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Quellenangabe:
Vom Leben unter der Belgrader E-75-Brücke (vom 17.07.2007),
URL: http://no-racism.net/article/2214/, besucht am 22.12.2024

[17. Jul 2007]

Vom Leben unter der Belgrader E-75-Brücke

Reiseführer als Kunstprojekt über aus Österreich oder Deutschland nach Serbien abgeschobene Roma, die in der Stadt der KartonsammlerInnen landen.

In der Siedlung "Gazela" in Belgrad leben aus Bosnien oder dem Kosovo geflüchtete Roma. Aber auch viele aus Deutschland oder Österreich Abgeschobene. Zwei Wiener Künstler verfassten einen Reiseführer über "Karton Siti", die Stadt der KartonsammlerInnen.

Aus Österreich oder Deutschland nach Serbien abgeschobene Roma landen meist am Belgrader Flughafen und bleiben dort vollkommen auf sich allein gestellt. Schon 2001 stimmte Präsident Zoran Djindjic dem Rückübernahmeabkommen zu, und Deutschland konnte mit der Rückführung der "geduldeten" serbischen StaatsbürgerInnen beginnen. Besonders abgeschobene Jugendliche stellt diese neue Umgebung vor große Probleme, vor allem, wenn sie das Land ihrer Eltern nur aus Erzählungen kennen und die Sprache schlecht beherrschen. Schnell und einer gewissen Logik folgend, finden die "Rückgeführten" ihren Weg in eine der 150 Elendssiedlungen, die es in und um Belgrad gibt.
Diese Siedlungen sind "im Ausland weitgehend unbekannt, obwohl die europäischen Wohlstandsländer - durch Rückführung abgewiesener MigrantInnen - erheblich zu ihrem Entstehen und raschem Wachstum beitragen", steht im Reiseführer "Beograd Gazela". In Gazela, unter der Autobahnbrücke der E 75 gelegen, leben über 800 Leute, großteils Vertriebene der Bosnienkriege in den 90er Jahren, aber auch viele Flüchtlinge aus dem Kosovo, die sich Ashkali nennen. Die Gegend "Novi Beograd" an den weit verzweigten Flussarmen der Save war früher unwegsames Sumpfgebiet.

"Unserer Erfahrung nach war eines der signifikanten Merkmale der Siedlung Gazela die Unsichtbarkeit und das fehlende Wissen um die Lebensumstände der Bewohner, selbst bei Hilfsorganisationen. Wir wollten Wissen über Strukturen vermitteln", sagt Can Gülcü, ein Künstler aus der Marina-Grzinic-Klasse für "Postkonzeptuelle Kunst" der Wiener Akademie und Co-Autor des Reiseführers. Dabei fahren täglich zehntausende AutofahrerInnen an den Baracken und Hütten vorbei, denn Gazela liegt in ausgesprochen zentraler Lage im Herzen der Stadt und wird auf einer Seite von einem Bahndamm für den internationalen Zugverkehr begrenzt.

Zwei Hotels und die größte Sportanlage der Stadt befinden sich in der Nähe, aufgeputschte Besucher schmeißen nach Sportveranstaltungen gerne Sachen von der Autobahnbrücke herunter. "Die Siedlung liegt exakt zwischen Schienen und Straße jener Transitstrecke, welche Europa von Nordwest nach Südost durchläuft und Belgrad mit Deutschland, Österreich und der Türkei verbindet", beschreibt "Beograd Gazela" die Lage des "Nicht-Ortes", des "Un-Ortes", wie der zweite beteiligte Künstler sagt.

Can Gülcü schrieb nach monatelangen Recherchen, die sich über Jahre zogen, gemeinsam mit Eduard Freudmann, den erwähnten Reiseführer als Kunstprojekt. Die beiden lebten in der Nähe der Siedlung. "Nach ein paar Stunden in der Siedlung fühlten wir uns, als hätten wir tagelang nicht geschlafen", lacht Can. Die Distanz der beiden, die nicht direkt in der Siedlung leben wollten, hatte Methode. "Roma werden gerne distanzlos behandelt. Zum Beispiel werden sie von den meisten geduzt", meint Eduard Freudmann. "Wir wollten nicht so vorgehen, z. B. mit Hilfe von Erlebnisberichten sozusagen aus dem Mund der Siedlung zu sprechen, sondern eine Annäherung, die auf Respekt und Höflichkeit beruht, riskieren."

"Man kann auch hingehen und ein Werk wie Kusturicas Filme machen. Diese schrägen Typen findet man überall", erklärt Can. Die künstlerische Zurückhaltung, die ohne Anekdoten auskommt, und der sehr nüchterne Stil des Reiseführers, sollen einer weiteren Emotionalisierung und Mystifizierung der Roma vorbeugen. "Es gibt viele Vorurteile über Roma, z. B. hört man oft: Egal, wie arm sie sind, sie sind glücklich", sagt Can. "Oder: Lustig ist das Zigeunerleben. Wir wollten auf die Bedienung klassischer Klischees verzichten und auch nicht pittoreske Armut darstellen", wirft Eduard ein. Und Can weiter: "Viele sagen, die wollen nicht anders leben, dabei sind Roma Opfer von sehr vielschichtigem Rassismus und Bürger letzter Klasse. Sie wollen nicht so leben, sondern sie müssen so leben. Man kann nicht jede missliche Lage damit erklären, dass sie eine andere Kultur haben. Aber man muss die speziellen Anforderungen einer Gruppe respektieren, wenn man an der Verbesserung ihrer Lebensumstände arbeiten will."

Ein grundlegendes Problem der Roma in Serbien ist ihre Illegalisierung. Sie werden bei ihrer Geburt in den seltensten Fällen registriert, viele leben bis ins hohe Alter ohne Dokumente und sind für Behörden und Staat einfach nicht vorhanden. Eine Geburtsurkunde ist aber die Grundlage der Staatsbürgerschaft und ein Meldezettel, den man für die Siedlung Gazela nicht kriegt, für Sozialleistungen bzw. für die Anmeldung eines Kindes zum Schulunterricht nötig.
Kann Kunst sozialrechtliche Gegebenheiten verändern oder harmonisiert sie bloß und vollbringt allein, dass sich die Leute besser fühlen? Gazela ist z. B. nicht an Strom und Wasser angeschlossen, da die Behörden dies als ersten Schritt zur Legalisierung auffassen.
"Brunnen zu graben, würde vielleicht mehr bringen, aber wir sehen unsere Arbeit als Wissenssammlung, die als Basis für weitere Projekte dienen kann. Der Reiseführer erhebt Gazela zum point of interest", meint Can. Früher hieß ein "Reiseführer" noch "Fremdenführer". Wer der oder die Fremde ist, wer das definiert und von wo aus und mit welchen Konsequenzen, hat sich seither ganz schön geändert.

Artikel von Kerstin Kellermann, erschienen im Augustin 2007