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Quellenangabe:
Bericht aus Teheran - der Freiheit (vom 20.09.2009),
URL: http://no-racism.net/article/3095/, besucht am 22.11.2024

[20. Sep 2009]

Bericht aus Teheran - der Freiheit

"Fuer was geht ihr auf die Strasse, jedes Jahr zum Ende des Ramadans und schreit wie ferngesteuert 'Freiheit fuer Palastina'? Geht es darum, sich zu solidarisieren mit denen, die geschlagen, gepeinigt, gefoltert, getoetet, kollektiv unterdrueckt, erniedrigt, ihres Selbbewusstseins beraubt werden; die ihrer Freiheit beraubt, der Herrschaft preisgegeben sind? ...

... Geht es euch, islamistische Freunde und Freundinnen, geht es euch um Gerechtigkeit - wie sie der Islam, die Hingabe zum Goettlichen, zur Liebe, vorsieht, dass mensch immer auf Seiten des Mazlums (der Ohnmaechtigen) sein muss? Wach auf, Schwester, Bruder! Sieh doch, wie die herrschende Ordnung im Iran, dich unterdrueckt, dich schlagt, dich toetet, dich deines Selbstbewusstseins, deiner Freiheit beraubt! Es ist Heuchelei, fuer Palastina auf die Strassen zu gehen, weil dort Ugerechtigkeit geschehe und im gleichen Atemzug seht ihr wie eure Schwestern und Brueder, wie du selbst, im Namen des Islams, im Namen des Einen, erniedrigt werdet! Was ist das fuer eine Luege! Fordern wir Freiheit, soziale Gerechtigkeit fuer alle Voelker dieser Welt, fuer alle Menschen, egal welche Sprache, welche Religion, welche Wahrheit ihnen zugaenglcih ist - das bedeutet aber auch, was fuer eine Ironie, das dazu sagen zu muessen, fordern wir Freiheit und soziale Gerechtigkeit auch im Iran!" [1]

Unendliche viele Menschen, es ist mir unmoeglich eine Zahl zu schaetzen, mir kam es so vor als waere die ganze Stadt eine Demonstration, waren heute in Tehran auf den Strassen, um sich erneut fuer eine gesamtgesellschaftliche Aenderung der Verhaeltnisse im Iran einzusetzen. Der heutige Tag (18.09.2009) ist der letzte Freitag im Fastmonat Ramadan, der Al-Quds-Tag. Seit bereits 20 Jahren ruft die herrschende Meinung im Iran an jenem Tag dazu auf, an einer inszinierten Demonstration in Solidaritaet mit Palastina teilzunehmen. Dieser Aufruf ist mittlerweile dermassen offiziell, dass es in allen oeffentlichen Kalendern gedruckt wird.

Doch heute sollte die Demonstration eine andere werden. Die Menschen in Teheran, die bereits nach der (manipulierten) Wahl von Ahmadi Nejad zum Praesidenten, die Strassen zum Aufstand fuellten, hatten genug von traditionellen, heuchlerischen Protesten. Wie in der Einleitung eine Demosntrantin zitiert, war am heutigen Al-Quds-Tag die Idee, den Raum anderes einzunehmen, die Palastina-Soli-Demo zu einer kritischen, d.h. tatsaechlichen, Demonstration umzugestalten. Nicht, dass man damit einverstanden waere, so ein Demonstrant auf dem Wege zur Versammlung, was die israelische Regierung in Palastina an Schrecken verbreitet, ein Land unter Besatzung genommen, tagtaeglich terrorisert und obendrein sich als Opfer darstellt, indem es das Leid was Juden in der Geschichte angetan wurde als Freibrief zur Unterdrueckung anderer Voelker missbraucht [...], nur ist es laengst an der Zeit in den Spiegel zu schauen, sich zu fragen: Was macht die iranische Regierung? Ist sie irgendwie besser? Wie geht es den Mensch im Iran, wie fuehlen sie sich?

Die Antwort ist laengst kein Geheimnis mehr, auch wenn es die Regierung gerne so haette, die Bevoelkerung im Iran ist angesichts einer Maschinerie der Unterdrueckung, die den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben, zu denken haben, bei nicht Einhalten unmenschliche Strafmassnahmen einsetzt - die Bevoelkerung im Iran, denen es nicht nur an Freiheiten fehlt, sondern die grossteils bis auf die Knochen oekonomisch ausgebeutet werden, in Armut leben muessen, sind zutiefst unzufrieden mit der herrschenden Ordnung.
So soll heute, statt platter Antiamerkanismus, statt der ueblichen Politik der Ablenkung, immer wieder als Parole zu hoeren sein: "Stuerzt den Dikator! Stuerzt die Diktatur!"

Als die ersten Menschen gegen 10 Uhr frueh beim 'Haft Tir Meidan' (Haft Tir Square) sich vorsichtig fuer den erneuten Aufstand sammeln, war dort schon eine kleinere Gruppe erkennbar, die jedoch eher fuer die traditionelle Demo gestimmt war, offensichtlich Anhaenger der autoritaeren Regierung. Es beginnen sich zoegerlich Blicke zu treffen, man schaut sich an, ist sich nicht sicher, wer fuer welchen Zweck hier ist, ob fuer den Aufruf im Staatskalender oder fuer den Aufbruch. Man ist achtsam, am Vortrag machte sich ueber das staatliche Fernsehen die Meldung breit, dass die Armee mit Gewalt gegen 'rebellische Aktivitaeten' vorgehen wird, d.h. es ist vor allem die Erkennungsmerkmale der Bewegung verboten: Haende gebunden in Schlaufen aus Gruen, hochgehalten zum Viktoryzeichen; schon gar nicht erlaubt, sich alternativ zu sammeln, 'rebellische Parolen' zu skandieren, wie etwa: "Wenn die Regierung bleibt, wird jeder Tag wie dieser!", wie sie von allen Ecken der Stadt bis zum Sonnenuntergang noch zu hoeren sein wird.

Die ersten geben sich zu erkennen, zeigen Farbe, bald wird klar, dass bis auf diese Gruppe, alle zur Rebellion gekommen waren. Die Menschen werden selbstbewusster, wie von geisterhand, werden es innerhalb kurzer Zeit Tausende, dann unueberschaulich, stehe auf einer Bruecke, mache Videos mit meiner Handkamera, unendlich erscheinen die Menschen, wo auch immer das Auge blickt. Es ist nun entschieden, der Inhalt der Demonstration ist definitiv nun ein anderer, der Aufstand war intellegent, nutze eine Veranstaltungen der Regierung um sie umzufunktionieren: "Nicht fuer Gaza, nicht fuer Libnaon, wenn sterben, dann fuer die Freiheit!" [2]

Das Herz schlaegt hoeher, die Stimmung emotional, geladen; "unmoeglich, es gibt fuer den Iran kein zurueck mehr in eine repressives System der Heuchelei, fuer ein Ankommen der Zukunft!" sagt mein Freund mit leuchtenden Augen. Es geht in Richtung 'Azadi Meidan' (uebersetzt 'Platz der Freiheit'). Eine Frau, kreativ, pflueckt von Baum einen Ast mit gruenen Blaettern, haelt sie hoch in die Luft, atmet die Stimmung in Gruen tief ein, die gemeinsame Farbe des Aufstandes, im Chore mit all den Anderen schreit sie heraus: "Hab keine Angst, du bist nicht allein!"

Eine junge Frau [3] haelt am Strassenrand ein Plakat mit einem nachdenklichen, ebenso jungem, Gesicht darauf abgedruckt in den Haenden: "Der hat mit uns studiert, sie haben ihn umgebracht!" Die Zahlen der Toten seit dem Beginn des Aufstandes im Juni ist nicht bekannt, Dutzende werden vermutet, auch nicht wieviele in den Gefaegnissen eingsperrt sind. Die Menschen schreien "Ende der Poltik des Gefaegnisses, Freiheit fuer alle politisschen Gefangenen!", "Wenn ihr verhaftet, werden wie eure Hoelle sein!"

Beim 'Valiasr Meidan' angekommen, war die Buehne fuer die Abschlusskundgebung aufgebaut, aber auch dort nur wenige Anhaenger der Regierung, kaum erkennbar. "Wenn ihr der Islamismus der Unterdrueckung seit, sind wir der Islamismus der Freiheit!" [4]

So ist die autentistische Theorie die Praxis selbst: Falls die Freiheit noch immer, die Freiheit des Andersdenken bedeutet, Demokratie etwas mit Toleranz, mit dem Aushalten der Kontroverse zu tun hat, gab es in Teheran was zu lernen. Die kleinen Gruppen von Regierungsanhaengern, die von einer Masse der Rebellion ueberflutet war, wurden nicht attackiert. Als wollte man die kommende Gesellschaft unter Beweis stellen, wurde der Oppositon zur Revolte im eroberten Raum Platz gegeben. Doch nochmals musste die Anhaenger von Ahmadi Nejad ihre Fratze zeigen, und versuchten in einem ruhigen Moment kurz einen Angriff, Ziel waren vor allem Khatami und Mousavi [5], die sich unter den Demonstrant/innen befanden; erfolglos, der Angriff war auf halben Weg schnell abgewehrt, die Angreifer wurden jedoch nicht verfolgt, eine Provokation des vielversprechenden Tages wollte man nicht mitmachen.

Freunde rufen an, auch auf der anderen Seite der Stadt, rund um die Universitaet haben sich Massen versammelt, ziehen durch die Strassen. Auch in anderen Orten Irans, soll es zahlreich zu Protesten gekommen sein, in Orumieh, Esfahan, Shiraz, Tabriz, Mashad, Hameda, Mazandaran (u.a.) wurde ebenfalls die tradionelle Demonstration vom Aufstand eingenommen. Im Staatsfernsehen werden Bilder von der Palastina-Demo vom letzten Jahr ausgestrahlt, wuerden Bilder von heute gezeigt werden, dann muesste das Staatsfernsehen die Revolte zeigen, muesste die Botschaft der Bevoelkerung zeigen: die Regierung ist selbst jenes Ungeheuer, was er in seiner Poltik der Parnoia immer wo anders verortet.

Waehrend das Internet nicht funktioniert bzw. nur geringfuehig (wir fragen uns: steht die Kommunikation etwa schon wieder unter Zensur, wurde schon wieder das Internet grossteils abgeschalten, nur offzielle Seiten der Regierung abrufbar, wie so oft waehrend der Tage im Juni, um das organisieren zu erschweren?), so moechte ich die Zeit nutzen, um eine Botschaft einer Freundin noch nieder zu schreiben: "Der Widerstand im Iran braucht ebenfalls keine heuchlerische Solidaritaet von Menschen im 'Westen'. Hand aufs Herz, was wuerden eure Regierungen machen, wenn sie wirklich Angst davor haette gestuerzt zu werden? Wir sahen Bilder vom G8 in Genua, obwohl es nicht zum Ziel eine Revolution hatte, sondern 'nur' ein Protest war; wie die Carbineri Menschen noch in ihren Schlafsaecken verpruegelt hat, wie ein Demonstrant erschossen wurde; wir sehen wie tag taeglich Migrantinnen und Migranten in "Schubhaft" ermodert werden, die noch nicht mal irgendeine Tat begangen haben, wir haben die Brutalitaet in Griechenland verfolgt, wir sahen die Bilder von Pagani... So wollen wir bitte ehrlich sein, lassen wir nicht zu das rassisitische Stereotypen, Vorurteile unsere gemeinsame Sehnsucht nach einer anderem Leben, einer andern Welt ueberschatten. Solidaritaet kann nicht bedeuten, dass ihr uns wie minderwertige Laender, Kulturen betrachtet, dabei euch selbst als ach soviel besser, als haettet ihr euch schon von euren gewaltaetigen Regierungen emanzipieren koennen. So lasst uns gemeinsam kaempfen. Wir geben bereits viel dafuer, sehr viel. Und du?")



Anmerkungen

[1] Aus einer spontanen Rede, ohne Megaphon, von einer Demonstrantin am 'Haft Tir Meidan' in Teheran zu Beginn der Proteste heute am 18.September 2009. Frei uebersetzt ins Deutsche.

[2] Davon gab es auch die nationalistische Version: ''Nicht fuer Gaza, nicht fuer Libanon, wenn sterben, dann fuer den Iran'' Ueberahupt konnte man durch Parolen sehr gut die unterschiedlichen Standpunkte erkennen.

[3] Der ueberwiegende Teil, zumindest in dem Kilometer, den ich rund um mich blicken konnte, waren aufallend viele Frauen; wie auch schon bei den vorgegangenen Demonstrationen. Mine sagt, dass liege vor allem daran, dass die Frauen noch ein groessers Problem haben mit dem herrschenden System, sind merhfachbelastet. Das Selbstbewusstsein der Frauen bei den Demonstrationen in Teheran (aber auch im Alltag), der Mut den sie aufbringen, die Entschossenheit fuer ihre Freiheit, fuer soziale Gleichstellung, koennte, wenn es verblendende Vorurteile zulassen koennten, vorbildhaft sein fuer so manche Feministin im Westen.

[4] Dies muss dazu gesagt sein, der Aufstand birgt in sich unterschiedlichste politische Stroemungen, neben sozialistisch/kommunistischen Weltanschauungen, buergerlich Liberalen(, Anarchismus gibt es kaum und eher als theoretische Position), doch der grossteil steht dennoch nicht im Widerspruch mit dem Islamismus. Z.b. Selbst eine Frau, die ihre Kopftucher waehrend den Aktionen fuer einen Monent fallen lassen, um damit gegen den Zwang zu protestieren, koennen dabei noch immer ‚Allah u Ekber’ skandieren (das heisst 'Allah ist das Grosse', vielleicht besser uebersetzt mit: 'Allah ist das Ganze', wobei Allah hier einfach die Einheit des Ganzen meint; also nicht ganz das selbe, was man in der ueblichen abendlaendischen Theologie unter "Gott" als reiner Schoepfergott bzw. als Menschwerdung Gottes versteht...). Islamismus wird im Iran, ueberhaupt im nahen und mittleren Osten grundsaetzlich anders verstanden, als wie es im Westen, im 'War against Terror', diskutiert bzw. propagiert wird als eine einheitliche superautoritaere Ideologie. 'Islam' ist hier zunaechst wortwoertlich zu verstehen, als die Hingabe an Allah, d.h. an das Ganze des Seins, ein gewisses Vertrauen darin, in die Allgemenheit der Existenz, in dessen regulative Gerechtigkeit (daher ist auch soziale Gerechtigkeit immer schon ein zentrales Thema). Man kann ohne weiteres im Iran Islamisten (in diesem Sinne) begegenen, die nicht noch nicht einmal an den bestehenden Koran als heilige Schrift glauben, die der Meinung sind, dass dieser schon damals von den Herrschenden verfaelscht worden sei, wie es ihrer Herrschaft gepasst habe, dass gerade das islamistische Verstaednis die Ablehnung eines Buches als totale Wahrheit, d.h. als herrschenden ueber der Einheit Allahs, ablehnen muesste. (diese libaerten Positionen sind, soweit es ueberhaupt vergleichbar ist, am ehersten zu vergleichbar mit dem 'angagierten Budismus', Teile der Befreiungstheologie im Christetum (wie etwas in Chiapas), oder mit freiheitlich sozialen Stroemungen im Judentum, aber auch ueberhaupt mit poltisch-philosophischen Konzeptionen von Welt und Gesellschaft...).

[5] Obowhl der Name Mousavi oft in Medien genannt wird als der 'Anfuehrer der Oposition', darf man nicht vergessen, dass fuer viele der Wahlbetrug, der die Amchtergreifung Moussavis verhindert hat, nur eine gute Ausrede ist, um auf die Strassen zu gehen. Die Meisten, so stellt es sich zuoft in Dikussionen heraus, scheinen tatseachlich, nach 30 Jahren Unpolitik, begriffen zu haben, dass es so grundsaetzlich nicht weiter gehen kann. Dennoch sind die Leute sehr vorsichtig, weil schon einmal die Revolution (1979 - bzw. nach dem Sonnenkalender, der im Iran benutzt wird, im Jahre 1357) schon damals die Revolution in eine falsche Richtung sich entwicklet hat. Vorsichtig bedeutet jedoch nicht, dass eine Reform des Bestehenden erwuenscht ist, es ist Wachsamkeit fuer eine kommende, grundsaetzlich anderere, befreite Gesellschaft - das noch kein Modell hat.