Quellenangabe:
Was ist Frontex? (vom 11.01.2008),
URL: http://no-racism.net/article/2414/,
besucht am 26.12.2024
[11. Jan 2008]
In der Reihe "Materialien gegen Krieg, Repression und für andere Verhältnisse" ist eine Broschüre zur europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX erschienen. In ihr werden Funktion, Tätigkeit und auch die Entstehungsgeschichte der Agentur umfassend beschrieben. Im folgenden eine Rezension.
Eine Geheimdienstbehörde, der Vorläufer einer gemeinsamen EUropäischen Grenzschutztruppe oder doch nur ein eher wissenschaftliches Institut, das Risikoforschung betreibt? Viel ist zu lesen und viel wird geschrieben über die "Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen" und es klingt dann meist so, als wäre dem Rat der EU nun endlich der große Wurf gelungen, um die EU-Außengrenzen "abschotten" oder die Migrationen über sie hinweg zumindest managen zu können. In den Einsätzen sieht es dann wieder anders aus: Die Anlandungen von Flüchtlingsbooten finden trotz vermeintlich martialischer Einsätze der Agentur auf dem Mittelmeer und vor Westafrika weiterhin statt. Zivilgesellschaftlich gibt es eine scharfe Kritik an der "Militarisierung der Grenze" die bereits durch den Namen der ominösen Agentur suggeriert wird, deren Ausgestaltung bislang aber weitgehend unklar blieb.
Um diese Kritik zu unterfüttern, hat der EU-Abgeordnete Tobias Pflüger in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Militarisierung nun eine Broschüre herausgegeben, welche die Tätigkeit und auch die Entstehungsgeschichte der Agentur umfassend beschreibt. Dabei wird mit einigen Mythen aufgeräumt. Beispielsweise mit dem Bild, dass sich die Tätigkeiten der Agentur auf die oft erwähnten aber wenig präzisierten Einsätze auf Hoher See beschränken oder auch nur konzentrieren würden. Das Herz der Tätigkeit von Frontex, so erfahren wir, sei ein Risiko-Analyse-Modell, auf dessen Grundlage gemeinsame Einsätze jenseits, an und innerhalb der EU Außengrenze konzipiert werden. Diese Einsätze sind dann oft gar nicht so martialisch (sondern eher geheimdienstlich) und Frontex selbst verfügt auch gar nicht über eine allzu martialische Ausrüstung. Die Agentur vernetzt und archiviert eher das in den Mitgliedsstaaten bestehende, drängt auf Effektivierung und gemeinsame Standards und unterläuft dabei stetig das Recht.
Drei längere Texte der Broschüre gehen im Grunde das gleiche Thema an. Bernd Kasparek beschreibt die Formierung einer gemeinsamen EU-Außengrenze seit den 1990ern mitsamt deren Vorverlagerung und innerer Diffusion. Frontex ist im Grunde als logische Konsequenz dessen zu verstehen. Christoph Marischka stellt die Agentur als Vernetzungsmaschine dar und macht so deutlich, wie viel Unheil die Behörde schon mit einem relativ beschränktem Budget anrichtet. Andreas Fischer-Lescano und Timo Tohidipur betrachten die Agentur aus einem juristischen Blickwinkel, tragen somit zur Klärung ihrer Stellung bei und liefern wertvolle Ansatzpunkte für eine Kritik, die auch vor internationalen Gerichten vorgebracht werden kann.
Es dreht sich dann doch viel um die See und die Einsätze dort in der Broschüre. Stichwortartig wird das internationale Seerecht erklärt, ein Gutachten zur Geltung des Flüchtlingsrechts auf Hoher See zusammengefasst und Judith Gleitze von Borderline-Europe berichtet über die Kriminalisierung von zivilen Rettern, also beispielsweise Fischern, die MigrantInnen aus Seenot retten und ans italienische Festland bringen. Christoph Marischkas Analyse, die Frontex-Agentur würde ihr Rechtsverständnis von der See herleiten, da dort die Grenzen nationalstaatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Wirksamkeit stets verschwommen seien, muss man nicht unbedingt folgen, um auch aus diesem Teil der Broschüre wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Einen wichtigen Grund, die Broschüre immer wieder zur Hand zu nehmen stellt aber v.a. das abschließende Glossar dar. Spätestens bei dessen Lektüre und den Ausführungen zum deutschen Beitrag an der Entstehung der Frontex-Agentur wird aber auch klar, dass Frontex keinen eigentlichen Bruch in der EU-Innen und -Migrationspolitik darstellt, sondern lediglich eine logische Fortentwicklung. Viele Strukturen und Leitbilder (etwa die "vernetzte Sicherheit") der Agentur bestimmen schon länger die Sicherheitsarchitektur der EU und werden an Frontex sichtbar. Damit wird auch klar, warum sich ausgerechnet die Informationsstelle Militarisierung der Aufklärung über Frontex angenommen hat, ist doch die Kritik an der antidemokratischen Militarisierung der EU und der mit ihr einhergehenden Entrechtung der Bevölkerung schon länger eines ihrer Hauptthemen. Diese Kritik hat mit Frontex einen sichtbaren und paradigmatischen Angriffspunkt gefunden.
Die 52-seitige Broschüre kann :: als pdf heruntergeladen oder gegen Porto bei berlin (at) tobias-pflueger.de bestellt werden.
Inhalt:
Dieser Text erschien zuerst am 09. Jan 2008 auf :: de.indymedia.org.