Quellenangabe:
Globale Bewegungsfreiheit gegen globale Apartheid (vom 10.11.2007),
URL: http://no-racism.net/article/2338/,
besucht am 14.12.2024
[10. Nov 2007]
Transnationaler Talk mit AktivistInnen aus vier Kontinenten zu den Anit-G8-Protesten in Heiligendamm im Juni 2007.
Am Abend des 4. Juni 2007, zum Abschluss des :: Migrationsaktionstages, fand im Rahmen des :: kein.tv - Programms eine trotz später Stunde sehr gelungene Talkrunde mit Gästen aus 4 Kontinenten statt: Mit Solange Kone (S.K.) vom Komitee gegen Verschuldung aus der Elfenbeinküste, Maksym Butkevich (M.B.) von Noborder Kiew aus der Ukraine, Valery Alzaga (V.A.) von der amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, Lawrence Liang (L.L.) vom Alternativen Rechtsforum in Bangalore sowie (S.O.) Sunny Omwenyeke von The Voice und Karawanegruppe in Bremen. Hagen Kopp (H.K.), von kein mensch ist illegal in Hanau moderierte diese Diskussionsrunde, die auch im Internet anzusehen und anzuhören ist (siehe Hinweise unten), und die für die folgende Verschriftlichung leicht gekürzt und bearbeitet wurde,
H.K.: Einleitend ein paar Sätze zum Begriff der globalen Apartheid. Ein zentrales Element der Apartheid in Südafrika bestand darin, billige Arbeitskräfte aus den sog. Homelands (ohne Reproduktionskosten) oder aus den abgetrennten Townships für die Minen oder Haushalte oder andere Niedriglohnjobs zur Verfügung zu haben. Moderne Apartheid war schon in Südafrika vor allem ein Konzept, um die schwarze Bevölkerung auszubeuten, sie z.B. mit Passgesetzen rechtlos zu machen und sie einer permanenten rassistischen Diskriminierung zu unterwerfen. Die Frage ist nun, ob wir etwas ähnliches auf eine globale Ebene hochkopiert sehen: in den Zonierungen durch die Grenzregimes, im Konzept der "selective inclusion", also der gezielten Auswahl, der Filterfunktion, in den ganzen konstruierten Hierarchien mit wenigen, etwas mehr oder gar keinen Rechten für MigrantInnen, Flüchtlinge, Geduldete oder Illegalisierte. Alles Kennzeichen eines so genannten Migrationsmanagements, das eine eindeutige Funktion für den Arbeitsmarkt hat, und das diesen Vergleich nahe legt, also von globalem Apartheidsystem zu reden. Die These wäre insofern, dass der moderne globale Kapitalismus entscheidend auf dieses Ausbeutungsgefälle angewiesen ist, auf diese Hierarchien, mit den inneren wie äußeren Grenzen. Wir wollen heute Abend an dieser Frage diskutieren, und damit auch, inwieweit die Forderungen nach globaler Bewegungsfreiheit und gleichen Rechten dieses Apartheidregime herausfordern, in Frage stellen und daher auch als zentral für die globalen Kämpfe anzusehen sind.
Die erste Frage geht an Solange, ob sie diese Interpretation und Einschätzung teilt:
S.K.: Man kann nicht gegen Verschuldung kämpfen, ohne sich mit Migration zu beschäftigen, weil das eine eine Folge des anderen ist. Man darf die Frage der Migration nicht nur auf diejenigen beziehen, die auswandern, sondern auch auf die, die entschieden haben, zu bleiben. Für euch ist es vielleicht nicht vorstellbar, aber um als AktivistInnen aus Afrika hierher zu kommen, hatten wir schon für die Visa unglaublich viele Mauern zu überwinden. Bereits in unseren Herkunftsländern ist über die Botschaften ein System der Apartheid etabliert, denn dort wird entschieden, wer kommt oder nicht. Die Ausgrenzung der MigrantInnen wird nicht erst in Europa sichtbar, sondern schon in den Ländern, wo sie auf dem Weg stecken bleiben und gefangen sind. Die meisten haben sicher die Mauern und Zäune noch nicht direkt gesehen, die auf afrikanischem Gebiet gegen die MigrantInnen errichtet wurden. Einerseits werden Hindernisse errichtet, um die Bewegungsfreiheit zu verhindern, auf der anderen Seite werden die afrikanischen Länder verpflichtet, Freihandelsabkommen abzuschließen, z.B. die EPAs (siehe Seite 32). Einerseits wird den Menschen der Zugang und die Bewegungsfreiheit verweigert, auf der anderen Seite der sog. Freihandel durchgesetzt. Und ich möchte noch kurz die Selektion der Eliten erwähnen, die "migration choisie", die ausgewählte Migration, nach der nur bestimmte Leute kommen sollen, eben die hier gebraucht werden. Dagegen unterstütze ich die Forderung: globale Bewegungsfreiheit für alle gegen globale Apartheid.
H.K.: Sunny, ihr habt ja in den letzten Jahren den Begriff der Apartheid konkret im Zusammenhang mit der rassistischen Residenzpflicht benutzt, also um dieses Gesetz zu denunzieren. Meine Frage, ob ihr Apartheid auch in einer allgemeineren Bedeutung seht.
S.O.: (...). Wir benutzen den Apartheidsbegriff sehr direkt, explizit aus dem südafrikanischem Kontext, weil die Situation, die wir speziell hier in Deutschland vorgefunden haben, von der systematischen Diskriminierung von Flüchtlingen gekennzeichnet ist. Wo gezielt Ausschluss produziert wird, wo es ein gesetzliches Verbot gibt, dem gemäß sich Menschen ohne Erlaubnis nicht treffen oder teilhaben können, auf ökonomischer wie politischer Ebene, ist der Apartheidbegriff angebracht.(...)
Im Vergleich zu damals in Südafrika ist die globale Apartheid heute nicht nur formalisiert und legalisiert, sondern Normalität und Alltäglichkeit geworden. Wenn früher über Apartheid in Südafrika geredet wurde, gab es eine Art von Unrechtsbewusstsein; es war klar, dass es sich um eine Form von Unrecht handelt. Das ist heute nicht mehr der Fall, wir müssen vielmehr von einer Normalisierung und Veralltäglichung von globaler Apartheid sprechen. Und wenn wir davon ausgehen, hat das verschiedene Implikationen, weil es viel schwieriger ist, dagegen zu kämpfen. Weil es nicht nur darum geht, ein gewisses Gesetz abzuschaffen, sondern es um einen zentralen Bestandteil des Systems geht, fast wie Blut in einem Körper, und es viel mehr Kraft, Mut und Ideen braucht, um gegen ein Konzept der Normalität zu kämpfen.
H.K.: Maksym, du kommst aus der Ukraine, einem Land vor den Toren der Festung Europa, in dem sich das Ausbeutungsgefälle schon extrem auswirkt, wo es "normal" ist, dass für eine Arbeit, mit der hierzulande ein- bis zweitausend Euro verdient werden nur ein- bis zweihundert zu erwarten sind.
M.B.: Die Konsequenzen sind sehr groß für uns in der Ukraine, 70 bis 100 Euro beträgt bei uns ein Durchschnittseinkommen. Darüber hinaus existiert ein großes Gefälle zwischen städtischen und ländlichen Räumen, zwischen besser und schlechter entwickelten Regionen. Das führt schon zu einer großen Binnenmigration, zum Pendeln über große Distanzen, die in Kauf genommen werden müssen, um ein Familieneinkommen zu erreichen. (...) Seit Mitte der 90er Jahre spielt die Arbeitsmigration eine immer größere Rolle, vor allem aus den geringer entwickelten Regionen. Hier entwickeln sich regelrechte Traditionen, die sich nach Regionen und Geschlecht unterscheiden. Z.B. gehen Männer aus bestimmten Regionen traditionell nach Russland oder Westeuropa, um dort auf Baustellen zu arbeiten. Die Frauen dagegen, mittlerweile die Mehrheit der ArbeitsmigrantInnen aus der Ukraine, gehen hauptsächlich nach Spanien oder Italien, um dort als Putzkräfte, Babysitter oder Krankenschwestern zu arbeiten.
"Migratonstradition" meint – neben der ökonomischen – auch eine kulturelle Komponente, wie also das ganze kulturelle Leben beeinflusst wird. In bestimmten Dörfern und Regionen gehört Migration über Generationen hinweg regelrecht zum Erwachsenwerden, es gibt ja keine andere Möglichkeit, um die Familie zu ernähren und ein eigenständiges Einkommen zu erwirtschaften.(...)
In Russland, einem der traditionellen Ziele der Migration, werden die rechtlichen Bedingungen nun immer schwieriger, in Westeuropa verschärfen sich die Bedingungen ebenfalls, um legale Arbeit zu bekommen. Ich stimme Solange zu, dass hierbei eine erste Selektion stattfindet. Wer es schaffen will, die erste Hürde zu passieren, muss schlau genug sein oder über Beziehungen verfügen, um Papiere zu besorgen. Oder genug Geld haben oder stark und fit genug sein, um die anstrengende Reise durchzustehen, illegal die Grenzen zu überqueren. Die zu alt oder zu schwach oder zu krank sind, haben nur geringe Chancen, hier wirken die ersten Filter der Ausgrenzung. Und jeder, der einen ukrainischen Pass hat – soviel zum Thema globale Rechte – der weiß, dass es eine zweite Klasse von Staatsbürgerschaft gibt und die ukrainische gehört definitiv dazu.
Gleichzeitig haben wir eine Situation, dass MigrantInnen, vor allem aus Zentralasien, in die Ukraine zum Arbeiten kommen, und der Druck, den die EU auf die ukrainische Migrationspolitik ausübt, hat zur Folge, dass deren Situation ebenfalls sehr prekär ist, dass sie einem Regime von Ausbeutung und Korruption unterworfen sind, ganz ähnlich dem der UkrainerInnen in Westeuropa. (...).
H.K.: Valery, wir springen zum nächsten Kontinent, mit der Grenze zwischen den USA und Mexiko, den "working poor" vor allem lateinamerikanischer Herkunft. Kannst du dazu was sagen?
V.A.: Ja, es ist genau das Thema, an dem ich ansetzen möchte. Die Situation der lateinamerikanischen MigrantInnen als "working poor" in den USA ist eine direkte Folge des nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA, weil sich die Lebensbedingungen für viele BäuerInnen oder in der Landwirtschaft Beschäftigte in Mexiko rapide verschlechtert haben, sie verarmt sind, und dann viele in die USA migriert sind (...)
Was strukturell passiert, wenn so viele Menschen aus einer unterentwickelten Region in die USA, zur Supermacht, migrieren, ist dass dann in erster Linie ein wahnsinnig großer Lohnunterschied zwischen den ArbeiterInnen entsteht. Wir sprechen von ca. 12 Mio illegalisierten ArbeiterInnen in den USA, vor allem aus Mexiko. Wie Maksym schon sagte, gibt es diese Stadt zu Stadt-Migration,oder von einer in eine andere bestimmte Region (Kettenmigration), und dann in spezifische Sektoren wie Landwirtschaft, Dienstleistungen, Tagelöhnerei, Reinigung, Haushaltstätigkeiten. Ein Unterschied besteht darin, dass in den USA die Grenze lange Zeit relativ offen war, eine poröse Grenze, so dass Arbeitslose, Land- und Rechtlose aus Lateinamerika die Grenze überqueren und in den USA arbeiten konnten. Solange sie nützlich waren, solange sie auf dem Arbeitsmarkt für bestimmte Sektoren gebraucht wurden, konnten sie auch Wege finden, sei es durch Schlepper oder mit anderen Mitteln.(...) Migrantische Kämpfe waren immer sehr an Bürgerrechte, an zivile und soziale Rechte gebunden, so dass die politische Arbeit zum Thema Migration immer eng verknüpft war mit der Frage der Legalisierung, von Papieren.
H.K.: Inseln des Reichtums in einem Meer der Armut ist eine Metapher, die ja insbesondere für Indien zutrifft. Lawrence, kannst du was zum System der Zonierung, der Apartheid(?) innerhalb Indiens in den großen Städten sagen?
L.L.: Wo wir gerade über Europa reden, möchte ich eine Anekdote hinzufügen. Das erste mal, als ich nach Europa, nach Italien, reisen wollte und ein Visum brauchte, fuhr ich von Bangalore nach Bombay. Dort geriet ich an einen freundlichen Botschaftsbeamten mit freundlichen Fragen. Die erste Frage lautete: "Sind sie ein Terrorist?", was ich mit Nein beantwortete. Zweite Frage: "Wollen sie Taxifahrer werden?" Das habe ich auch mit Nein beantwortet. Und die dritte Frage betraf meinen Kontostand. Der war aber sehr gering, weil es Ende des Monats war. Der Beamte meinte dann, das könnte ich total vergessen, nach Italien zu reisen, mit dem Geld käme ich gerade noch zurück nach Bangalore.
Ich sehe einerseits den Nutzen, den Begriff globale Apartheid in einem politischen Kontext wiederzubeleben, doch gleichzeitig möchte ich Fragen einwerfen und zur Vorsicht mahnen. Zum einen hat dieser Begriff sehr starke historische Wurzeln und Implikationen. Ich stimme zu, dass der Begriff gut funktioniert, um Prozesse wie das Ausbeutungsgefälle von erster zu dritter Welt zu beschreiben. Doch es erscheint mir weniger geeignet, wenn es um andere Praxen auch der Migration geht, z. B. um die Situation in Südasien. In Bangalore oder Bombay finden sich die Hinterbüros für die Arbeiten, die hier ausgelagert/outgesourct werden. Doch in bestimmten Gegenden sammelt sich gleichzeitig ziemlich viel Reichtum. Es gibt 30.000 Millionäre in Bangalore, Dollarmillionäre, nicht in Rupies. Parallel existieren in Bangalore 700 verschiedene Slums.
Wir beobachten zwei verschiedene Prozesse: zum einen den Prozess der Deterritorialisierung. Verschiedene Arbeiten sind nicht mehr an ein Territorium gebunden, wenn man z.B. für ein Call-Center in Bangalore arbeitet, hat das nichts mehr mit Bangalore zu tun.
Zum zweiten den Prozess der Reterritorialisierung, wo es wieder wichtig wird, dass die Stadt eine bestimmte Größe erreicht, sich wieder ins Gespräch bringt, um, wie am Beispiel von Bangalore oder Bombay zu sehen ist, in die Liga der globalen Städte aufzusteigen.(...)
Wir erleben verschiedenste Ebenen von Migration, vor allem Flüchtlinge aus Afghanistan, Sri Lanka, Bangladesh, die in verschiedensten Bereichen arbeiten und dadurch die Stadt an sich verändern. Dann die Trennung zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern, oder zwischen SlumbewohnerInnen und StadtbewohnerInnen. Damit kristallisieren sich Konzepte von Kriminalisierung und Legalisierung heraus, die es mir schwierig machen,
eine klare Unterscheidung von Erster und Dritter Welt zu erkennen. Das funktioniert so nicht mehr, wir haben die Erste Welt in der Dritten und umgekehrt.
H.K.: Millionen von Menschen, aus China, Mexiko oder der Ukraine, unterwandern die Grenzregimes. Eine Bewegung gegen das Ausbeutungsgefälle, ein Prozess oft ohne politische Artikulation, eine versteckte, stille Bewegung der Aneigung - Globalisierung von unten?
Valery, du bist Gewerkschafterin, ihr organisiert undocumented workers, und bringt dieses Projekt jetzt auch nach Europa. Was ist eure Perspektive?
V.A.: Aus der gewerkschaftlichen Perspektive betrachtet gibt es bestimmte Arbeitsbereiche, die quasi komplett von MigrantInnen besetzt sind. Sie, die Armen der Welt, arbeiten z. B. in Banken und im Versicherungssektor in den reichen Städten der Welt. Wir entwickeln Organisierungsansätze genau in diesen Bereichen, wo die migrantische Arbeitskraft ist, genau in den Städten,
wo der Reichtum ist, wo diese Firmen, die Global Players sitzen. Wir sehen unsere Arbeit in der Gewerkschaft als Globalisierung von unten, wir setzen in erster Linie in den Communities an, in den Lebensumgebungen, den Netzwerken der migrantischen ArbeiterInnen. Und wir wollen das mit anderen sozialen Bewegungen zusammenführen. Wir zielen auf die Umverteilung des Reichtums, und wenn man sich anschaut, dass in Mexiko das zweitgrößte Einkommen - gleich nach dem Öl als Nr. 1 - die Rücküberweisungen sind, also das Geld, das nach Hause geschickt wird, dann wird klar, warum das ein so bedeutender Punkt ist, an dem wir ansetzen zu organisieren.
Natürlich geht es in den Kämpfen auch um mehr Rechte, darum Papiere zu bekommen. Aber wir versuchen, dem Prozess auch globale Perspektiven hinzuzufügen, dass also die Erfolge, die man hier erkämpft, auch dorthin zurückgetragen werden, wo die Menschen herkommen, dass es auch dort um Demokratie und Rechte geht. Ein Ziel sind "global agreements", also Abkommen mit global operierenden Firmen, um zu erreichen, dass z.B. gewerkschaftliche Organisierungsrechte überall gelten. Oder wenn man einen Streik in Berlin gewinnt, dass dies überall, wo sich dieses Unternehmen befindet, auch gilt, also auf globaler Ebene.
H.K.: Lawrence, ihr verteidigt mit eurer Anwaltsvereinigung einerseits illegalisierte MigrantInnen, andererseits Menschen, die der Produktpiraterie angeklagt sind. In beidem geht es um Aneignungsfragen, siehst du da Zusammenhänge?
L.L.: Absolut, auf jeden Fall. In beiden Bereichen, bei den "Piraten" wie bei den "Aliens" geht es um grenzerhaltende Regime bzw. um Grenzüberschreitungen darin.(...) Die Begriffe Eigentum und Grenze sind nur Ideen, Fiktionen, die allein durch militärische oder polizeiliche Gewalt, die in Gesetze eingeschrieben ist, manifestiert und erhalten werden kann. Die Festschreibung läuft nicht zuletzt über die Sprache, kein anderes Paradigma soll mehr denkbar sein. Begriffe wie Generosität und Teilen werden umdefiniert in Piraterie, zu Gast sein und Gastfreundschaft werden zu illegaler Migration gemacht. Kriminalisierung wird über Begrifflichkeiten hergestellt, deswegen denke ich, dass wir nicht über aktuelle, zeitgemäße Auseinandersetzungen sprechen können, ohne Begrifflichkeiten neu zu besetzen.
H.K.: Maksym: wie sehen eure transnationale Perspektiven aus?
M.B.: Zunächst möchte ich den brillanten Gedanken meiner beiden VorrednerInnen aus ukrainischer Perspektive kurz etwas hinzuzufügen. Zu Valery und den Prozessen der Arbeitsmigration möchte ich betonen, dass viele Regionen bei uns nicht durch Entwicklungshilfeprogramme entwickelt wurden sondern allein durch Rücküberweisungen der Einwohner, die die Region verlassen haben, also der MigrantInnen. (...) Zum zweiten geht es mir um eine Differenzierung in der Einstellung zur Migration. In der Ukraine sind viele einerseits sehr stolz darauf, dass ihre Familienangehörigen im Westen arbeiten, Geld nach Hause bringen. Gleichzeitig gibt es eine ungebrochene Ausländerfeindlichkeit oder Xenophobie gegenüber TransitmigrantInnen, also die die von außerhalb kommen und durchreisen. Das ist auch produziert durch Mainstream-Medien und Politik, aber ich will damit darauf hinweisen, dass alleine aus eigenen Migrationserfahrungen nicht automatisch eine positive Einstellung zu Migration folgt.
Exemplarisch möchte ich zum Schluss Transkarpatien erwähnen, eine Region, von wo viele emigrieren und gleichzeitig auch viele durchmigrieren, wo es unterschiedliche positive wie negative Auseinandersetzungen und Erfahrungen gibt.
Deshalb soll das 1. Nobordercamp in der Ukraine genau dort, vom 11. bis 20. August, in der Nähe von Ushgorod stattfinden (...) alle Interessierten sind eingeladen zu kommen und beizutragen (siehe Bericht auf Seite 34).
H.K.: Sprung zurück in die Festung Europa, mit einer Frage an Sunny. 10 Jahre ist es her, dass die Sans Papiers in Paris einen neuen Zyklus von Kämpfen in Gang gebracht haben. Papiere für Alle hat sich seitdem als Forderung quer durch Europa ausgebreitet, gleiche Rechte für Alle liegt in dieser Linie. Was sind eure transnationalen Perspektiven?
S.O.: Zuerst einmal ist es sehr schwierig über solche Perspektiven zu reden, und die soziale und politische Kultur z.B. zwischen Frankreich und Deutschland ist sehr unterschiedlich. Zunächst war es sehr motivierend, die Kämpfe der Sans Papiers zu sehen, und ihre Erfolge waren ermutigend. Doch das ist nicht Eins zu Eins übertragbar nach Deutschland, weil die soziale und politische Situation so verschieden ist.
Um ein Beispiel zu nennen: 2002 waren wir fünf Wochen auf Tour als Karawane in 40 Städten, haben für die Rechte von Flüchtlingen protestiert. Im gleichen Zeitraum gab es eine große Welle von Abschiebungen gegen Roma, die teilweise hier geboren oder aufgewachsen waren. Sie sollten gedrängt werden, das Land zu verlassen. Sie haben in dieser Situation alles mögliche versucht, wochenlang mit allen Möglichkeiten protestiert, laut und stark gegen diese Abschiebepolitik gekämpft. Doch alle Proteste nutzten nichts, sie fanden keine Unterstützung bei Bevölkerung oder staatlichen Institutionen, die Situation konnte nicht verbessert werden.
Ich sage das, weil es daraus eine Lehre zu ziehen gilt. Es geht nicht darum, einfach zu kämpfen, nicht darum, das, was woanders wie in Frankreich gut geklappt hat, einfach zu übertragen, wenn man daran nur scheitern kann.(...) Wir müssen vielmehr mit den spezifischen Situationen umgehen, dementsprechend spezielle Strategien entwickeln und hier Handlungsweisen finden, und dann erst über transnationale gemeinsame Kämpfe weiterdenken. Ich sage nicht, dass transnationale Arbeit nicht sinnvoll ist. Das heißt aber, wir müssen strategischer drangehen: erst analysieren, welche Strategien zum Erfolg führen und wie wir das dann zu einer transnationalen Strategie zusammenführen können.
H.K.: Der Sturm auf die Zäune in Ceuta und Melilla 2005, das Drama der Boatpeople, der tausenden Ertrunkenen, die Konfrontation mit der neuen Grenzschutzbehörde Frontex, das alles macht klar, es gibt ein ganz hohes Eskalationsniveau an der Grenze zwischen Europa und Afrika. Ich betone das vor dem Hintergrund, dass es auf dem G8 gerade auch um Afrika geht, um eine sog. Reformpartnerschaft, was an Hohn nicht zu überbieten ist. Solange, zum Abschluss die Frage an dich: was sind eure Perspektiven.
S.K.: Die Ereignisse von Ceuta und Melilla sind wichtig für uns, aber nicht isoliert zu sehen. Ich habe z. B. Filme gesehen über die Grenze zwischen den USA und Mexiko, und die Situation der Prekarisierung der MigrantInnen und der Grenzen ist ähnlich in vielen Regionen der Welt.
Ich möchte meine Anerkennung und Respekt an die Organisationen im Norden äußern, die sehr solidarisch mit Vereinigungen in den Ländern des globalen Südens zusammenarbeiten gegen diese Politik. Ich wünsche mir, dass diese Solidarität nicht versiegt, dass die Kämpfe weitergehen gegen Abschiebungen, Eurocharter und alles, was diesbezüglich heute und gestern schon erwähnt wurde.
Ich möchte nochmal daran erinnern, dass wir auf einer Gegenveranstaltung gegen den Gipfel der G8 sind und ich möchte eine Botschaft loswerden: Es nützt nichts, Millionen zu investieren, um Menschen daran zu hindern auszuwandern, ihr Land zu verlassen, um zu überleben.
Diese Millionen könnten anders - für das Leben- investiert werden. Die Frage der Migration hat sehr viel zu tun mit einer Frage der falschen und schlechten Entwicklung. Die Ressourcen der Welt kommen nicht den Bevölkerungen der Länder zu gute. Die G8 müssen das begreifen und es muss eine Umverteilung, eine andere Politik auf dieser Welt stattfinden. Kämpfen wir für die Rechte der MigrantInnen, aber kämpfen wir auch für eine globale Entwicklung, die allen Menschen zu Gute kommt.
Hinweis: Der gesamt Talk ist im Internt anzusehen unter http://v2v.cc/v2v/KEIN_talk%3A_piracy (in dt.-engl.) oder anzuhören unter http://www.freie-radios.net (:: Teil 1 :: 2 :: 3 :: 4 :: 5 in deutsch).
Dieser Artikel erschien zuerst in der Broschüre :: Texte zu Flucht und Migration. Dokumentation und Diskussion der Aktionstage gegen den G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm (:: als pdf (44 Seiten, 1,4 MB)).