Quellenangabe:
Enjoy Brüssel? Ein Rückblick auf das No Border Camp 2010 (vom 06.01.2011),
URL: http://no-racism.net/article/3627/,
besucht am 24.11.2024
[06. Jan 2011]
Folgender Bericht gibt einen subjektiven und unvoll- ständigen Einblick in die Ereignisse vom 25. Sep - 7. Okt 2010 in Brüssel. Er wurde für die Graswurzel- revolution verfasst und von no-racism.net überarbeitet.
Innerhalb zweier Tage war das ganze No Border Camp in Brüssel wieder abgebaut. Die selbst gebauten Toilettanlagen, Duschen, Infowände, Küchen und die Zelte, in denen Plena und Workshops abgehalten und Filme gezeigt wurden. In der letzten Nacht sammelten sich die wenigen noch anwesenden AktivistInnen in der riesigen leer geräumten Halle, dem Indoor-Bereich des Camps, zu einem kleinen Haufen und diskutierten die Geschehnisse der letzten Tage. Was ist in dieser Woche passiert?
Repression, unverhältnismäßige Polizeigewalt, willkürliche Kontrollen und Gewahrsamnahmen waren Alltag. Jedoch bei näherer Betrachtung steckte dahinter eine Strategie: Alle Demonstrationen, die nach Polizeieinschätzung gefährlich werden könnten, sollten mit allen Mitteln unterbunden oder zumindest beeinträchtigt werden. Die CampteilnehmerInnen wurden per se als "sehr gefährlich" eingeschätzt, eine mediale Vorverurteilung und Kriminalisierung war von Anbeginn gegeben.
In der Folge übernahmen Mainstreammedien ungeprüft Polizeiaussendung und verschwiegen, was nicht ins Bild passte. Wie etwa willkürlich knüppelnde (Zivil)PolizistInnen. Nur die Großdemonstration am Samstag fand ein positives Echo und wundervoller Weise fanden sich darin auch Pressestatements des Camps wieder.
Beginnen wir mit dem ersten Aktionstag am 27. September. Dieser stand im Gedenken an Semira Adamu, die am 22. September 1998 bei der Abschiebung getötet wurde. In Belgien ist ihr Fall bekannt und alljährlich finden rund um ihren Todestag politische Gedenkkundgebungen statt. Ihr Tod ist ein Resultat der europäischen Abschiebepolitik. Wer Abschiebungen kritisiert und ablehnt, muss auch die dazugehörigen Lager kritisieren und ablehnen. Deshalb zog eine 100 Menschen starke Demonstration zum bestehenden Abschiebelager 127bis und dem in Bau befindlichen 127tris. Für kurze Zeit konnten durch Zäune und Gitter getrennte inhaftierte und demonstrierende Menschen durch Winken und Rufen miteinander sprechen. Die gesamte Aktion war geprägt vom repressiven und brutalen Vorgehen der Polizei, die mehrere Personen vorübergehend festnahm, um ihre Personalien festzustellen und Verfahren androhte.
Inhaltlich waren der europäischen Abschiebepolitik und dem Kampf gegen diese mehrere interessante Workshops gewidmet, die teilweise in der Campzeitung "Nomade" (:: auch online) nachzulesen sind.
Die geplante Demonstration gegen (Abschiebe-)Knäste, den Staat und gegen Grenzen am Freitag den 1. Oktober fand nicht statt, da sämtliche potenziellen TeilnehmerInnen im Umkreis des Camps oder des Demotreffpunkts verhaftet wurden.
Aufgrund der massiven Vorgehensweise der Polizei, kam es abends zu (spontanen) Protesten vor einer Polizeistation samt eingeschlagener Fensterscheiben. Die Polizei setzte in der Folge ihre Jagd auf AktivistInnen fort und verhaftete in der Nähe der Polizeistation vier Personen. Ihnen wird vorgeworfen die Polizeistation mit Steinen angegriffen zu haben, dafür drohen langjährige Haftstrafen. Erst am 22. Oktober wurden diese vier Gefangenen wieder frei gelassen. Das Legal Team betreute die Verhafteten auch nach dem Camp und es gab mehrere Solidaritätsaktionen zu ihrer Unterstützung.
Am Mittwoch, dem 30. September protestierten ca. 50 AktivistInnen gegen einen "Roundtable" mit illustren GästInnen wie dem Frontex-Chef Ikka Laitinen und dem Generaldirektor für Inneres der EU-Kommission. Veranstalter war ein Think-Thank mit dem Namen Security & Defence Agenda. Fast alle AktivistInnen wurden kurzfristig verhaftet. Den Menschen mit der Kamera gelang es jedoch zu entkommen. Das Video zur Aktion, sowie viele andere Videos, Bilder und aktuelle Informationen sind auf :: bxl.indymedia.org, :: at.indymedia.org und anderen Indyseiten zu finden.
Frontex und die Migrationspolitik der EU waren Themen zweier Ausstellungen und einiger Workshops, die wahrscheinlich nicht die geplante Aufmerksamkeit erhielten. Denn die Repression und die notwendigen Auseinandersetzungen mit ihr schwächten das Potenzial an inhaltlichen Diskussionen zum "eigentlichen" Thema. Dieser Effekt zeigte sich aber auch schon bei vorhergehenden Camps oder größeren Treffen.
In diesem Zusammenhang müssen die weiteren Geschehnisse am Mittwoch in Erinnerung gerufen werden. An diesem Tag gab es eine Großdemonstration des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) gegen die europäische Sparpolitik. Dem Aufruf folgten 100.000 Menschen, doch viele schafften es nicht bis dorthin. Der Großteil der Leute, die vom No Border Camp zur Gewerkschaftsdemo aufbrachen, wurde bereits am Weg dorthin "präventiv" verhaftet. Diese Vorgehen der Polizei war Teil einer Repressionsstrategie gegen den vom Bündnis "Precarious United" geplanten antikapitalistischen Block im Rahmen der Gewerkschaftsdemo. Nur wenige AktivistInnen schafften es zum Treffpunkt und trotz massiver Einschüchterungen durch die Polizei setzte sich der Block in Bewegung. Etwas später wurde der Block von prügelnden PolizistInnen angegriffen und der Großteil der AktivistInnen verhaftet. Die interessante Frage die wir hier stellen können ist: Wieso war es den Offiziellen der Gewerkschaften, den OrdnerInnen und OrganisatorInnen so absolut egal, was am Rande bzw. innerhalb "ihrer" Demonstration passierte?
Der Verdacht liegt nahe, dass es den DemoordnerInnen und OrganisatorInnen sogar recht war, dass dieser Block einfach von der Bildfläche verschwunden ist. Auch hiervon gibt es ein sehr aussagekräftiges Video mit dem Titel :: "Tous les uniformes ne sont pas bleus". Insgesamt wurden an diesem Tag um die 350 AktivistInnen festgenommen und im Laufe der Nacht wieder freigelassen.
Das erfreuliche an dieser Woche war mit Sicherheit die Demonstration am Samstag. Sie war lange vorbereitet und sehr defensiv ausgerichtet. Im Gegensatz zu allen anderen Aktionen während des Camps war offiziell angemeldet und es gab Absprachen mit den Behörden. Die Großdemonstration des No Border Camps beruhte auf eine Zusammenarbeit mit lokalen VertreterInnen von Sans-Papiers Gruppen und war schließlich ein voller Erfolg. 1.400 Menschen nahmen daran teil und protestierten laut und kräftig gegen die Illegalisierung von Menschen und die europäische Migrationspolitik.
In Belgien existiert seit Jahren eine starke Bewegung der Sans Papiers. Im März und Juni 2006 wurden 60 Kirchen besetzt, um auf die Situation von Sans Papiers aufmerksam zu machen und einen (vorübergehenden) Aufenthaltstitel zu erlangen. Ein gegenwärtiges Beispiel von antirassistischer Praxis ist das besetzte Kloster GESU. Dort leben fast 200 Menschen, viele von ihnen mit Migrationshintergrund, um in gegenseitiger Hilfe das alltägliche Leben zu meistern. Im GESU befand sich ein Infopoint des No Border Camps und es wurde für Ausstellungen, Diskussionen sowie ein Konzert genutzt. Eine interessante Veranstaltung galt der geplanten :: Karawane von Bamako (Mali) nach Dakar (Senegal) dem Austragungsort des World Social Forum im Februar 2011. Organisiert wird diese Aktionstour von Netzwerken aus Afrika und Europa in einer Zusammenarbeit "von unten", zur Überwindung von Grenzen.
500 Menschen wurden "präventiv" in Polizeigewahrsam genommen, viele wurden durch die Polizei verletzt. Die vier CampteilnehmerInnen, die nach ihrer Verhaftung folterähnlicher Behandlung ausgesetzt waren, kamen erst nach drei Wochen frei, nun drohen ihnen Prozesse.
Aber passiert ist noch mehr, es gab kleinere und größere Aktionen die hier nicht erwähnt sind, es wurden viele neue Kontakte geknüpft und alte aufgefrischt. Es wurde der Versuch unternommen, über Sprachbarrieren hinweg politische Analysen bezüglich der europäischen Migrationspolitik zu diskutieren und Gegenstrategien zu entwerfen.
Ein Camp, wie jenes in Brüssel, funktioniert nur, wenn viele partizipieren, denn auch wer "nur" Kartoffeln schält, trägt dazu bei, dass Aktionen und Diskussionen stattfinden können. Solidarisches Handeln wird auch für die nächsten Camps und Kämpfe wichtig sein. Bis die letzte Grenze fällt.