Quellenangabe:
Residenzpflicht abschaffen (vom 09.04.2010),
URL: http://no-racism.net/article/3318/,
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[09. Apr 2010]
Flüchtlinge sind in Deutschland der »Residenz- pflicht« unterworfen. Werden sie von der Polizei außerhalb des zugewiesenen Landkreises ohne »Urlaubsschein« angetroffen, werden sie mit Bußgeldern oder Gefängnis bestraft. Dagegen formiert sich eine immer stärkere Bewegung.
»Zwei Kontrollen hintereinander! Welcher Deutsche würde das akzeptieren? Kein normaler Mensch akzeptiert so was. Wenn ich solche Sachen erzähle, sagen die Leute: Das ist unglaublich, das kann nicht stimmen! Aber wenn ich unterwegs bin, treffe ich immer einen Polizisten. Kontrolle, Ausweis, Kontrolle, Ausweis. Ich habe oft gefragt, warum sie das so machen. Sie kommen immer nur zu dir. Sie kommen wirklich wegen der Hautfarbe, wegen des Aussehens.« (ein sudanesischer Flüchtling in der Uckermark)
Flüchtlinge sind in Deutschland der »Residenzpflicht« unterworfen, ihr Aufenthalt ist auf einen Landkreis beschränkt, den sie ohne Erlaubnis nicht verlassen dürfen. Werden sie von der Polizei ohne »Urlaubsschein« angetroffen, werden sie bestraft, mit Bußgeldern oder Gefängnis. Gegen diese Verletzung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit formiert sich eine immer stärkere Bewegung.
Seit fast 30 Jahren existiert die »räumliche Beschränkung des Aufenthalts«, die 1982 mit dem damals neuen Asylverfahrensgesetz eingeführt wurde. Es war der vorläufige Höhepunkt einer bis dahin beispiellosen rassistischen Kampagne gegen »Asylantenfluten«, wie PolitikerInnen angesichts der seit 1978 gestiegenen Asylantragszahlen hetzten. Konsens unter den etablierten Parteien von SPD bis CDU/CSU war, »Dämme gegen die Fluten« zu errichten und weitere Flüchtlinge abzuschrecken, indem ihre Lebensbedingungen so unattraktiv wie möglich gemacht wurden. Ein »Bündel flankierender Maßnahmen« wurde verabschiedet: Lagerpflicht, Residenzpflicht, Arbeitsverbot, Gutscheine statt Bargeld, Essenspakete, gültig bis heute. »Die Buschtrommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager«, so der damalige Ministerpräsident Lothar Späth. Das System des institutionellen Rassismus wurde geschaffen, eine Gruppe von Menschen wurde unter Generalverdacht gestellt, BetrügerInnen und Kriminelle zu sein. Die extreme Rechte griff das von Politik und Medien gesetzte Thema dankbar auf.
Die Demütigung fängt schon bei der Antragsstellung an. Die Ausländerbehörde entscheidet darüber, ob ein »zwingender Grund« oder eine »unbillige Härte« vorliegt, um zu entscheiden, ob ein Flüchtling reisen darf. Der gesetzliche Kontrollauftrag konstituiert ein Machtverhältnis, das zu Willkür einlädt. Manche Behörden verlangen neben Angaben über das Reiseziel Meldebescheinigungen und Einkommensnachweise der GastgeberInnen, die besucht werden sollen. Privatsphäre existiert für Flüchtlinge nicht. Andere Behörden verlangen Gebühren bis zu 10 Euro pro Urlaubsschein, ohne gesetzliche Grundlage.
Zusammen mit der Unterbringung in isolierten Lagern, bisweilen regelrechten »Dschungelheimen«, verwandelt die Residenzpflicht das Land für Flüchtlinge in ein Gefängnis. Die Mehrzahl bricht aus der Isolation aus und begibt sich auch ohne behördliche Genehmigung in die großen Städte, um überleben zu können. Hier schlägt die Residenzpflicht ein zweites Mal zu: in Zügen, auf Bahnhöfen, an »gefährlichen Orten« (Polizeijargon) kontrolliert die Polizei alle, die »fremdländisch« aussehen. Das erhöht die Trefferquote, so kann die kontrollierende Polizeieinheit »Erfolge« einfahren. Vor allem People of Colour sind den rassistischen Polizeikontrollen ausgesetzt.
Es bleibt nicht bei den Kontrollen. Bereits in den ersten drei Monaten nach ihrer Ankunft in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt muss die Hälfte der Flüchtlinge ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen die räumliche Beschränkung zahlen. Im Wiederholungsfall kommt eine Geldstrafe, dann eine Haftstrafe. In Thüringen verurteilte ein Gericht im Jahr 2009 den kamerunischen Flüchtling Felix Otto zu acht Monaten Gefängnis, die Behörden schoben ihn während seiner Haftzeit ab.
Wie viele Flüchtlinge kriminalisiert werden, ist schwer zu ermitteln. Im Jahr 2008 waren es bundesweit etwa 13.000. Rund 40 Prozent der Flüchtlinge, die aus ländlichen Regionen in die größeren Städte fliehen, werden jedes Jahr bestraft. Nach groben Schätzungen sitzen jährlich zwischen 200 und 300 Flüchtlinge wegen Residenzpflichtverstößen im Gefängnis.
Schon vor zehn Jahren formierte sich eine breite Bewegung gegen die Residenzpflicht, getragen von den Flüchtlingsselbstorganiationen »The Voice« und der »Brandenburger Flüchtlingsinitiative « (FIB) sowie von der »Karawane für die Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen«. Höhepunkt der damaligen Kampagne waren Aktionstage im Mai 2001 auf dem Berliner Schlossplatz und eine Demonstration mit 4000 TeilnehmerInnen, zum größten Teil Flüchtlinge. Mit der Verschiebung des Diskurses nach 9/11 und der Debatte um das Zuwanderungsgesetz wurde es um die Kampagne ruhiger. Viele hofften auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das kam Ende 2007, zu Überraschung aller eine Bestätigung der deutschen Regelung, die in Europa einmalig ist.
»Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen.« - so heißt es in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Straßburger RichterInnen wollten jedoch besonders kreativ sein bei der Aushöhlung von Menschenrechten und argumentierten, dass in Deutschland der Aufenthalt für Flüchtlinge außerhalb des zugewiesenen Landkreises nicht rechtmäßig sei, sie daher nicht das Recht hätten, »sich dort frei zu bewegen«. Die Bezeichnung für diese Denkfigur heißt Zirkelschluss.
Seit 2008 kommt ein neuer Schub in die Debatte über Residenzpflicht, Parteien reagieren auf die immer zahlreicheren Aktionen auf der Straße und vor Gerichten. Selbst die SPD, die 1982 die Gebietsbeschränkung einführte, kommt angesichts gesunkener Asylantragszahlen langsam von der Doktrin Abschreckung durch Residenz- und Lagerpflicht ab. Im Bayerischen Landtag fand im April 2009, eine Woche nach der erfolgreichen »LagerInventour« des Flüchtlingsrats und anderer Gruppen, eine Anhörung über Residenz- und Lagerpflicht statt. In Brandenburg schrieben SPD und Linke die Abschaffung der Residenzpflicht in den Koalitionsvertrag vom November 2009.
Berlin und Brandenburg stehen kurz vor einem Durchbruch: Am 22. Februar 2010 hörte der Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses mehrere ExpertInnen. Zur Prüfung stand ein Vorschlag des Flüchtlingsrats Brandenburg, für AsylbewerberInnen im laufenden Verfahren die Bewegungsfreiheit zwischen Berlin und Brandenburg herzustellen. Die Sachverständigen legten dar, dass sich gegen eine solche Regelung keine Argumente finden lassen. Doch der Berliner Innensenat scheint zu zögern. Zu hoffen ist nur, dass der Senat nicht bei dieser Auffassung bleibt. Gelänge die Zusammenlegung für Asylsuchende, wäre der Beweis erbracht, dass schon jetzt, vor einer Änderung des Bundesrechts, das Kontrollsystem auf Länderebene aufgebrochen werden kann. Die bundesweite Signalwirkung wäre gewiss.
Bis dahin wird es noch ein steiniger Weg sein, mit Rückschlägen und Angriffen, wie jenem am 22. Januar 2010 in Zossen/Brandenburg, wo ein 16-Jähriger aus dem Umfeld der »Freien Kräfte Teltow-Fläming« einen Brandanschlag auf das von einer Bürgerinitiative gegen Rechts betriebene »Haus der Demokratie« verübte. Dort war am selben Tag die Ausstellung »Residenzpflicht - Invisible Borders« untergestellt worden, gerade aus Hannover zurück. Material im Wert von 2.000 Euro und ein halbes Jahr Arbeit wurden zerstört.
Zweierlei ist wichtig: eine praktische Unterstützung von betroffenen Flüchtlingen, etwa bei Prozessen; und ein direkter Druck auf PolitikerInnen, auf allen Ebenen, auf Landes-, Kreis- und Bundesebene. Die Dinge sind in Bewegung gekommen, es hängt von der Stärke der Bewegung ab, ob die Residenzpflicht geknackt wird - und damit ein zentraler Baustein des institutionellen Rassismus.
Dieser Artikel von Von Kay Wendel erschien zuerst in :: Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 86/2010.