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Quellenangabe:
Schüchterner Auftakt: Zum ersten Migrant_innen Streiktag am 1. März 2010 in Frankreich (vom 30.01.2011),
URL: http://no-racism.net/article/3675/, besucht am 19.04.2024

[30. Jan 2011]

Schüchterner Auftakt: Zum ersten Migrant_innen Streiktag am 1. März 2010 in Frankreich

In Frankreich fiel der Migrant_innen streik am 1. März 2010 wesentlich symbolischer und weniger handfest aus als Italien: Geschlossene Betriebe gab es (anders als südlich der Alpen) nicht und die größte Kundgebung zum Thema fand mit rund 2.500 Teilnehmer/inne/n in Paris statt.

Dies liegt aber im Wesentlichen daran, dass die Initiative noch in den Kinderschuhen steckt: Das Kollektiv, das den "Tag ohne uns" vom 1. März 10 hinter den Kulissen organisierte, zählt nur etwa zehn Mitglieder. Den Anstoß hatten die Geschichtslehrerin Peggy Derder, der Journalist Nadir Dendoune und die Journalistin Nadia Lamarkbi im vergangenen Herbst gegeben (vgl. http://www.rue89.com/ oder http://www.lesinrocks.com/a). Seit November 2009 war eine Homepage für den "Tag ohne Immigrant_innen" eingerichtet worden (vgl. http://www.la-journee-sans-immigres.org). Aber die Initiative blieb bis kurz vor dem 1. März dieses Jahres in breiten Kreisen unbekannt. Allein das französisch-marokkanische Monatsmagazin - auf Hochglanzpapier - Le Courrier de l'Atlas hatte ihr, im Februar 2010, eine Titelstory und ein Dutzend Seiten gewidmet.

Fünf Gewerkschaftsverbände (die in etwa sozialdemokratische CFDT, die Bildungsgewerkschaft FSU, die linksalternative Union Syndicale Solidaires - das ist der Zusammenschluss der SUD-Gewerkschaften - die UNSA und die linke Richter_innengewerkschaft Syndicat de la Magistrature) verabschiedeten dicht vor dem 1. März 2010 eine Erklärung; da sie aber laut Kritiker_innen sonst auf Verbandsebene nicht viel unternahmen, um den Streik zum Erfolg werden zu lassen, sprechen innergewerkschaftliche kritische Stimmen von "einem Text fürs gute Gewissen" (vgl. http://www.visa-isa.org/node/437).

Kurz vor dem Stichdatum änderte sich die Wahrnehmung der Initiative, und das Medienecho war plötzlich da: Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde machte in ihrer Wochenendausgabe vom 27./28. Februar, die in Paris am Samstag Abend und im übrigen Frankreich sonntags erschien, ihre Seite Eins zum Thema auf. Es folgten Radioberichte. Um am folgenden Montag einen Streiktag zu organisieren, der sowohl die Produktion als auch den Konsum verlangsamen sollte, kam dies deutlich zu spät. Aber für künftige Jahre wird das Kollektiv nun möglicherweise einen genügend hohen Bekanntheitsgrad besitzen, um zu besser befolgten Arbeits- oder Konsumverweigerungs-Tagen aufrufen zu können.


Von Rechtsradikalen ironisch aufgegriffen


Auch von ausgesprochen unerbetener Seite kam übrigens lautstarker Applaus. Rechtsradikale Aktivist_innen des Bloc identitaire, einer außerparlamentarischen rechtsextremen Bewegung, begingen ihrerseits den 1. März unter dem Motto: "Ein Tag ohne Immigranten? Hurra! Eine gute Idee!" Sie verteilten Postkarten und Druckerzeugnisse, die den Eindruck erweckten, dies bedeute ungefähr so viel wie einen Tag mit leeren Gefängnissen (eine Propagandapostkarte des 'Bloc' zum Thema zeigt einen Gefängniswärter vor leeren Fluren: "Hallo, ist da noch einer?"), ohne brennende Autos und ohne Belästigung von Frauen in öffentlichen Transportmitteln zu veranstalten. Auf öffentlichen Plätzen in Lyon, Grenoble und anderen Städten oder auch mittels eines Transparents, das bei Bordeaux von einer Autobahnbrücke gehängt wurde - Aufschrift: "Lächeln Sie, heute ist Tag ohne Immigranten" - "feierten" Anhänger_innen des Bloc identitaire auf ihre Weise den 1. März. Ihre Propagandaaktivitäten lenkten unterdessen auch zusätzliche Aufmerksamkeit auf den Migrant_innenstreik selbst.


Zur Bedeutung migrantischer Arbeit


Doch was wäre, würde Frankreich wirklich ohne Einwanderer_innen und ihre Arbeitskräfte da stehen? Bestimmte Wirtschaftszweige, das ist notorisch, würden zusammenbrechen. Dies gilt insbesondere für das Baugewerbe, den Reinigungs- sowie den Hotel- und Gaststättensektor. Es ist kein Geheimnis, dass dies insbesondere daran liegt, dass vor allem Ausländer_innen "ohne Papiere", also Zuwanderer_innen mit illegalisiertem Status, darauf angewiesen sind, Arbeit zu finden, weil sie keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben. Und oft unter Bedingungen beschäftigt werden, die andere Einwohner_innen des Landes nicht akzeptieren würden. In den vergangenen Jahren hat die Regierung, um Profilierung in ihrem "Kampf gegen illegale Einwanderung" bemüht, den juristischen Druck durch steigende Strafdrohungen auch auf die Arbeitgeber_innen erhöht. Allerdings gilt: Je wirtschaftlich bedeutender ein Sektor ist, desto weniger hat ein_e Arbeitgeber_in in Wirklichkeit etwas zu befürchten, falls er "Illegale" einstellt. Die Wochenzeitung 'Le Canarde enchaîné' berichtete vor nunmehr sechs Wochen über einen Reinigungsbetrieb im südlichen Pariser Umland, der 5.000 Personen beschäftigt, unter ihnen 600 Sans papiers, also Illegalisierte. Polizei und Gewerbeaufsicht waren seit längerem auf dem Laufenden, rühren aber keinen Finger: Die Struktur ist viel zu groß, als dass die Politik riskieren würde, so viele Lohnabhängige auf die Straße setzen zu lassen. Der Reinigungsbetrieb säubert übrigens auch den Elysée-Palast.

Nichtsdestotrotz fühlen auch einige Sektoren innerhalb der Arbeitgeber_innenschaft den Druck auf sich wachsen - da die staatliche Politik bisweilen, um Showeffekte bemüht oder wenn es den Erfordernissen der Wahlpolitik respektive (um mit Guy Debord zu sprechen) "des Spektakels" dient, eben doch auch gegen einzelne Arbeitgeber_innen vorgeht. Um die von ihnen beschäftigten "illegalen" Immigrant_innen zu treffen, wird auch der generelle Druck auf die Unternehmer_innen erhöht, um die materiellen Lebensgrundlagen der durch die Politik als unerbeten erklärten Einwanderer_innen zu beschneiden. Zumal sich die bürgerliche Rechte in einem politischen Wettlauf mit der extremen Rechten befindet. Und bei jener fordert Marine Le Pen mit sozialdemagogisch unterlegtem Tonfall, keine Gnade für die "neuen Sklavenhalter" walten zu lassen, die "illegale Ausländer" einstellen - das Wettern gegen die Arbeitgeber_innen, die sie beschäftigen, dient dabei als Projektionsfläche, auch wenn das eigentliche Ziel darin besteht, "für französische Arbeitnehmer[_innen] reservierte Arbeitsplätze" zu fordern. Bisweilen muss die konservativ-liberale Rechte deswegen mitziehen, wenn es um (obwohl im Allgemeinen wirkungslose, doch im Konkreten nicht immer gänzlich folgenlose) Agitation im Namen des staatlich definierten "Gemeinwohls" gegen die "egoistischen" Einzelkapitalist_innen, die Sans papiers einstellen oder beschäftigten, geht.

Vor diesem Hintergrund kommt es in jüngster Zeit zu, nennen wir es: ungewöhnlichen Allianzen und Bündniskonstellationen. Denn ein (in dieser Frage, im Vergleich zur Politik von Staat und rechten Parteien, relativ "aufgeklärter" respektive "pragmatischer") Teil des Kapitals wendet sich zusammen mit dem für die 'Sans papiers' aktiven Teil der Gewerkschaften nun auch öffentlich gegen den Beißkrampf der rechten Politmacher_innen. Am 3. März 2010 unterzeichneten der Verband mittelständischer Unternehmen (die CGPME), der Wirtschaftsverband für "ethnisches Unternehmertum" Ethic, das Reinigungsunternehmen Véolia Propriété zusammen mit einer Reihe von Gewerkschaften - von links nach rechts ungefähr in folgende Reihenfolge zu bringen: Union syndicale Solidaires/SUD, FSU, CGT, UNSA und CFDT - eine gemeinsame Erklärung. Darin setzen sie sich für eine, laut der Formulierung in ihrem gemeinsamen Pressekommuniqué, "pragmatische, konstruktive und positive" Umgangsweise mit den Beschäftigten ohne legalen ausländer_innenrechtlichen Aufenthaltsstatus in Frankreich ein. Deren Beschäftigung in vielen Wirtschaftszweigen solle als "ökonomische Realität" anerkannt werden; und den Betroffenen soll es möglichst unbürokratisch erlaubt werden, an Aufenthaltstitel zu kommen, sofern ihre Anwesenheit einem realen Bedürfnis der Ökonomie entspricht. Die Ethic-Vorsitzende und Unternehmerin Sophie de Menton sprach von einer 'Green Card' für benötigte Arbeitskräfte, in Anlehnung an die gleichnamige Arbeitserlaubnis in den USA. (Der mittelständische Unternehmerverband - die CGPME - hat sich ein paar Tage später kurzzeitig leicht von dem Text distanziert; verneinte jedoch auf Nachfrage hin die Behauptung der Regierung, ihr sei eine Falle gestellt und der Text nur untergeschoben worden. Mutmaßlich mochte die CGPME nur nicht in der ersten Reihe stehen, um den Inhalt der Erklärung offensiv zu vertreten.) Selbige Erklärung wurde am Montag, den 8. März dann auch an die Regierung überreicht. Letztere versuchte das Ereignis aber zunächst schlicht zu ignorieren. Inzwischen hat das von Eric Besson geleitete Einwanderungsministerium jedoch bezüglich der Erklärung verlautbaren lassen, dass man sich mit ihr, nun ja, den Hintern abwischen werde: An der sehr selektiven und punktuellen "Legalisierungs"praxis für einzelne Lohnabhängige, die schon bislang verfolgt wurde, werde man "nichts ändern" (Vgl. http://www.lemonde.fr und http://www.lemonde.fr oder http://www.lepoint.fr).

Bleiben die anderen wirtschaftlichen Sektoren und die Frage, wie dort die Einstellungschancen für (die übrigen) Einwanderer_innen stehen. Lange Zeit war vor allem die Industriearbeit ein bevorzugtes Feld für "Ausländer_innenbeschäftigung", etwa die französischen Autofabriken. Dort wurden migrantische Arbeiter_innen lange Zeit als "Puffer" benutzt: In Krisenzeiten wurden sie zuerst entlassen, um den sozialen Unmut unter den "herkunftsfranzösischen" Arbeiter_innen einzudämmen. Doch wurde in den letzten Jahren zum Teil eine Gegenbewegung beobachtet: Vor dem Hintergrund des Abbaus von Industriearbeit und ökonomischer Umstrukturierung übernehmen die, im Industriesektor zuerst "abgebauten", Immigrant_innen oft eine Avantgarderolle bei der Entwicklung dieser neuen Dienstleistungsgewerbe. Sei es als Lohnabhängige oder als - neue - Selbständige. Le Monde vom 28. Februar/01. März führt an, dass etwa im Informatiksektor überdurchschnittliche 17 Prozent der Beschäftigten ausländische Staatsbürger_innen seien, und bei den Unternehmenszulieferer_innen im Dienstleistungsbereich 16 Prozent.

Artikel von Bernard Schmid für "trend onlinezeitung" 03/2010, bearbeitet übernommen von http://www.trend.infopartisan.net/trd0310/t410310.html