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Quellenangabe:
Bizarrer Rechtsstaat Deutschland: Heirate mich, Boris! (vom 27.03.2009),
URL: http://no-racism.net/article/2881/, besucht am 25.12.2024

[27. Mar 2009]

Bizarrer Rechtsstaat Deutschland: Heirate mich, Boris!

Wer in Tübingen einen Doktortitel hat, lebt gefährlich. Die Universitätsstadt droht promovierten Ausländern mit der Ausweisung. Da hilft nur die Hochzeit, zur Not mit dem Oberbürgermeister

Sie hat einen Doktortitel, ist einfallsreich und kann unterhaltsame Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Dr. phil. Nell Zink, 45, sucht dringend einen Ehemann. Einzige Bedingung: Er muss Deutscher sein, denn die US-amerikanische Übersetzerin mit Wohnort Tübingen muss sonst bald zurück in die USA. Das hat ihr die Ausländerbehörde der Stadt angedroht.

Schuld daran ist ihr Doktortitel, den hat die promovierte Medienwissenschaftlerin vor wenigen Monaten erhalten. Und eigentlich hatte sie sich darüber gefreut. Immerhin 'cum laude'. Doch dann kam das Ausländeramt.

Akademiker mit einem Doktortitel, so die Beamtenlogik, müssen in Tübingen mindestens dreitausend Euro im Monat verdienen, sonst gelten sie als nicht angemessen bezahlt. Und wer nicht angemessen bezahlt ist, erhält keine Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung. Stempel, Punkt und fertig.

Nell Zink schlägt sich trotz ihrer Promotion mit Übersetzungen durch und lebt von rund eintausend Euro. Sie fährt Fahrrad und trinkt Leitungswasser, das machen viele in Tübingen so. Sogar der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer.

An den musste Nell Zink sofort denken, als ihr der Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde als einzig rettenden Ausweg zu einer Ehe mit einem deutschen Staatsbürger riet. Palmer ist unverheiratet, könnte noch ein wenig Englisch-Nachhilfe vertragen und will seiner Stadt ein menschenfreundliches Image verpassen. Perfekt.

'Sehr geehrter Herr Palmer', schrieb Nell Zink und schickte, um Missverständnissen vorzubeugen, gleich eine Kopie des Briefes an die Frauenbeauftragte der Stadt, 'ich würde Sie gern bis Ende Juli 2009 heiraten.' Dann entschuldigte sie sich dafür, dass ihr die Idee 'Sex gegen Bleiberecht' nicht selbst gekommen war, und schränkt in dem Brief sofort ein: 'Ich glaube echt nicht, dass die Behörde von uns sexuellen Kontakt verlangen würde - bloß die gemeinsame Wohnung. Ich bin schon 45 und habe nie so besonders gut ausgesehen, muss sogar z. Zt. eine Zahnspange tragen, also ist die Ehe aus freien Stücken für mich ungefähr so wahrscheinlich wie der dreitausend-Euro-Job.' Der Brief endet mit den Worten: 'Ja dann, ich freue mich auf Ihre Antwort!'

Aber Boris Palmer schwieg. Stattdessen kam das Fernsehen. Der SWR hatte Wind von der Sache bekommen, und nun hat Nell Zink ihren Heiratsantrag am Montag dieser Woche auch noch über den Sender verbreitet. Mit ihrem Problem ist sie nicht allein: Auch anderen promovierten Akademikern wird von der Tübinger Ausländerbehörde ihr Doktortitel als Ablehnungsgrund für die Verlängerung des Aufenthaltsrechts vorgehalten. Entweder mehr verdienen oder gehen. So kämpft ein promovierter Sportwissenschaftler aus Israel seit Jahren vergeblich um eine längere Befristung. Der Herr Doktor ist eben "nur" Trainer in einem Sportclub.

Dabei ist es in Tübingen nichts Ungewöhnliches, dass eine Fahrlehrerin den Titel 'Dr. phil' in ihrem Firmenlogo trägt oder dass der Crèpe-Verkäufer am Marktplatz einmal über Hegel promovierte. Beide haben allerdings das Glück, einen deutschen Pass zu besitzen, denn auch sie sind nach Behördenlogik "nicht angemessen beschäftigt". Ausweisen kann sie jedoch niemand.

Mit der Ehe zwischen Nell Zink und dem Oberbürgermeister wird es wohl nichts. 'Solange ich nicht heiraten muss, helfe ich gerne in Zweifelsfällen', sagte Palmer gestern der taz. Im konkreten Fall aber setze das Land und der Bund die Einkommensgrenzen fest, die auch er und sein zuständiger Bürgermeister 'für fern der Lebenswirklichkeit' halten. Tübingen sei im Übrigen 'eine großzügige', erst vor kurzem habe er sich für den Verbleib einer Klinikärztin erfolgreich eingesetzt, 'und das war ein noch viel krasserer Fall', sagte Palmer.

Artikel in der taz, 27.03.2009