Quellenangabe:
Flüchtlinge in Griechenland: zurückgewiesen, misshandelt und rechtlos (vom 12.01.2008),
URL: http://no-racism.net/article/2415/,
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[12. Jan 2008]
"The truth may be bitter, but it must be told" - "Die Wahrheit mag bitter sein, aber sie muss gesagt werden", eine Inschrift im ehemaligen Haftlager von Mitilini (Insel Lesbos). So lautet auch der Titel der Dokumentation, die Pro Asyl und die griechische Anwaltsvereinigung für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen kürzlich in Brüssel und Athen veröffentlicht haben.
"Die Abschiebung nach Griechenland wird angeordnet" ... immer häufiger werden Flüchtlinge mit solchen Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge konfrontiert. Asylsuchende werden von Deutschland aus nach Griechenland zurückgeschoben, ohne dass ihr Asylantrag hier inhaltlich geprüft wurde. Aufgrund einer EU-Regelung - der so genannten Dublin II-Verordnung - ist in der Regel das Land für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, das dem Flüchtling ermöglichte, europäischen Boden zu betreten.
Für viele Schutzsuchende - vor allem aus dem Irak, Afghanistan und Somalia - führt der Fluchtweg über die Ägäis.
Sie versuchen, von der Türkei auf eine der griechischen Inseln zu gelangen, die oft nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt liegen.
Flüchtlinge berichten in ihren Anhörungen in Deutschland, dass sie in Griechenland keine Chance gehabt hätten, einen Asylantrag zu stellen. Sie berichten von Misshandlungen und Zurückweisungen durch die griechische Küstenwache und von erbärmlichen Haftbedingungen. Im Juli/August und im Oktober 2007 haben wir mit der griechischen Rechtsanwaltsvereinigung die Situation an der EU-Außengrenze in der Ägäis untersucht.
Im Zentrum unserer Recherche standen die Frage des Zugangs zum griechischen Territorium, die Haftbedingungen für neuankommende Flüchtlinge auf den Inseln Chios, Samos und Lesbos und die besondere Situation von minderjährigen Flüchtlingen. Wir besuchten die Haftanstalten und sprachen mit mehr als 100 Flüchtlingen, Vertretern der griechischen Küstenwache, der Behörden und. Die Ergebnisse der Recherche sind traurig und schockierend.
Bei den Gesprächen mit Flüchtlingen aus den verschiedensten Herkunftsländern in und außerhalb der Haftanstalten von Chios, Samos und Lesbos kristallisieren sich folgende Muster von schweren Menschenrechtsverletzungen durch die griechische Küstenwache heraus: Die Küstenwache misshandelt systematisch neu ankommende Flüchtlinge.
"Wir waren eine Gruppe von 22 Leuten. Die griechische Küstenwache kam, als wir mitten auf dem Meer waren (...) Dann haben sie uns rausgezogen und schon ging es los mit den Schlägen und Schüssen ... mich haben sie zusammengeschlagen, dabei ist eine Rippe gebrochen. Wir mussten uns flach hinlegen, dann sind sie auf uns drauf gestiegen. Das ist alles auf dem Schiff der Küstenwache passiert (...)"
Es kam in einem Fall vor der Insel Chios auch zur Folter (Scheinhinrichtung, Einsatz von Elektroschockern, Waterboarding - der Kopf wird gewaltsam in einen Wasserbehälter gedrückt).
Meine Arme wurden von einem Polizisten hinter meinem Rücken zusammengepresst. Der andere drückte meinen Kopf mit einem Nackengriff nach unten ins Wasser. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich wurde erst nach einiger Zeit hochgezogen. 'Weißt du nun die Farbe und den Namen des Schiffes?' Ich sagte: 'Nein'. Er schlug mir zweimal ins Gesicht. Der Polizist hinter mir griff erneut nach meinen Armen. Ich wollte noch einmal tief Luft holen. Der Polizist vor mir fragte: 'Erinnerst du dich jetzt, oder nicht?' Ich verneinte erneut. Und sofort packte er meinen Kopf und drückte ihn wieder in den Wassereimer. Ich hatte Todesangst. Ich dachte, dass ich das nicht überleben werde. Als ich wieder hoch kam, fragte mich der Polizist wieder: 'Du erinnerst dich also nicht?' Ich wiederholte: 'Nein'. Er drückte mich noch einmal in den Wassereimer.
Flüchtlinge, darunter auch Minderjährige, werden von der Küstenwache zurückgewiesen und auf so genannten "dry islands" - unbewohnte Inseln - ausgesetzt. Kleine Flüchtlingsboote werden von der Küstenwache geblockt und in internationale bzw. türkische Gewässer zurückgedrängt. Die griechischen Grenzschützer umkreisen sie mit ihren Booten und verursachen Wellenbewegungen. Bei diesen Manövern auf See werden Tote in Kauf genommen. Flüchtlinge werden, obwohl sie sich bereits in griechischen Gewässern befanden oder gar schon die Küste erreicht hatten, zurückverfrachtet. Ihre Schlauchboote werden beschädigt, damit sie bestenfalls noch die türkische Küste lebend erreichen können.
Flüchtlinge auf offener See in zerstörten Booten wieder auszusetzen, ist versuchter Mord.
"Die griechische Küstenwache zwang uns auf hoher See, wieder in unsere Schlauchboote zu steigen. Vorher machten sie mit Messern kleine Löcher hinein. Jede Gruppe bekam nur ein Paddel ausgehändigt. Unsere Schuhe wurden einfach ins Meer geworfen. Es war sehr schwer für uns, mit den beschädigten Booten und nur einem Paddel an die Küste zurückzukommen (...)"
Hemal, ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan, wurde mit drei anderen Flüchtlingen aus Afghanistan nicht weit von der Küste der Insel Lesbos von der griechischen Küstenwache am 6. Juni 2007 aufgegriffen. Die Küstenwache fuhr sie ins offene Meer zurück und setzte sie mit ihrem Schlauchboot wieder aus. Vorher wurden ihnen alle Paddel abgenommen. Erst vier Stunden später wurde Hemal von der türkischen Küstenwache gerettet und der Polizei übergeben. Er wurde in Ayvacik inhaftiert. Am 19. Juli 2007 erfuhr sein Bruder, anerkannter Flüchtling in Schweden, dass die Abschiebung seines kleinen Bruders nach Afghanistan unmittelbar bevorstand. Für Freitag, den 20. Juli 2007 war die Abschiebung geplant. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stoppte innerhalb von drei Stunden die Abschiebung. Der 17-Jährige war über zwei Monate in der Türkei in Haft.
Alle von der Polizei an den griechischen Grenzen aufgegriffenen Personen werden als Ausländer betrachtet, die illegal eingereist sind (lathrometanastes - illegale Einwanderer). In der Regel inhaftiert die Polizei alle Aufgegriffenen und stellt für sie eine Abschiebungsanordnung aus. Das heißt: Allen Asylsuchenden, allen besonders Schutzbedürftigen, Opfern von Folter, Minderjährigen, Schutzsuchenden aus Herkunftsländern wie Irak, Afghanistan oder Somalia wird eine Abschiebungsanordnung ausnahmslos ausgehändigt und sie werden auf dieser Grundlage inhaftiert. Eine Einzelfallprüfung findet nicht statt. Das griechische Gesetz sieht eine Haftdauer von maximal drei Monaten vor.
Das Haftlager Mitilini besteht aus Lagerhallen. Vier Hallen gibt es für die männlichen Flüchtlinge. 40 bis 50 werden jeweils in solch einer Halle eingesperrt. Bei unserem letzten Besuch im Oktober sind die Sanitäranlagen defekt und laufen über. Eine dreckige Brühe aus Abwässern fließt durch die Tore auf den Hof. Der Kloakengeruch ist schwer zu ertragen. Die Flüchtlinge sind diesem 24 Stunden ausgesetzt, selbst der Hofgang wird ihnen verweigert.
Unten den Inhaftierten befinden sich mehrere schwer Verletzte. In fließendem Englisch berichtet ein irakischer Flüchtling: »Ich musste aus dem Irak fliehen, ich habe als Computerfachmann für die ›Koalition‹ gearbeitet. Deshalb wurde ich das Ziel von Angriffen.
Ich wurde bei einem Bombenanschlag verletzt, ich habe noch Splitter im Bauch.«
Er berichtet, dass er Schmerzen in den Nieren und beim Toilettengang habe und dringend Medikamente brauche.
Der Flüchtling stützt sich auf Krücken. Er bleibt zwei Wochen inhaftiert - ohne eine adäquate medizinische Versorgung.
Im zweiten Stock des Gebäudes gibt es zwei große Hallen für Frauen, Kinder und Jugendliche. In der linken Halle sind unbegleitete Minderjährige und junge Männer aus Afghanistan inhaftiert. Der Jüngste ist 12 Jahre alt. Viele von ihnen laufen auf dem nackten Betonboden barfuss. Bei der Flucht mit dem Schlauchboot über das Meer sind ihnen die Schuhe abhanden gekommen. In der rechten Halle sind Frauen mit Kleinkindern untergebracht. Zum Zeitpunkt unseres Besuches waren neun Frauen dort. Eine von ihnen ist hochschwanger. Zwei weitere Frauen sind stillende Mütter mit Babys von ca. 3 und 9 Monaten. In der Halle sind auch fünf Kleinkinder im Alter von 4-6 Jahren inhaftiert.
Minderjährige Flüchtlinge werden in Griechenland wie Erwachsene behandelt. Dies bedeutet im Zweifelsfalle, dass ihnen das gesamte Repertoire an Misshandlungen, Schlägen und Demütigungen zuteil wird.
Wir trafen Jugendliche, die ebenso wie erwachsene Flüchtlinge ohne jede Hilfe und Verpflegung auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt wurden.
"Mit unserem Schlauchboot hatten wir fast die vor uns liegende griechische Insel Lesbos erreicht. Plötzlich tauchte ein Boot der griechischen Küstenwache auf. Die Beamten schlugen uns. Dann fuhren sie mit uns zurück auf das offene Meer. Wir mussten unsere Gürtel und Schuhe ausziehen und wurden ohne Wasser und Nahrung auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt (...)."
Was geschieht, wenn die Jugendlichen aus der Haft freikommen? In der Regel reisen sie mit einer Fähre weiter nach Athen, um dort Schutz zu finden. In der Millionenstadt stehen jedoch gerade einmal 10 Aufnahmeplätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zur Verfügung. Wir treffen auf junge Flüchtlinge, die in Parks leben. Sie berichten von sexuellen Belästigungen und Übergriffen.
Wiederholt hat der griechische Ombudsmann auf die eklatanten Defizite des Aufnahmesystems für Flüchtlingskinder hingewiesen. Die Regelinhaftierung von bis zu drei Monaten verstößt sowohl gegen die griechische Verfassung als auch gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Griechenland hat diese ohne Vorbehalte unterzeichnet.
Doch die Rechte von Kindern stehen in Griechenland nur auf dem Papier.
Griechenland besitzt kein adäquates Aufnahmesystem.
Das griechische Aufnahmesystem stellt aktuell nur knapp 750 Unterkunftsplätze im ganzen Land bereit, aber über 2000 Haftplätze für Flüchtlinge und MigrantInnen.
Die meisten dieser Unterkünfte erfüllen nach Ansicht des UNHCR Griechenland nicht einmal minimale Standards.
Die Folgen des Mangels an Unterkünften und sozialer Versorgung liegen auf der Hand: Asylsuchende bleiben in Griechenland auch während des laufenden Verfahrens vielfach obdachlos und ohne jede soziale Unterstützung.
Die Zahl derer, denen ein Flüchtlingsstatus gewährt wird, tendiert in Griechenland gegen Null: Im Jahr 2004 erhielten 0,3 % aller Asylsuchenden einen Flüchtlingsstatus. Nimmt man die humanitären Schutzformen dazu, beträgt die Schutzquote 0,9%. Im Jahr 2005 stieg die Schutzquote minimal auf insgesamt 1,9 % (39 Personen), 2006 fiel sie wieder auf 1,2 %. Von 1. Januar bis Juli 2007 wurden 13.445 Asylanträge negativ beschieden (Somalia 77, Irak 2.649, Afghanistan 685, Iran 222, Sudan 75, Syrien 545). Bis einschließlich August 2007 erhielten 16 Personen einen Flüchtlingsstatus, 11 Personen einen humanitären Status.
Teil unserer Recherchereise war auch ein Aufenthalt in der Hafenstadt Patras, wo sich der zentrale Fährhafen nach Italien befindet. Im Hafengebiet von Patras trafen wir auf eine Gruppe Minderjähriger, die wir bereits im Gefängnis auf Lesbos getroffen hatten. Sie hatten sich mittlerweile von Lesbos über Athen bis nach Patras durchgeschlagen. Wie hunderte von Menschen warteten sie hier auf die Chance, nach Italien oder in ein anderes europäisches Land zu gelangen.
Die Flüchtlingskinder waren völlig ausgehungert, etliche wiesen teils schwere Verletzungen auf. Erneut hören wir von Misshandlungen durch die griechische Küstenwache, diesmal im Hafen, beim Versuch der Weiterreise innerhalb Europas. Die Flüchtlinge berichten, dass sie mit elektrischen Stöcken geschlagen worden seien.
Ein Junge aus Afghanistan erzählt, dass er bereits signalisiert hatte, von einem LKW wieder herunterzusteigen, als ihm ein Polizist einen gezielten Schlag von unten auf die Nase gegeben und dann schwer misshandelt habe. Ein anderer hat Verletzungen im Nierenbereich, auch er ist kaum älter als 16 Jahre. Die Flüchtlinge berichten uns, dass es zu Todesfällen kommt, wenn Flüchtlinge versuchen, auf einen LKW zu gelangen - einmal sei ein LKW-Fahrer bewusst angefahren und ein Junge sei zerquetscht worden.
Die von uns dokumentierten Menschenrechtsverletzungen haben europaweit Beachtung und in Griechenland zu einer heftigen gesellschaftlichen und parlamentarischen Auseinandersetzung geführt. Die Regierung versprach eine lückenlose Aufklärung. Skepsis ist geboten - in der jüngsten Vergangenheit blieben in Griechenland die Täter - Polizisten und Grenzbeamte - straffrei und die Opfer schutzlos.
Aus unserer Sicht ist dieser kritische Befund in einem europäischen Kontext zu bewerten. Die Außengrenze, die wir besuchten, ist eine Außengrenze der Europäischen Union. Für das, was hier geschieht, ist auch die Europäische Union verantwortlich. Die aktuelle Asylpolitik der EU vermittelt den Eindruck, dass es Europa nicht um den Schutz von Flüchtlingen geht, sondern um den Schutz Europas vor Flüchtlingen. Die Mitgliedsstaaten lagern ihre Verantwortung für den Flüchtlingsschutz aus. Derweil spielen sich an den Rändern Europas humanitäre Dramen ab, die zeigen, dass die EU-Staaten sich von elementaren Menschenrechtsstandards entfernen. Der Schlüssel zur Lösung der in diesem Bericht beschriebenen Probleme liegt deshalb nicht nur in Athen, sondern auch in Brüssel und in den Hauptstädten der gewichtigen EU-Mitgliedsstaaten, wie Deutschland, Frankreich, Britannien ...
EU-Bestimmungen, die besagen, dass Asylsuchende in der Regel ihr Verfahren in dem EU-Land betreiben müssen, das sie auf ihrer Flucht zuerst betreten haben, schaffen inhumane Bedingungen für Flüchtlinge und sind unsolidarisch gegenüber den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen. Wenn das sieben mal kleinere Griechenland im Jahr 2007 mehr Asylsuchende registriert als Deutschland, dann zeigt dies, dass es in Europa noch kein gemeinsames faires und solidarisches Asylsystem gibt. Die Länder im Zentrum Europas schotten sich immer effektiver ab. Flüchtlinge, die es von Griechenland aus schaffen, in ein anderes EU-Land zu gelangen, werden wieder zurück nach Griechenland geschickt. Die Folgen dieser Politik liegen auf der Hand:
Während sich die Kernländer der EU, insbesondere Deutschland, auf bequeme Art ihrer Verantwortung für eine humane Flüchtlingspolitik entziehen, wehren die EU-Mitglieder an den Außengrenzen vermehrt Flüchtlinge brutal ab.
Dies führt zu einer doppelten Verantwortungsverlagerung: vom Innenbereich der EU an die Außengrenzen, und von da in unsichere Staaten außerhalb der EU.
Dabei setzt Europa die Errungenschaften der Menschenrechtsentwicklung, auf die der Kontinent so stolz ist, an seinen Außengrenzen aufs Spiel.
Artikel von Karl Kopp, Europareferent von Pro Asyl und Vorstandsmitglied des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE, erschienen in: :: Graswurzelrevolution Nr. 325, Januar 2008