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Quellenangabe:
Flucht aus der Abschiebehaft Frankfurt am Main gelungen (vom 18.06.2009),
URL: http://no-racism.net/article/2995/, besucht am 20.04.2024

[18. Jun 2009]

Flucht aus der Abschiebehaft Frankfurt am Main gelungen

Algerier entkommt aus Justizvollzugsanstalt, Hetzkampagne in der Bild-Zeitung folgt auf dem Fuß: Stimmungsmache für Verschärfung der 'Sicherheitsgesetze'

Am Samstag ist dem 26jährigen Algerier Lyes B., dem die Abschiebung
drohte, die Flucht aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) im Frankfurter
Stadtteil Preungesheim gelungen. Mittags, zwischen elf und zwölf Uhr,
machte er sich beim einstündigen Hofgang auf den Weg in die Freiheit.
Dabei nutzte er die Gelegenheit, daß gerade renoviert wird. Ein Gerüst
erleichterte das Klettern über Mauer und Stacheldraht. Erst nach dem
Hofgang, beim Mittagessen, soll den Beamten aufgefallen sein, daß ein
Gefangener fehle. Als die Polizei mit zwölf Streifenwagen, Hunden,
Überfallkommando und Hubschrauber eine großangelegte Fahndung einleitete, war Lyes B. längst über alle Berge.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Geschichte der Flucht in der
algerisch-marokkanischen Community in Frankfurt am Main. Die Solidarität mit dem Entflohenen ist groß. Viele von ihnen hatten die Angst, abgeschoben zu werden, bereits am eigenen Leib verspüren müssen. Es herrscht in diesen Kreisen vielfach eine Mordswut auf die rigorose Abschiebungspolitik der hessischen CDU/FDP-Landesregierung. Die Geschichte, die bei den jungen Migranten kursiert, hört sich so an: Es gab keinen Fluchtplan. Aus Mitgefühl soll sich ein vorbeifahrender Marokkaner spontan entschlossen haben, den entflohenen Gefangenen, der sich am Stacheldraht verletzt hatte, mitzunehmen. Ein anderer Landsmann soll ihn anschließend verbunden und mit Medikamenten versorgt haben. Jetzt ist Lyes B. untergetaucht. Mit wem auch immer man aus der muslimischen Migrantenszene spricht: Für sie ist Lyes der Held des Tages, dem es mit seiner Flucht gelungen ist, einer vielfach als Unrecht angesehenen Härte der Ausländergesetzgebung ein Schnippchen zu schlagen.

Ganz anders kommentiert die Bild-Zeitung den Fall. Dort spielt man das
gänzlich unverantwortliche Spiel mit der Sensationsgier. Aus dem nach
Angaben einer Sprecherin des hessischen Justizministeriums völlig
ungefährlichen Lyes B., der keine Straftaten begangen habe, wird ein
'gewalttätiger Ausbrecher'. 'Zuletzt war die Bevölkerung sicher vor ihm', heißt es in Bild. Und: Schließlich habe 'dieser Gangster' seit zwei Wochen im Knast gesessen, erfahren wir. Wegen Bandendiebstahls, Hotel- und Restauranteinbrüchen, Körperverletzung und Widerstandes habe er abgeschoben werden sollen, behauptet Bild. Daneben wurde das Bild des jungen Algeriers abgedruckt.

Auf Nachfrage von junge Welt erklärte Anstaltsleiter Frank Lob am Montag: 'Zur Qualität dieses Artikels möchte ich mich lieber nicht äußern.' Nur soviel: Er entspreche nicht der Wahrheit. Gegen Lyes B. sei Abschiebehaft angeordnet worden, weil er gegen Bestimmungen des Ausländerrechts verstoßen habe. Abschiebehaft werde zudem generell nicht angeordnet, 'um die Bevölkerung zu schützen', sondern einzig, um zu verhindern, daß der Festgenommene - wie jetzt vermutlich Lyes B. - bei Freunden untertauchen könnte, so Lob weiter.

In Bild ist dagegen nachzulesen, in welche Richtung die Stimmungsmache
zielt: Hier soll offenbar wieder Stimmung für eine Verschärfung der
'Sicherheitsgesetze' gamacht werden, indem diffuse Ängste unter der
Bevölkerung geschürt werden. So heißt es u.a., Justizminister Jörg-Uwe
Hahn (FDP) koche 'vor Wut'. Das alles wird auf dem Rücken eines jungen
Manns aus Algerien ausgetragen, der Angst davor hatte, Deutschland
verlassen zu müssen.

Junge Welt vom 16.06.2009, Seite 4; Artikel von Gitta Düperthal