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Quellenangabe:
Rassismus als Motiv: Repression gegen Migrant_innen in Calais (vom 23.09.2009),
URL: http://no-racism.net/article/3099/, besucht am 29.03.2024

[23. Sep 2009]

Rassismus als Motiv: Repression gegen Migrant_innen in Calais

Am Morgen des 22. September 2009 umkreisten hunderte Polizist_innen den größten der Jungles in Calais. Dann startete die gewalttätige Räumung und Verhaftung von Migrant_innen. Die Polizei kündigte weitere Razzien, Räumungen und Verhaftungen in den kommenden Tagen an. Leute vor Ort brauchen Unterstützung!

Die Räumung wurde schon Tage zuvor von Politiker_innen und Polizei über Medien angekündigt. Etliche der Migrant_innen zogen es vor, bereits vor der angedrohten Räumung zu verschwinden. In der Nacht vor der Räumung versammelten sich Aktivist_innen, die zur Unterstützung nach Calais gekommen sind, und die verbliebenen Migrant_innen - immer noch hunderte - im Pashtun Jungles, der größten der selbst errichteten Siedlungen von Migrant_innen in Calais. Aus zahlreichen Transparenten wurden die Behörden aufgefordert, den Jungle nicht zu räumen. Die Migrant_innen protestierten gegen die Zerstörungen ihre Unterkünfte, gegen drohende Abschiebungen und für ihre Rechte als Menschen.

Am 22. September nach Mitternacht waren mehr und mehr Polizist_innen, Jeeps und LKWs des Militärs und Hubschrauber zu sehen. In den frühen Morgenstunden kreisten mehrere 100 Polizist_innen den Jungle ein. Die Behörden hatten zur angekündigten Räumung mehrere Hundertschaften der CRS, Einheiten zur Aufstandbekämpfung, nach Calais beordert. Rund um den Jungle versuchten Aktivist_innen und solidarische Menschen eine Kette zu bilden, um das Vordringen der Polizei zu stoppen. Alarmiert durch die wochenlangen Kampagnen gegen die drohende Räumung und die Propaganda von Regierung und lokalen Politiker_innen waren zahlreiche Medien anwesend.


Die Räumung beginnt...


Kurz nach 7:00 griff die Polizei an. Die Aktivist_innen wurden teilweise weggebrügelt. Dann wurden alle anwesenden Migrant_innen nach und nach festgenommen. Die Migrant_innen leisteten keinen Widerstand gegen ihre Verhaftung. Viele von ihnen sind noch Kinder - und die Verzweiflung angesichts des Umstandes, das ihr Dorf in Calais und damit ein Teil ihres Lebens nun zerstört wird, war vielen ins Gesicht geschrieben. Vom "würdevollen Vorgehen" bei der Räumung, wie sie der französische Innenminister Besson angekündigte hatte, war nichts zu merken.

Während die Migrant_innen an vorerst unbekannte Orte gebracht wurden - laut Auskunft der Polizei wurden unter 18jährige in eigene Unterkünften gebracht - wurden die Aktivist_innen vorübergehend eingekesselt. CRS Einheiten waren weiterhin in der Gegend unterwegs, um Leute zu fangen. Später wurde bekannt gegeben, dass während der Razzia 278 Pashtun verhaftet wurden, davon 146 über 18jährige und 132 unter 18jährige.


Rassismus als Rechtfertigung


Mehrere Polizeispitzen und Politiker_innen kamen zum mittlerweile komplett geräumten Ort des Geschehens und bewiesen mit ihren rassistischen Aussagen einmal mehr ihre menschenverachtende Einstellung. So sagte der stellvertretende Polizeichef von Calais, Debousquey, dass sie die Jungles in Calais nicht mehr akzeptieren würden. Die Zustände dort wären zu miserabel - nicht erwähnend, dass die Behörden in den vergangenen Monaten viele Versuche zur Verbesserung der Lebensqualität verhinderten. So bereits vor einigen Monaten öffentlich zugängige Duschen von Hilfsorganisation geschlossen und seither alle Ansuchen von NGO's untersagt, neue Duschen zu errichten. Ärzt_innen und Hilfsorganisationen, die medizinische Hilfe anboten, wurden unter Druck gesetzt, Migrant_innen am Weg zur Essensausgabe oder zur medizinischen Versorgung festgenommen und auf die Polizeistation mitgenommen oder einfach mehrere Kilometer entfernt ausgesetzt. Es kam zu permanenten Razzien und Übergriffen durch die Polizei...

So wurde von offizieller Seite eine Situation erzeugt, die nun als Begründung Debousquey's für die Räumung ausgegeben wird. In einer Stellungnahme zur Räumung sagte er, "... wir können diesen Jungle nicht akzeptieren, er ist ein Skandal im Sinne von Recht und Hygiene, im Sinne von Kriminalität, deren erste Opfer die Migranten selbst sind, die hier campten." (:: Debousquey's Aussage auf Video im Guardian) In diesem Sinne wurde argumentiert, dass es die Jungles Orte des Menschenhandels seien - ein beliebtes Argument der Rassist_innen, die damit ihr brutales Vorgehen rechtfertigen wollen.


Der Druck aus Großbritannien


Unterstützung durch rassistische Argumente bekamen die französischen Behörden aus Großbritannien. Innenminister Alan Johnson zeigte sich erfreut über das Vorgehen der französischen Polizei und vertrat die Meinung, "echte Flüchtlinge" sollten in jenem EU-Land um Asyl ansuchen, das sie als erstes betreten. Wichtig ist zu wissen, dass sich das repressive Vorgehen in Calais auf Druck der britischen Regierung zusätzlich verschärfte. Die britische Regierung will seit langem, dass die Migrant_innen in und um Calais vertrieben werden, da sie sich so davon erhofft, dass damm weniger Menschen versuchen werden, heimlich in GB einzureisen. Und über Calais führt die am meisten genutzte Route über den Ärmelkanal.

Um die Pläne zur Vertreibung der Migrant_innen in Calais umzusetzen fand am 6. Juli ein französisch-britisches Gipfeltreffen in Evian statt, bei dem die Regierungsvertreter_innen beider Staaten über das konkrete Vorgehen diskutierten und umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung stellten. Zur angekündigten Räumung unmittelbar nach dem Gipfeltreffen kam es zwar nicht, doch wurde festgehalten, dass noch in diesem Jahr die Unterkünfte der Migrant_innen in und um Calais zerstört werden sollen. Doch ist dieses Vorgehen nicht auf einen Akt zweier Staaten zu reduzieren, sondern im Gesamtkontext des zunehmend repressiveren Vorgehens gegen Migrant_innen innerhalb der gesamten EU zu sehen.

Um dem Einhalt zu gebieten bedarf es einer generellen Änderung der rassistischen Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik der EU, die mehr und mehr von Internierung und Deportation geprägt wird. Quer durch Europa werden neue Abschiebe- und Internierungslager für Migrant_innen und Flüchtlinge errichtet und auch in Calais gibt es Pläne, ein neues, größeres Abschiebelager zu bauen.


Unterstützung dringend benötigt!


Die Aktivist_innen, die in weiterhin in Calais sind, rufen drigend dazu auf, sie zu unterstützen. Viele sind ermüdet und haben keine Ahnung, wie sie mit der sich mehr und mehr zuspitzenden Situation umgehen sollen. Viele Migrant_innen wenden sich an sie und bitten um Unterstützung. Doch wie kann diese Unterstützung aussehen? Kann die weitere Zerstörung der Unterkünfte von Migrant_innen gestoppt werden? Wo sollen die nun obdachlosen Menschen unterkommen? Wie können sie die massiven Kontrollen der Polizei entgehen, die eine permanente Menschenjagd veranstaltet?

Und dann ist dann noch die Frage, was mit den hunderten Festgenommen geschieht. Die Polizei kündigte an, die Situation der Festgenommenen zu überprüfen und jene, die über gültige Papiere verfügen, wieder frei zu lassen. Doch ist bekannt, dass der Großteil über keine Papiere verfügt. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass es in den kommenden Tage zu Massenabschiebungen kommt. Daraus ergibt sich eine weitere Frage: Wie kann das verhindert werden?

Viele Fragen, auf die es im Moment keine befriedigenden Antworten zu geben scheint. Doch sollte dies nicht dazu führen, den Kopf in den Sand zu stecken. Denn wie es aussieht ist das derzeitige Vorgehen gegen Migrant_innen in Calais nur ein Teil einer verschärften :: rassistischen Politik in Europa. Weitere gesetzliche Änderung sind in Vorbereitung und Ende November / Anfang Dezember soll in Brüssel das Stockholmer Programm unterzeichnet werden, das diesen repressiven Trend fortsetzen und die Rahmenbedingungen für die kommenden fünf Jahre festlegen wird.

Wo auch immer diese Entwicklung hinführen wird, ist es wichtig, nicht aufzugeben. Die Aktivist_innen in Calais rufen drigend dazu auf, sie zu unterstützen. Sie ersuchen alle, denen es möglich ist, in die französische Hafenstadt zu kommen und sich an der Überwachung der Polizei zu beteiligen und Migrant_innen aktiv zu unterstützen. Interessierte können Leute vor Ort kontaktieren über:
Telefon: 00 33 6 34 81 07 10
e-mail: calaisolidarity (at) gmail.com

Drigend benötigt werden außerdem Spenden, da zahlreiche Unterkünfte und Zelte zerstört wurden. Es gibt keine Unterstützung von offizieller Seite - von dort droht bestenfalls die Verhaftung. Spenden - auch kleine Beträge sind willkommen - können auf folgendes Konto überwiesen werden:
Account Holder : ASS ALDIR
IBAN : FR76 1350 7001 4747 0335 7190 547
BIC : CCBPFRPPLIL
Bank: Banque Populaire du Nord

Alle, die nicht nach Calais kommen können oder wollen werden :: zu Aktionen überall in Europa aufgerufen. Am Mittwoch, 23. August 2009 ist :: ein Aktionstag in GB. Die Proteste mit Fokus auf die britischen Grenzbehörden richten sich gegen eine koordinierte europäische Vorgangsweise zur Einschränkung von Migration. Denn was heute in Calais geschieht, kann morgen überall geschehen...

Im Bericht :: Protestiert gegen die geplante Räumung und Abschiebung von Migrant_innen in Calais! finden sich Adressen von französischen Auslandsvertretungen in Österreich. Weitere Aufrufe, Informationen und regelmäßige Updates von Leuten vor Ort gibt es auf :: calaismigrantsolidarity.wordpress.com, :: indymedia.org.uk (englisch) und :: lille.indymedia.org (französisch).