem Land Schutz und Sicherheit zu finden, und letztlich an diesem System zugrunde gingen oder zu Schaden kamen. Die jährlichen Zahlen der Dokumentation sind im Vergleich n i c h t sinkend, sondern bleiben konstant. Auszugehen ist von einer wesentlich höheren Dunkelziffer.
Die Dokumentation umfaßt den Zeitraum vom 1.1.1993 bis 31.12.2006.
170 Flüchtlinge starben auf dem Wege in die Bundesrepublik Deutschland oder an den Grenzen,
davon allein 127 an den deutschen Ost-Grenzen(*),
470 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, davon 290 an den deutschen Ost-Grenzen(*),
138 Flüchtlinge töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 50 Menschen in Abschiebehaft,
669 Flüchtlinge haben sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hungerstreiks) selbst verletzt oder versuchten, sich umzubringen, davon befanden sich 399 Menschen in Abschiebehaft,
5 Flüchtlinge starben während der Abschiebung und
327 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Mißhandlungen während der Abschiebung verletzt,
25 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode, und mindestens
411 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär mißhandelt und gefoltert
oder kamen aufgrund ihrer schweren Erkrankungen in Notsituationen,
67 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos,
13 Flüchtlinge starben bei abschiebe-unabhängigen Polizeimaßnahmen,
390 wurden durch Polizei oder Bewachungspersonal verletzt, davon 129 Flüchtlinge in Haft.
67 Menschen starben bei Bränden oder Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte,
744 Flüchtlinge wurden z.T. erheblich verletzt,
13 Menschen starben durch rassistische Angriffe auf der Straße.
Ein Fazit:
Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen 351 Flüchtlinge ums Leben -
durch rassistische Übergriffe oder bei Bränden in Unterkünften starben 80 Flüchtlinge.
* die Angaben für 2006 werden sich noch erhöhen, weil die offiziellen Zahlen des Bundesinnenministeriums noch nicht vorliegen.
"Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen"
1993 bis 2006 - 14. aktualisierte Auflage
Herausgeberin:
Antirassistische Initiative e.V.
>> Dokumentationsstelle <<
Haus Bethanien - Südflügel
Mariannenplatz 2 - 10997 Berlin
Fon: 0049 - (0)30 - 617 40 440
Fax: 0049 - (0)30 - 627 05 905
ari-berlin-dok (at) gmx.de
www.ari-berlin.org/doku/titel.htm
Die Dokumentation umfasst zwei Hefte. Beide Hefte zusammen kosten 15 Euro plus 3,20 Euro Porto & Verpackung.
HEFT 1 (1993 - 1999) 6 Euro für 174 S.
HEFT 2 (2000 - 2006) 10 Euro für 230 S.
plus je 1,60 Euro Porto & Verpackung.
Im Netz (zur Zeit noch die 13. Auflage) unter der Adresse: www.ari-berlin.org/doku/titel.htm
13. Februar 06
Abschiebegefängnis Berlin-Köpenick. Nachdem die Angestellten des Gefängnisses einem 63 Jahre alten Mazedonier die Aufenthaltskosten im Gefängnis (62 Euro pro Tag) präsentierten und ihm auch noch in Aussicht stellten, für die bevorstehende Abschiebung die Kosten tragen zu müssen, versucht sich der unter schweren Depressionen leidende Gefangene mit einem gerollten Bettlaken am Türgitter eines Toilettenraumes zu erhängen. Bedienstete finden ihn um 14.40 Uhr, heben ihn hoch und befreien ihn aus der Schlinge. Er wird notärztlich versorgt und kommt zur stationären Behandlung seiner Verletzungen ins Krankenhaus. Das Krankenzimmer wird von der Polizei bewacht.
Bereits bei seiner Festnahme war ihm alles Geld abgenommen worden. Seine Rückführung über Tschechien steht unmittelbar bevor.
Aus Protest und Empörung beginnen noch am gleichen Tag 14 Gefangene der zweiten Etage des Hauses 3 einen Hungerstreik - ab 0.30 Uhr tragen sie Matratzen auf die Flure, setzen sie in Brand und verbarrikadieren die Etage. Mehr als 100 Gefangene müssen wegen der gefährlichen Rauchgasentwicklung verlegt werden.
TS 14.2.06; BM 14.2.06; Welt 15.2.06; PNN 15.2.06; BM 16.2.06; BM 17.2.06; jW 20.2.06; JWB 22.2.06
24. Februar 06
Berlin-Wedding in der Bellermannstraße. Als zwei Zivilbeamte morgens um 7.15 Uhr an der Wohnung der Familie Barbul klingeln, um Herrn Zarko Barbul zur Abschiebung abzuholen, klettert der 32-Jährige in Panik aus dem Fenster der im dritten Stock gelegenen Wohnung. Er steht auf der äußeren Fensterbank und hält sich an einem Kabel einer Satelitenschüssel fest, als die Polizisten ihn laut rufend auffordern, in die Wohnung zurückzukehren. Dann bricht ein Stück Fensterbank herunter und Herr Badul stürzt 15 Meter in die Tiefe. Mit schweren Knochenbrüchen an beiden Beinen und am rechten Arm bleibt er im Hof liegen. Er kommt zur stationären Behandlung ins Virchow-Krankenhaus.
Der Rom Zarko Bardul war vor sieben Jahren mit seiner Frau und dem damals einjährigen Sohn in die BRD geflohen, weil er sich nicht an dem Krieg der serbischen Armee gegen das Kosovo beteiligen wollte. Ein Jahr später wurde ein zweiter Sohn geboren.
Herr Bardul ist Teilnehmer an dem sogenannten Equal-Projekt für Roma-Flüchtlinge "Novi Videi - Neue Perspektiven", einer vom Bundesministerium für Arbeit und der Europäischen Union geförderten Qualifikationsmaßnahme. Die Weisung der Innenverwaltung, dass die TeilnehmerInnen dieser Maßnahme bis zur Beendigung vor Abschiebung geschützt sein sollten, wurde vom Sachbearbeiter der Berliner Ausländerbehörde jedoch nicht angewandt.
südost Europa Kultur; Polizei Berlin 24.2.06; ND 27.2.06; TS 23.3.06
23. März 06
Bundesland Brandenburg. Als der Kenianer Joseph M. einer Vorladung bei der Ausländerbehörde Frankfurt (Oder) nachkommt, wird ihm mitgeteilt, dass er - aufgrund seines abgelehnten Asylantrages - sofort abgeschoben wird. Nach einer kurzen Unterredung mit seiner Verlobten geht er auf die Toilette, läuft los und springt dort durch das geschlossene Fenster. Der 30-Jährige stürzt eine Etage hinab, und durch den Aufprall auf den betonierten Boden zieht er sich so schwere Verletzungen zu, dass er umgehend ins Klinikum Markendorf eingeliefert werden muss.
Joseph M., der im Jahre 1999 in die BRD geflohen war und hier Asyl beantragt hatte, versuchte seit längerer Zeit, seine Verlobte zu heiraten, und hätte, wenn nicht immer wieder "bürokratische Hürden" aufgebaut worden wären, schon aufgrund der Heirat mit einer deutschen Staatsangehörigen einen sicheren Aufenthalt. Zuletzt fehlte für das Standesamt eine schriftliche Bestätigung der Gültigkeit des Reisepasses, obwohl die Ausländerbehörde diesen bereits als gültig anerkannt hatte.
Jetzt bezahlt der 30-Jährige die Flucht vor der Abschiebung nach Kenia mit einer Querschnittslähmung. Erst nach diesem Drama erklärt der Oberbürgermeister von Frankfurt, Martin Patzelt (CDU): "Ich werde ihm aus humanitären Gründen ein Bleiberecht in Frankfurt gewähren." Dann weist er darauf hin, dass die letzte rechtliche Prüfung noch nicht abgeschlossen ist und dass eine Aufenthaltserlaubnis ausländerrechtlich begründet sein muss.
WB 24.3.06; BM 25.3.06; taz 25.3.06; Ausländerbeirat FFO 30.3.06; BeZ 31.3.06; UK 31.3.06; Robin Kendon - Bündnis90/Die Grünen 6.5.06
4. Mai 06
Bundesland Hessen. Der kurdische Flüchtling und abgelehnte Asylbewerber M. Ö. wird zusammen mit seiner schwangeren Frau und zehn Kindern in die Türkei abgeschoben. Fünf deutsche Polizeibeamte in Zivil begleiten sie auf dem Flug nach Istanbul.
Nach der Ankunft am frühen Nachmittag wird die Familie der türkischen Flughafenpolizei übergeben. Ein Verhör der Eltern - getrennt voneinander - schließt sich an. Der Inhalt der Fragen konzentriert sich auf den Grund ihres Aufenthaltes und ihre politischen Aktivitäten in Deutschland.
Nach der Freilassung gehen alle in Richtung Busbahnhof, um von dort in ihren Heimatdorf zu fahren. Ein PKW hält an, und zwei Männer in Zivil steigen aus. Mit den Worten: "Wir sind mit Dir noch nicht fertig" packen sie ihn, schleppen ihn in ihren Wagen und fahren fort. Seither ist Herr Ö. verschwunden. Auch im Februar 2007 gibt es keinerlei Lebenszeichen von ihm.
Die Eheleute Ö. waren im Jahre 1992 in die BRD geflohen, weil sie ins Visier der türkischen Verfolgungsorgane geraten waren. Drei Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland wurde ihr erstes Kind geboren.
Antirassistische Initiative Berlin
8. Mai 06
Im Neusser Johanna-Etienne-Krankenhaus erliegt in den Morgenstunden eine 57 Jahre alte Chinesin ihren Verletzungen. Sie hatte sich einen Tag zuvor in den Nachmittagsstunden in der Abschiebehaftanstalt Neuss erhängt und war dann von einem Notarzt reanimiert worden.
Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren 10.6.06
1. August 06
Bundesland Brandenburg. Um 23.30 Uhr kommt ein vollbesetzter 3er BMW mit 180 Stundenkilometern in einer Linkskurve kurz vor Dannenreich von der Straße ab und rast in drei Bäume hinein. Der Wagen wird durch den Aufprall zerrissen und fängt Feuer. Direkt am Unfallort sterben vier Flüchtlinge. Es sind die Frauen Thi N. (23), Thi N. (39) und die Männer Duc N. (24) und Van N. (29). Zudem kommt der 48 Jahre alte vietnamesische Fahrer, Herr Van N., zu Tode. Im Krankenhaus erliegt ein 31 Jahre alter Mitfahrer aus Tschechien seinen Verletzungen.
Die 36 Jahre alte Vietnamesin Thi H. überlebt mit schwersten Verletzungen, die durch die immense Erschütterung ihres Körpers infolge des Aufpralls entstanden sind. Sie hatte sich zum Zeitpunkt des Aufpralls hockend im Fußraum des Wagens befunden. Sie kommt auf die Intensiv-Station des Cottbusser Krankenhauses. Ihr Mitfahrer Xuang C. - ebenfalls schwerstverletzt - wird ins Krankenhaus von Bad Saarow transportiert. Herr C. hat diverse Verletzungen der inneren Organe und muss mehrmals operiert werden.
Es stellt sich schnell heraus, dass es sich bei dem Unfall um das Ende einer polizeilichen Verfolgungsjagd handelt, einer Maßnahme, die unter der Führung der Bundespolizei innerhalb eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Leipzig gegen einen 48 Jahre alten Vietnamesen aus Leipzig durchgeführt wird. Die Ermittlungen gegen diesen Mann, der auch bei dem Unfall ums Leben kommt, werden wegen des Verdachtes auf Fluchthilfe seit zwei Monaten geführt.
Die Bundespolizei hatte einen Transporter mit vietnamesischen Flüchtlingen bereits ab der tschechischen Grenze beobachtet und zunächst über die Autobahn A13 verfolgt. Bei der Abfahrt Ragow in Brandenburg stiegen mindestens sechs Personen in einen BMW, der dann in Richtung Berlin weiterfuhr. Als die Bundespolizei versuchte, den mit insgesamt acht Personen völlig überladenen BMW zu stoppen, konnte der Fahrer ausweichen und durch zunehmende Geschwindigkeit zunächst flüchten, wurde aber weiter verfolgt. Zwölf Minuten später kam es kurz vor der Ortschaft Dannenreich zu dem folgenschweren Unfall.
Nach sechs und sieben Wochen Krankenhaus-Aufenthalt können die beiden Überlebenden des Unfalles die Krankenhäuser verlassen. Durch Intervention ihrer Rechtsanwältinnen kann ihnen ein längerer Aufenthalt in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt (ZAST) erspart bleiben, und sie kommen gemeinsam in einem Heim in der Nähe von Berlin unter.
FRat Brbg; Antirassistische Initiative Berlin
11. August 06
Flughafen Frankfurt am Main. Es ist der dritte Abschiebeversuch für den 20 Jahre alten Kurden Serif Akbulut. Er ist mit Klettbändern so stark gefesselt, dass seine Hände schmerzen und blau angelaufen sind. Wie bei den vorherigen Abschiebungsversuchen wehrt er sich, indem er um Hilfe ruft und laut protestiert. Der Pilot der Lufthansa-Maschine sagt ihm, dass er ihn trotz des Protestes ausfliegen wird. Áls Serif Akbulut sich weigert, sich zu setzen, wird er von Beamten der Bundespolizei geschlagen und schließlich wieder aus dem Flugzeug herausgebracht. Mit Hämatomen am Hals und an den Fingern kommt er zurück in die JVA Wiesbaden.
Wegen Verfolgung und Folter waren seine Eltern mit ihrem damals 12-jährigen Sohn Serif aus der Türkei geflohen und hatten in der BRD Asylanträge gestellt. Fatma Akbulut ist schwer traumatisiert - ihr Mann leidet unter schwerem Asthma. Beide sind arbeitsunfähig; ihr Sohn Serif hat sich seit seinem 15. Lebensjahr intensiv um sie gekümmert und sämtliche Belange der Familie geregelt.
Am 7. Juli morgens um 6.30 Uhr war Serif Akbulut Zuhause in Schlüchtern abgeholt worden und befand sich um 11.45 Uhr bereits in einer Maschine der Turkish Airlines. Er wehrte sich, woraufhin sich der Pilot weigerte, ihn mitzunehmen. Serif Akbulut kam in die JVA Preungesheim in Abschiebehaft.
Am 15. Juli brach seine Mutter aufgrund der Inhaftierung ihres Sohnes und aufgrund der Abschiebedrohung gegen sie selbst mehrmals zusammen und kam in eine Klinik. Als sie zwei Tage später Polizisten auf den Gängen sah, bekam sie weitere Panikattacken und floh aus der Klinik.
Auch bei dem zweiten Abschiebeversuch am 8. August war es Serif Akbulut gelungen, den Piloten der slowenischen Adria Air zu überzeugen, dass er nicht mitfliegen will. Er kam zurück in Haft - diesmal in die JVA Wiesbaden.
Die Unterstützung für die Familie Akbulut war groß. Mit Demonstrationen, Petitionen und Offenen Briefen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und vieler Einzelpersonen wurde mit zunehmender Intensität ein Bleiberecht für die Familie gefordert. Dies blieb erfolglos.
Dass der vierte Anlauf, Serif Akbulut abzuschieben, den Behörden gelingt, liegt an dem unumstößlichen Abschiebewillen der Verantwortlichen, die weder Geld noch Mühen scheuen. Am 5. September wird Serif Akbulut zum Flughafen Leipzig/Halle geschafft und dort in ein Kleinflugzeug der FSH Luftfahrtunternehmen GmbH in Schkeuditz gebracht. Der 20-Jährige ist mit einer Spezialfesselung verschnürt und wird von zwei mitfliegenden Bundespolizisten und einem Arzt bewacht. Um 11.30 Uhr startet die Maschine in Richtung Türkei.
Bündnis für Bleiberecht Hanau; KiN 8.7.06; NRhZ 12.7.06 FR 13.7.06; KiN 15.7.06; NRhZ 18.7.06; FR 19.7.06; KiN 19.7.06; KiN 22.7.06; KiN 27.7.06; FR 28.7.06; FR 2.8.06; KiN 3.8.06; KiN 10.8.06; KiN 11.8.06; KiN 12.8.06; KiN 15.8.06; KiN 24.8.06; KiN 26.8.06; KiN 30.8.06; jW 30.8.06; FRat Hessen 5.9.06; HR-online 5.9.06; FR 5.9.06; KiN 5.9.06; indymedia 5.9.06; hr-online 5.9.06; FR 6.9.06; Main-Echo 6.9.06; KiN 6.9.06
13. August 06
In der Abschiebezelle des Flughafens München rammt der 36-jährige Chinese Xiang Zhong Chen mit voller Wucht seinen Kopf gegen die Wand, um sich umzubringen. Er zieht sich dadurch schwere Kopfverletzungen zu.
Der inzwischen endgültig abgelehnte Asylbewerber war vor 12 Jahren in die BRD gekommen und hatte die letzten Jahre in Hof gelebt. Seine Lebensgefährtin ist im sechsten Monat schwanger.
Am 27. September lehnt auch der Petitionsausschuß des Bayerischen Landtages einen Aufenthalt ab. Seine Freundin, die ihn in Abschiebehaft besuchte, sagt: "Er ist weiter bereit, sich lieber umzubringen als nach China zurückzugehen."
Hamburger Initiativenzeitung 17.8.06; FrP 28.9.06; JWB 4.10.06
23. August 06
Frankfurt am Main. Der 36 Jahre alte Yusuf Karaca wird nach einem 90-tägigen Hungerstreik aus der Haft entlassen. Er kommt umgehend in das Universitätsklinikum zur lebensrettenden Behandlung. Einen Tag zuvor hatte sich das Oberlandesgericht Frankfurt gegen eine Auslieferung des Mannes ausgesprochen.
Yusuf Karaca ist anerkannter politischer Flüchtling aus der Türkei. Er wurde aufgrund eines Auslieferungsbegehrens der Türkei am 2. Mai in deutsche Auslieferungshaft genommen.
Am 23. Mai bestätigt das Oberlandesgericht die weitere Haft mit der Fluchtgefahr des Gefangenen. Bemerkenswert ist die Begründung des Gerichts, denn gerade die von Yusuf Karaca angeführte Angst vor Folter, die er tatsächlich jahrelang erleiden musste und aufgrund derer er als Asylberechtigter anerkannt wurde, sei der "Anreiz" für ihn, sich einer Auslieferung durch Flucht zu entziehen. Das Gericht fordert zudem die Zusicherung des türkischen Staates, dass Herr Karaca seine Reststrafe in der Türkei (20 Jahre) in einem Gefängnis des Typs F fortsetzt und dass die Deutsche Botschaft Gelegenheit erhält, den Inhaftierten aufzusuchen und sich über die konkreten Haftbedingungen zu informieren.
Yusuf Karaca beginnt jetzt einen unbefristeten Hungerstreik mit der Forderung nach seiner sofortigen Freilassung. Mitte Juli wird er vom Gefängnis Weiterstadt in die Krankenabteilung der JVA Kassel gebracht. Der Gefangene hat über 25 kg Körpergewicht verloren, die Gefängnisärzte halten ihn jedoch weiterhin für haftfähig, weil er gesüßte Flüssigkeit zu sich nehme.
Aufgrund eines durch Folter erpreßten Geständnisses war Yusuf Karaca in der Türkei wegen Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden. In Haft war er unzählige Male mit Elektroschocks an den Geschlechtsorganen, der Zunge und den Ohren gequält worden. Mehrmals wurde er am "Palästinensischen Haken" aufgehängt, mehrere Tage musste er ohne Schlaf und nackt an kalten Stellen verbringen, ihm wurde der Kopf unter Wasser gehalten, nachdem ihm die Folterer die Nasenlöcher zugestopft hatten. Er wurde zu einsamen Orten gebracht und mit dem Tode bedroht. Ihm wurde angedroht, dass auch seine Familienangehörigen festgenommen und gefoltert werden würden. Er befand sich während seiner Haft auch in einem Gefängnis des Typs F. Als er am sogenannten Todesfasten teilnahm und seine Haft für medizinische Maßnahmen unterbrochen wurde (Wenicke-Karsakow-Syndrom), gelang ihm nach 10 Jahren Gefangenschaft die Flucht aus der Türkei in die BRD. Am 28. September 2005 war er als politischer Flüchtling anerkannt worden.
Als Herr Karaca Ende August das Krankenhaus verläßt, ist seine "amtliche" Existenz in der BRD bereits gelöscht: seine Wohnung in Hanau ist gekündigt, und krankenversichert ist er auch nicht mehr. Das Krankenhaus, das ihn nach dem 90-tägigen Hungerstreik medizinisch versorgte, fordert die Kosten von ihm. Herr Karaca, ohnehin durch die letzten Monate psychisch schwer angeschlagen, kommt in eine schwere depressive Krise. "Diese Situation kostet mehr Kraft, als 90 Tage Hungerstreik", sagt er.
Pro Asyl 6.6.06; FR 8.6.06; FR 9.6.06; taz 10.6.06; FR 1.8.06; FR 4.8.06; HNA 9.8.06; Bericht eines Freundes
13. September 06
Bundesland Nordrhein-Westfalen. Im Flüchtlingsheim in der Kölner Vorgebirgstraße erscheinen Polizeibeamte und durchsuchen die Wohnung der Roma-Familie S. Als sie dabei den Reisepaß von Herrn S. finden, erklären sie ihm, dass er jetzt abgeschoben wird. Herr S. gerät in Panik, weil er denkt, dass er sofort in Abschiebehaft kommt und von seiner Frau und seinen acht Kindern (1½ bis 17 Jahre alt) getrennt wird. Einer der Polizisten höhnt: "So, jetzt geht's ab nach Jugoslawien" und holt die Handschellen heraus. In Panik springt Herr S. aus dem Fenster der im zweiten Stock gelegenen Wohnung. Bei dem Sturz aus vier Metern Höhe fällt er auf die Betoneinfassung eines Gitterfensters zum Keller an der Stirnseite des Hauses. Er bricht sich beide Schienbeine und verletzt sich an der Schulter. Obwohl aus seiner Hose zwei gesplitterte Knochen herausragen und er offensichtlich bewegungsunfähig ist, traktieren ihn die heruntergeeilten Polizisten zunächst mit Pfefferspray und treten mindestens einmal auf ihn ein. Der Schwerverletzte brüllt vor Schmerzen.
Herr S. kommt ins Universitätskrankenhaus und wird umgehend operiert. Nach vierwöchiger Behandlung erfolgt seine Verlegung ins Gefängniskrankenhaus Fröndenberg.
Am 18. Januar 2007 soll er - noch im Rollstuhl sitzend - ohne seine Familie nach Montenegro abgeschoben werden. Die Abschiebung an diesem Tag kann dadurch verhindert werden, dass die Familie einen "Teilerfolg" aushandelt. Sie erklärt sich bereit, "freiwillig" auszureisen, wenn sie erstens zusammenbleiben kann und zweitens Herr S. weitgehend gesund geworden ist. In Montenegro hätte Herr S. als Rom keine Chance auf eine medizinische Versorgung, und die schulische Ausbildung der Kinder würde abrupt unterbrochen. Die Abschiebung wird um einige Monate verschoben.
Rundbrief des Rom e.V. Nr.2 (September 2006); Rom e.V. 18.1.07
19. September 06
Die togoische Familie Kpakou aus dem Marburger Vorort Cölbe in Mittelhessen soll nach 13-jährigem Deutschland-Aufenthalt abgeschoben werden. Bei dieser Maßnahme wird die Familie von der Behörde gewaltsam und beabsichtigt getrennt.
Der Vater, Christopher Kpakou, wird mit vier volljährigen und zwei minderjährigen Kindern nach Hamburg gebracht, wo eine Sammelabschiebung von Flüchtlingen aus verschiedenen europäischen Ländern nach Westafrika vorbereitet wird. Die Mutter mit dem jüngsten, 6-jährigen Sohn Panajotis, einer 22-jährigen Tochter und deren 2-jährigem Kleinkind Naomi werden zu einem Linienflug nach Frankfurt transportiert.
Während ein Arzt die Abschiebung des unter akutem Bluthochdruck leidenden Vaters in Hamburg aus gesundheitlichen Gründen stoppt, erfolgt die Abschiebung der Kinder nach Togo ungebremst. Sie sind damit endgültig von ihren beiden Eltern getrennt.
Der Widerstand, den Frau Kpakou und ihre erwachsene Tochter am Flughafen Frankfurt den Bundespolizisten entgegensetzen, veranlaßt den Piloten der Linienmaschine, ihre Mitnahme zu verweigern. Die Frauen kommen in Abschiebehaft, die Kinder zunächst in ein Kinderheim - später in eine Pflegefamilie.
Die abgeschobenen Kinder berichten, dass sie bei einem Freund ihres Vaters, einem 73-jährigen Mann in einem 15 qm großen Zimmer untergekommen sind, wo sie mit fünf Erwachsenen leben.
Herr Kpakou unternimmt in seiner Verzweiflung am 26. September einen Selbsttötungsversuch, bei dem er sich an Kopf und Bauch Verletzungen zufügt. Er kommt daraufhin in stationäre Behandlung der Psychiatrie der Universitätsklinik Marburg.
Am 2. Oktober um 5.30 Uhr werden der 6-jährige Sohn von Frau Kpakou und die 2-jährige Enkelin von drei Beamten aus der Pflegefamilie abgeholt und zum Frankfurter Flughafen gebracht. Hier begegnen sie ihren Müttern wieder, die - beide in Handschellen - direkt aus der Abschiebehaft kommen. Um 8.00 Uhr hebt eine offenbar ausschließlich für die vier Personen gecharterte Maschine vom Rhein-Main-Flughafen in Richtung Lomé ab.
In Deutschland bleibt einzig der Vater, der nach seinem Suizidversuch nicht reisefähig ist.
OP 19.9.06; OP 20.9.06; OP 21.9.06; OP 22.9.06; OP 25.9.06; MNZ 25.9.06; Pro Asyl 27.9.06; ngo-online 27.9.06; MNZ 28.9.06; OP 28,9,06; OP 4.10.06; GA 4.10.06
14. Dezember 06
Der 31 Jahre alte Kurde A. A. wird festgenommen und in einem beschleunigten Verfahren zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Die Haft im Gießener Gefängnis wird wahrscheinlich durch eine Abschiebung in drei Monaten beendet werden. Damit ist es Herrn A. wieder einmal nicht gelungen, mit seiner Frau und den vier Kindern zusammenzuleben.
Die Eheleute M. (damals 16 Jahre alt) und A. A. (damals 18 Jahre alt) gehören der Gruppe der Zaza-Kurden an und waren 1993 mit ihrer damals einjährigen Tochter F. in die BRD eingereist. Da sie nur nach religiösem Ritus geheiratet hatten, wurden die Asylanträge gesondert behandelt.
Nach der Ablehnung seines Asylantrages wurde Herr A. dann im Jahre 1997 ohne seine Familie in die Türkei abgeschoben. Dort erfolgte umgehend seine Festnahme, und nach einer dreitägigen polizeilichen Überprüfung in Haft wurde er frei gelassen. Er war dann gezwungen, seinen zweijährigen Militärdienst abzuleisten. 1999 gelang ihm erneut die Flucht in die BRD - er wurde dann allerdings am 16. Februar 2001 wieder in die Türkei abgeschoben, während seine Frau und die Kinder inzwischen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erwirkt hatten.
Viele Versuche von Herrn A., im Rahmen der Familienzusammenführung offiziell in die BRD reisen zu können, scheiterten an den immer wieder ablehnenden und unterschiedlich begründeten Bescheiden der Deutschen Botschaft in Ankara.
Der vorerst letzte Versuch, mit seiner Frau und der vierzehnjährigen Tochter F., dem neunjährigen Sohn F. und den sechsjährigen Zwillingen S. und F. zusammenleben zu können, endet heute mit seiner Verhaftung. Vor einer Woche war er erneut in die BRD eingereist.
Im Januar 07 befindet er sich immer noch in Untersuchungshaft in der JVA Limburg.
Jugendnetz Wetzlar
20. Dezember 06
Bad Pyrmont im Bundesland Niedersachsen. Morgens um 4.00 Uhr werden der Kurde Herr Seyyar und seine sechs Kinder im Alter von zehn bis zwanzig Jahren aus dem Schlaf geweckt. Alle, bis auf den ältesten Sohn Hidir, sollen abgeschoben werden. Zeitgleich holen Polizisten Frau Seyyar aus dem Landeskrankenhaus Hildesheim ab, nachdem sie vor die Entscheidung gestellt wurde, entweder vorerst im Krankenhaus zu bleiben und damit von ihrer Familie getrennt zu sein oder "freiwillig" auszureisen.
Der Transport der Familie zum Flughafen Düsseldorf verläuft nach Aussagen des Sohnes Hidir "unglaublich brutal": trotz Erbrechens von Mutter und Kindern und hygienischer Bedürfnisse sei die fünfstündige Fahrt nicht unterbrochen worden. Die Mutter sei mit Handschellen gefesselt worden, um sie ins Flugzeug zu bringen.
Frau Seyyar hatte sich im Landeskrankenhaus in stationärer Behandlung befunden, weil sie zum wiederholten Male versucht hatte, sich zu töten. Sie hatte Tabletten geschluckt, weil sie den Druck der seit langem angedrohten Abschiebung nicht ertragen konnte. Der von Nachbarn gerufene Notarzt hatte daraufhin zunächst die Einlieferung der nicht ansprechbaren Frau ins St.-Georg-Krankenhaus Pyrmont veranlaßt, von wo aus sie dann ins Landeskrankenhaus gekommen war.
Die kurdische Familie war seit elf Jahren in der BRD; die Asylanträge wurden alle abgelehnt. Der Landkreis kann die öffentliche Kritik an der Abschiebung der Familie Seyyar nicht nachvollziehen: "Der Familie war seit Juli bekannt, dass sie Deutschland verlassen muss .... Dieser Aufforderung ist sie nicht nachgekommen", so eine Sprecher auf Anfrage. "Anders als ihr ältester Sohn Hidir hat die Familie die elf Jahre ihres Aufenthaltes in Deutschland nicht genutzt, um sich hier wirtschaftlich und sozial zu integrieren." Dieser Polemik stehen die Aussagen vom Leiter des Schulzentrums und einer Mitarbeiterin des Kinderschutzbundes, die die Kinder und Eltern seit Jahren kennen, diametral gegenüber.
PyN 28.12.2006; FRat NieSa
ANTIRASSISTISCHE INITIATIVE E.V.
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