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Quellenangabe:
Go West ... Arbeits- und Transitmigration aus und über Transkarpatien in der Ukraine (vom 15.07.2007),
URL: http://no-racism.net/article/2200/, besucht am 20.11.2024

[15. Jul 2007]

Go West ... Arbeits- und Transitmigration aus und über Transkarpatien in der Ukraine

Der folgende Bericht geht auf die soziale Lage der Bevölkerung in Transkarpatien ein und beschreibt, auf welche Bedingungen "TransitmigrantInnen" stoßen. Viele werden in Lagern wie in Pavshino (Männer) oder Mukachevo (Frauen und Kinder) festgehalten.

Ushgorod, eine Stadt mit rund 125.000 Einwohnerinnen (1), liegt im ukrainischen Transkarpatien, unmittelbar an der ostwärts vorverlagerten EU-Außengrenze der Slowakei und Ungarns. Für die AbwehrexpertInnen von Frontex (2) insofern eine ihrer bedeutenden "Problemzonen für illegale Einwanderung". Ein Brennpunkt der Migration ist Transkarpatien jedenfalls im doppelten Sinne: Herkunftsregion zehntausender ukrainischer WanderarbeiterInnen und Transitstation für zahllose Flüchtlinge und MigrantInnen aus Ländern des globalen Südens.

Das Gefälle ist unübersehbar: Sichtbare Zeichen massiver Armut finden sich zwar auch in den östlichen Regionen Ungarns, doch hinter dem Grenzübergang in die Ukraine geht es eindeutig nochmal eine ziemliche Stufe runter. Der Zustand der meisten Häuser oder die Kleidung vieler Menschen lässt ahnen, dass das monatliche Durchschnittseinkommen häufig keine 70, selten 120 Euro und manchmal 150 Euro übersteigt. Letzteres verdienen vielleicht diejenigen, die einen Arbeitsplatz in der (noch?) spärlichen Maquiladora (3) gefunden haben: Im Skoda/VW-Werk direkt hinter der Grenze in Chop, oder einige Kilometer weiter am Stadteingang zu Ushgorod beim japanisch-amerikanischen Autozulieferer Yazaki. Diese verlängerten Werkbänke erscheinen als Ausläufer der in den letzten Jahren zunehmend nach Osteuropa (4) verlagerten Automobilproduktion.

Hier in Transkarpatien, also kurz hinter der EU-Grenze, hoffen einige global Player offensichtlich auf ein längerfristiges
Niedriglohnparadies, und zweifellos hat der Spruch Geltung: "Es ist schlimm, von einem transnationalen Konzern ausgebeutet zu werden, aber es ist (oft) schlimmer, nicht von einem solchen Konzern ausgebeutet zu werden".

Denn die Menschen der Region haben wenig Alternativen: Schon zu Zeiten der Sowjetunion gab es wenig Industrie, die landwirtschaftlichen Möglichkeiten sind durch die Karpaten begrenzt, Tourismus ist noch wenig entwickelt. Viele haben keine andere Wahl als sich durchzuschlagen mit Kleinhandel oder Benzinschmuggel (5). Oder eben auszuwandern: Nach Tschechien oder Russland, nach Portugal oder in die USA (6), sei es als SaisonarbeiterIn oder Au-Pair für einige Monate oder als Bauarbeiter oder Haushaltshilfe für einige Jahre. Und viele kommen dann gar nicht mehr zurück oder allenfalls auf Besuch zu den wichtigen Feiertagen.

Über 40 % der arbeitsfähigen Bevölkerung Transkarpatiens ist temporär oder dauerhaft auswärts beschäftigt. In früheren Jahren waren es vor allem die Männer, die sich auf den Weg machten. Heute sind es gleichermaßen Frauen. Zwar werden Visa für die Ausreise Richtung Westen immer teurer, doch sie lassen sich (noch) organisieren und die illegale Grenzüberschreitung für UkrainerInnen bleibt insofern die Ausnahme. Doch diese TouristInnenvisa gelten maximal 3 Monate und berechtigen nicht zur Arbeitsaufnahme. Job und Geldverdienen sind somit in aller Regel von Anfang an "illegal" und der Aufenthalt als "OverstayerIn" (7) wird es dann oft ebenfalls. Doch in diversen Legalisierungskampagnen der letzten Jahre in Südeuropa (8) konnten auch viele UkrainerInnen einen regulären Aufenthaltsstatus erlangen, der jedoch immer an Bedingungen geknüpft wurde, in aller erster Linie an den Arbeitsplatz. Denn überall in Europa sind fügsame ArbeiterInnen für die verschiedenen Niedriglohnsektoren (9) gefragt. Umso erstaunlicher, dass die ArbeitsmigrantInnen trotz dieser ausbeuterischen Umstände jeden Monat immense Geldsummen an ihre Familienangehörigen schicken, auch in die Ukraine und insbesondere in Transkarpatien.(10)

Wie in vielen Ländern am unteren Ende des globalen Lohngefälles sind diese Rücküberweisungen, die Remisen, zu einem zentralen Einkommensfaktor geworden. Das macht sich nicht nur an den immer zahlreicher werdenden Western Union-Büros (11) bemerkbar, sondern daran, wie diese Ersparnisse aus der Wanderarbeit neue Möglichkeiten schaffen: Die Einrichtung eines Ladens oder den Kauf eines Taxis, die Renovierung des Hauses oder die Anschaffung teurer Konsumgüter wie z.B. Autos, oder auch die ansonsten kaum zu finanzierende Ausbildung der Kinder.

Die nahe Grenze zur EU eröffnet nicht wenigen Menschen in einer der ärmsten Regionen der Ukraine noch eine andere Einkommensmöglichkeit. Heimliche Grenzüberschreitung ist stark gefragt, das angeblich mafiös strukturierte Geschäft bietet Jobs bei der vorübergehenden Unterbringung wie auch beim Transport der TransitmigrantInnen, die vor allem aus angrenzenden Ländern wie Moldawien, aus Südostasien oder Afrika kommen. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass das für die Grenzüberwachung zuständige Militär hochgradig in solche Geschäfte verwickelt ist. Es liegt im besonderen Interesse der EU, dass schon die ukrainischen Grenzsoldaten möglichst viele der heimlichen GrenzgängerInnen abfangen - als östlicher Pufferstaat vergleichbar mit Marokko an der EU-Südgrenze. Und mit viel Geld, politischem Druck sowie der tätigen Beihilfe internationaler Organisationen (12) wird seit Jahren alles dafür getan, die ukrainischen Behörden zum effizienten Erfüllungsgehilfen des EU-Migrationsregimes aufzubauen. Dieses Ziel trifft sich mit (und widerspricht gleichzeitig) einem Eigeninteresse in der ukrainischen Grenzarmee. Es soll niemand durchkommen, die/der nicht extra gezahlt hat, und ohne Bestechungsgelder scheint in der Tat kaum eineR durchzukommen. Umgekehrt: Wer genügend Geld hat und "Reiseagenturen" mit guten Kontakten findet, dürfte an der ukrainischen Grenze kaum scheitern. 2003 kam es zu einem beispielhaften Skandal, als öffentlich wurde, dass ausgerechnet ein Gefangenenbus der Grenzarmee für einen Transport Richtung grüner Grenze der Slowakei genutzt wurde. Die Reisegruppe hatte offensichtlich gut gezahlt.

Aber auf der Strecke bleiben zunächst diejenigen, die nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügen. Und das sind zunehmend mehr Flüchtlinge, die beim "Survival of the Fittest" nicht mithalten können. Im Sommer 2004 trafen wir in Ushgorod eine palästinensische Großfamilie, die alle Torturen miterlebt hatte. Von "Schleppern" irgendwo im Wald ausgesetzt und um ihr Geld gebracht. Dann von der Grenzpolizei geschnappt und schließlich über 5 Monate festgesetzt: Die Frauen in einem Lager in Mukachevo, die Männer im mittlerweile berühmt berüchtigten Abschiebegefängnis Pavshino. (13) Ein militarisiertes Hungerlager, in dem damals ca. 250 Männer eingesperrt waren, die meisten aus Südsostasien, aber auch einige aus Afrika. Mehrmals am Tag zum Appell und Durchzählen antreten, miesestes Essen, kein Strom, Massenschlafsäle und immer der Willkür der Soldaten ausgeliefert. Und an dieser Situation hat sich in Pavshino offensichtlich bis heute nur wenig verbessert (14).

Das Gefängnis in Pavshino findet sich mitten im Wald. Nur einmal in den 5 Monaten ihrer Haft, so berichteten die palästinensischen Männer, konnten 3 Chinesen entfliehen. Sie hatten aus der Küche einen Tunnel gegraben. Ansonsten gibt es kein Entkommen, es sei denn, der Asylantrag wird irgendwann nicht nur entgegengenommen sondern auch bearbeitet und ernstgenommen. Damals, 2004, war dies fast nur auf Intervention des UNHCR möglich. Heute kommen immerhin mehrmals die Woche Anwälte ins Lager. Sie unterstützen die Inhaftierten beim Schreiben von Anträgen und leiten diese an die zuständigen Behörden weiter.

Pavshino ist das Auffang- und Abschiebelager für einen großen Teil der Migranten und Flüchtinge, die an der Grenze aufgeriffen werden. Sei es noch auf der ukrainischen oder auch schon auf der slowakischen Seite. Offiziell gilt hier eine 15-km-Grenzzone. Wer dort festgenommen wird, kann entsprechend des Rücknahmeabkommens aus der Slowakei in die Ukraine zurückgeschickt werden. Doch der slowakische Grenzschutz erscheint wenig zimperlich und transportiert bisweilen auch Menschen zurück, die ihnen viel weiter weg bei Kontrollen oder Razzien in die Hände fallen. Wer kann das schon überprüfen?!

Die Festgenommenen bzw. Zurückgeschickten kommen zunächst in den Grenzort Chop, in ein mittlerweile mit EU-Geldern frisch renoviertes Gefängnis direkt an der Grenze. Eine zunehmende Zahl heimlicher GrenzgängerInnen stammt aus Moldawien oder Tschetschenien, und weil diese als BürgerInnen früherer Sowjetrepubliken in der Ukraine visumfrei reisen können, werden sie nach maximal 10 Tagen mit einer Strafzettel in der Tasche wieder ausgesetzt. Sie sollen innerhalb von 15 Tagen selbständig zurückreisen, bei einem erneuten Aufgriff droht jedoch längere Inhaftierung. Tschetschenische Flüchtlinge sollen allerdings des öfteren mit dem Zug auch bis nach Russland abgeschoben bzw. ausgeliefert worden sein (15). Nichtsdestotrotz versuchen und schaffen es viele beim 2ten oder 3ten Mal. Das Risiko wird in kauf genommen, um sich im Westen als WanderarbeiterIn zu verdingen und in einigen Monaten zu verdienen, was zuhause einiger Jahre bedarf.

Wer aus anderen Ländern des globalen Südens kommt und an dieser letzten Grenze zur EU scheitert, wird zwar ebenfalls kurz nach Chop verbracht. Nach ein paar Tagen heißt die vorläufige Endstation aber Pavshino. Aus China, Indien oder Vietnam, aus Bangladesh und Afghanistan, aus Palästina und Irak oder auch aus Somalia: ca. 400 Menschen werden hier aktuell und quasi im Auftrag der EU interniert. Bis zu 6 Monaten Abschiebehaft ist angesagt, sozusagen der deutsche Standard. Und wessen Pässe die ukrainischen Behörden bis dahin von den jeweiligen Botschaften ausgestellt bekommen, wird dann auch abgeschoben. Die Verbliebenen werden wieder "ausgespuckt", wie die palästinensische Familie, die dann auf neues Geld von Angehörigen und FreundInnen angewiesen war, um offensichtlich erfolgreich einen neuen Versuch in Richtung des westeuropäischen Ziellandes zu unternehmen.

Ca. 5000 Personen wurden nach offiziellen Angaben jeweils in den Jahren 2005 und 2006 an diesem Teil der ukrainischen Grenze festgenommen. Doch geschätzt wird, dass dies allenfalls ein Zehntel derer ist, die durchwollen und durchkommen. Also rund 50.000 der von Europol vor einigen Jahren mal vage geschätzten 500.000, die jedes Jahr heimlich die Grenzen der EU bezwingen? Insofern lässt sich - aus dem Blickwinkel eines Frontex-Beamten - schnell nachvollziehen, warum Transkarpatien als echte Problemzone angesehen wird. Und dies wird hoffentlich auch noch viele Jahre so bleiben.


h., kein mensch ist illegal/Hanau



Anmerkungen:
(1) Im vorliegenden Text finden sich Informationen und Einschätzungen, die bei zwei Besuchen in und um Ushgorod im Sommer 2004 und Ende 2006 in Gesprächen und Interviews zusammengetragen wurden.
(2)Frontex nennt sich die 2005 eingerichtete europäische Grenzschutzagentur mit Hauptsitz in Warschau, die in erster Linie mit der Überwachung der EU-Außengrenzen befasst ist. Frontex-Schiffe patrouliieren mittlerweile schon vor der Küste Westafrikas, um Boatpeople abzufangen.
(3) Als Maquiladora werden die Weltmarktfabriken in Mexiko direkt an der US-Grenze bezeichnet, in denen sehr viel geringere Löhne als jenseits der Grenze bezahlt werden.
(4) Der Boom der Automobilproduktion in Osteuropa scheint ungebremst, die Slowakei z.B. wird schon als das neue Detroit bezeichnet. Dort wie auch in den tschechischen Fabriken arbeiten im übrigen auch viele UkrainerInnen (siehe auch Texte in der Zeitschrift Wildcat Nr. 76 und 78)
(5) Davon zeugen die langen Autoschlangen am Grenzkontrollpunkt nach Ungarn, wo das Benzin um einiges teurer ist.
(6) Ende 2006 wurde folgende Reihenfolge der Auswanderungsländer genannt: Russland, Portugal, USA, Italien, Tschechien ...
(7) "Overstayer" bezeichnet Menschen, die legal eingereist sind, aber dann die Visumsfrist überziehen bzw. gar nicht mehr ausreisen und damit "illegal" bleiben.
(8) Regularisierungsprogramme gab es in den letzten Jahren in Spanien und Italien, aber z.B. 2001/2002 auch in Portugal, wo damals alleine ca. 60.000 UkrainerInnen legalisiert wurden! Nicht zufällig entwickelt sich seitdem eine starke Kettenmigration nach Portugal.
(9) Vor allem in den standortgebundenen Sektoren (Bau, Landwirtschaft, Haushalt und Pflege ...) wird in allen EU-Ländern nach billigen Arbeitskräften gesucht und dabei auch mit illegalisierten und somit weitgehend entrechteten MigrantInnen kalkuliert.
(10) Geschätzte Zahlen: pro Kopf gerechnet sollen rund 300 Dollar an Rücküberweisungen in Transkarpatien ankommen, jeden Monat! Das wäre mehr als das doppelte des monatlichen Einkommens vor Ort!!
(11) Western Union ist die größte und bekannteste Bank, die sich die Geldüberweisungen mit hohen Gebühren bezahlen läßt. Doch alle möglichen westlichen wie östlichen Banken machen damit Geschäfte, kein noch so kleines Dorf ist mehr ohne Bankfiliale.
(12) Beispiel vor allem die IOM, die seit Mitte der 90er Jahre ein im Sinne der EU funktionierendes Grenz- und Lagerregime in der Ukraine vorangetrieben hat (siehe auch www.noborder.org)
(13) Die beiden Lager, das "Pavshino Centre for Men" und das "Mukachevo Centre for Women and Children" gehören zur "Temporary Detention Centre of the Military Unit 2142", Mukachevo, Transcarpathian Region. Weitere Informationen finden sich im Bericht von Human Rights Watch: :: Ukraine: On the Margins. Rights Violations against Migrants and Asylum Seekers at the New Eastern Border of the European Union (November 2005, korrigiert 2007)
(14) Siehe die hervorragende Reportage von Stefan Dünnwald vom Bayrischen Flüchtlingsrat über das Asylsystem und das Lager in Pavshino in der neuen Ausgabe des Magazins Hinterland - http://www.hinterland-magazin.de/pdf/04-06.pdf
(15) siehe Anmerkung 13

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift :: Archipel Nr. 151 (07/2007), hier leicht bearbeitet von no-racism.net.