Quellenangabe:
Postkoloniales Reisen (vom 27.12.2011),
URL: http://no-racism.net/article/3987/,
besucht am 21.11.2024
[27. Dec 2011]
Bist du schon einmal mit dem Rucksack durch Nicaragua gereist? Hast du eine Freundin, die unbedingt einmal nach Indien fahren möchte? Ist dir bewusst, dass ihr damit koloniale Herrschaftsstrukturen reproduziert?
Hier soll es nicht um eine Neuauflage der Kritik am Pauschaltourismus gehen. Nach Kenia auf Safari oder nach Thailand ins All-Inclusive-Ressort zu fahren, ist offensichtlich problematisch. Hier soll vielmehr auf andere, "alternativere" Arten des Reisens Bezug genommen werden - auf die Reisenden, die sich selbst rühmen, eben keine "normalen TouristInnen" zu sein, sondern sich interessiert an Land, Menschen und Kultur zeigen. Dabei geht es weniger darum, welche Auswirkungen so genannter Alternativtourismus auf die bereisten Länder hat, sondern darum, die Motive der Reisenden selbst zu untersuchen. Uns interessiert die Frage, warum sich BackpackerInnen auf den Weg machen - und ob die Erfüllung, die sie sich von solch einer Reise versprechen, von kolonialem Begehren gespeist wird.
Als Referenzrahmen für die Ausgangsfrage dienen uns dabei postkoloniale Theorien. Postkolonialismus ist nicht mit dem formalen Ende westlicher Kolonialherrschaft gleichzusetzen, sondern bezeichnet vielmehr eine kritische und politische Analysekategorie. Die Kritik befasst sich mit Fragen von Macht und Ungleichheit, geht dabei aber über eine Analyse ökonomischer und politischer Herrschaftsverhältnisse hinaus und fokussiert auf kulturelle und diskursive Dimensionen des Kolonialismus. Es geht darum, auch subtile Machtverhältnisse sichtbar zu machen und herauszufinden, wie diese aufrechterhalten und stabilisiert werden. Dabei gilt ein explizit transformatorischer Anspruch - es geht nicht nur darum, Verhältnisse aufzuzeigen, sondern immer auch darum, diese zu verändern. In den letzten Jahren hat sich in den postkolonialen Theorien ein Blickwechsel vollzogen, nach dem weniger die Produktion des Marginalen, sondern vermehrt die Produktion der Norm betrachtet wird. Dadurch wird sichtbar, dass Kolonialismus nicht nur die Kolonisierten geprägt hat, sondern gerade auch die Kolonisierenden wesentlich geformt hat.(1) Kolonialismus war nicht nur ein ökonomisches, politisches Eroberungsprojekt, sondern war auf verschiedenen Ebenen konstitutiv für die Entwicklung der europäischen Moderne. Einerseits basiert die kapitalistische Ökonomie auf der ursprünglichen Akkumulation von Reichtum, welcher bei Raubzügen in den Kolonien gestohlen wurde und funktioniert auch heute noch über die strukturelle Ausbeutung "der Länder des Südens". Andererseits konnte die von der Aufklärung geforderte Gleichheit aller Bürger(Innen) nur durch verschiedene Ausschlüsse erreicht werden. Frauen, Nicht-Weiße(2), Menschen mit Behinderung, aber auch Arme sind die konstitutiven Anderen der Gemeinschaft der Gleichen. Der moderne Staat, der auf den Mythen von Fortschritt und Zivilisation aufbaut, braucht die Abgrenzung zur "primitiven", kolonisierten Welt, die oftmals mit einer europäischen Vergangenheit gleichgesetzt wird. Die noch nicht zivilisierte Vergangenheit/Fremde steht einerseits für alle Entbehrungen, die mit der modernen Welt einhergehen: den Verlust der Unmittelbarkeit, die Entzauberung, die verlorene Unschuld. In den "primitiven Anderen" wird auch alles verlagert, was mit der Industrialisierung und der Kulturleistung der Moderne erfolgreich überwunden wurde: die bedrohliche Natur, die Rohheit, die Unwissenheit. Die Entgegensetzung vom zivilisierten Europa und dem primitiven Rest der Welt funktioniert nicht nur über die Abwertung des Anderen. Rassismus projiziert auch Sehnsüchte nach dem Reinen, Ursprünglichen und Ganzen.
Dieser Prozess der Abspaltung und Projektion funktioniert nicht nur auf einer strukturellen Ebene, sondern ist auch in den einzelnen Menschen wirksam. All jenes, was dem entfremdeten, modernen Menschen in kapitalistischen Verhältnissen versagt bleiben muss, wird abgespalten und auf die Kolonisierten übertragen, denen somit der Subjektstatus verwehrt wird, da das Andere nur durch seine Funktion für das Eigene konstituiert wird.
Europäisches Selbstverständnis ist also nicht von Kolonialgeschichte zu trennen. Das bedeutet, dass auch jede Handlung von - vor allem Weißen - EuropäerInnen in einem kolonialen Kontext betrachtet werden muss. Reisen in ferne Länder stehen in guter kolonialer Tradition - seit dem 16. Jahrhundert machten sich abenteuerlustige EuropäerInnen auf, um die Fremde zu entdecken. Auch heutige Reisen schreiben dadurch Herrschaftsverhältnisse weiter ein - Reisen heißt Differenzen suchen. Natürlich ist heutiges Reisen nicht gleichzusetzen mit kolonialen Entdeckungs. und Eroberungszügen, aber ähnliche Mechanismen wirken und tragen zu ungebrochen ungleichen Machtstrukturen bei.
Jana Binder hat in ihrer Ethnographie von BackpackerInnen die Motive alternativ Reisender untersucht. Auch wenn sie dabei nicht explizit auf postkoloniale Theorien eingeht, lassen sich in ihrer Untersuchung doch viele Hinweise auf koloniale Traditionen finden.
Die erste Distinktion, die "AlternativtouristInnen" treffen, ist wahrscheinlich die von den "normalen Touris" - im Gegensatz zu diesen machen BackpackerInnen nämlich keinen Urlaub, sondern sie verreisen. Sie verschließen sich nicht in einem Hotelkomplex vor der Welt, sondern lernen andere Kulturen kennen. Je authentischer und ursprünglicher desto besser. Wer nicht nur Kontakt zu anderen Reisenden pflegt, sondern auch mal von "Einheimischen" zum Essen eingeladen wird, kann sich rühmen, schon fast "dazuzugehören". Somit wird durch den möglichst direkten Zugriff auf andere Lebenswelten der Alltag anderer Menschen zum eigenen Abenteuer gemacht. So entstehen Phänomene wie "Brasiliens erstes Favela-Hostel", ein speziell an BackpackerInnen gerichtetes Angebot, im Herzen der Armut Urlaub zu machen. Dabei wird schnell vergessen, dass es sich um keinen gleichberechtigten Kulturkontakt handeln kann, solange die andere Person nicht auch die Möglichkeit hat, in einen Flieger zu steigen, um den Gegenbesuch anzutreten - also weder fehlendes Geld noch Festung Europa im Weg stehen.
"Von den Menschen dort können wir so viel lernen!", ist ein anderes Motiv, das gerne für Reisen in ärmere Länder vorgebracht wird. Gelernt werden soll dabei meist das gemütliche Leben, Gelassenheit, Leben ohne Zeitdruck oder Naturverbundenheit. Auffällig dabei ist, dass es sich durchgängig um affirmierte rassistische Stereotype handelt - ob gemütlich oder faul ist nur eine Frage des Blickwinkels. Außerdem wird nicht gefragt, was Andere Weißen EuropäerInnen beibringen wollen, sondern in einem Herrschaftsakt beschlossen, dass es diese oder jene Eigenschaft, dieses oder jenes Wissen eines anderen Landes ist, dass es wert ist, erlernt zu werden.
Als weiterer Grund weit wegzufahren, wird häufig die so genannte Selbstfindung genannt. Dabei sollen ein paar Monate in Peru oder Kap Verde dazu beitragen, herauszufinden, "wer ich wirklich bin" oder "was ich wirklich will". Diese Selbstfindung ereignet sich unter hierarchisch begünstigten Bedingungen. Auch hier zeigen sich koloniale Strukturen - Europa hat in verschiedenen Kontexten den Rest der Welt als Experimentierfeld betrachtet, in dem Erkenntnisse gewonnen werden können. Ob Forschungsexpeditionen, anthropologische Missionen oder auch die Erprobung neuer Technologien in den Ländern der Peripherie - all dies nutzt(e) Europa in seinem "Selbstfindungsprozess" und fragt(e) nicht danach, was es mit den Menschen macht, in deren Welt eingedrungen wird.
Dieser Fokus auf den eigenen Nutzen und die Ignoranz gegenüber der Lebenswelt anderer Menschen ist charakteristisch für den postkolonialen Tourismus. Auch ein anderes wesentliches Motiv für Backpacking - das angestrebte Freiheitsgefühl - lebt von diesem einseitigen Blick. Jana Binder beschreibt ausführlich, wie Reisen als Gegensatz zu einem Alltag konzipiert werden, der von Zwängenstrukturiert wahrgenommenen wird. Der Zweck der Reise ist, sich von der Zwanghaftigkeit des Alltags, der Arbeit, der eigenen Unterdrückung zu befreien. Ein Freiheitsgefühl, das auch in der kolonialen Vergangenheit im Vordergrund stand, in der andere Kontinente als "Tabula Rasa" empfunden wurden. Berühmtestes Beispiel dafür ist die Kolonisierung Amerikas, bei der EuropäerInnen aus verschiedensten Motiven - oftmals, weil sie vor Unterdrückung und Armut flohen - in die "neue Welt" aufbrachen und sich dort vor allem Freiheit und Wohlstand erwarteten. Doch dass die unbegrenzten Möglichkeiten auf die Begrenzung anderer Menschen basierte und die "leeren Gebiete"/Ländereien erst von den UreinwohnerInnen geräumt werden mussten, wird oftmals ausgeblendet.
Das Freiheitsgefühl der BackpackerInnen hängt eng mit der Raumerfahrung solcher Reisen zusammen. Die ganze Welt soll als Erfahrungsraum offen stehen, je grenzenloser der Bewegungsraum desto besser. Dabei werden nationale Grenzen allerdings nicht in Frage gestellt. Jana Binder schreibt: "Das Überwinden von Grenzen stellt eines der wichtigsten Ziele des Backpacking dar, weswegen nationalen Grenzen eine positive Bedeutung zukommt." (Binder 2005:91) Im Gegensatz zu Migrationserfahrungen hat das Zurücklegen von Distanzen dabei keinen Notwendigkeits-, sondern einen Distinktionscharakter.
An all diesen Motivationen von BackpackerInnen werden koloniale Strukturen sichtbar, die sich vor allem um den Gegensatz von Zivilisation und Ursprünglichkeit kreisen. Die Menschen werden, aber auch die Natur wird in den ehemals kolonisierten fremden Ländern noch als rein und nicht kultiviert imaginiert. Diese romantische Sehnsucht nach der reinen, unberührten Natur ist auch von der Mangelerfahrung der modernen Welt geprägt. Psychoanalytisch gesprochen ist es die Sehnsucht nach dem Ganzen, dem Realen, von dem jegliches Subjekt abgeschnitten ist; es ist die Sehnsucht nach dem verlorengegangenen Paradies, das in die Fremde projiziert wird.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle aufgezählten Motive kolonial geprägt sind, dass also das Begehren zu reisen ein koloniales Begehren ist. Ist Reisen in den armen Süden also immer problematisch? Es gibt zahlreiche Strategien, um Reisen in ehemals kolonisierte Länder von kolonialer Last freizusprechen, etwa aktive politische Solidarität mit sozialen Bewegungen oder - häufiger - der so genannte Charity-Tourismus. Die Vor- und Nachteile solcher Strategien ließen sich natürlich ausführlich diskutieren, festgehalten sei aber, dass es sich dabei immer um Legitimationsstrategien handelt. Diese mögen funktionieren oder nicht, können die Reise aber niemals vom kolonialen Kontext freisprechen, in dem sie stattfindet - es ist für Weiße EuropäerInnen nicht möglich, in ehemals kolonisierte Länder zu fahren ohne koloniale Herrschaft zu reproduzieren.
Literatur:
- Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000.
- Jana Binder: Globality: eine Ethnographie über Backpacker. Münster 2005.
- www.iz3w.org/fernweh
- Stuart Hall: Wann war "der Postkolonialismus"? Denken an der Grenze.
- Walter Sauer: K.u.k. Kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika. Wien 2007.
- Ursula Wachendorfer: Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer Herrschenden Normalität. In: Susan Arndt (Hg.in): Afrikabilder. Studien zu Rassimus in Deutschland. Münster 2001.
Anmerkungen:
(1) Auch wenn Österreich keine nennenswerten offiziellen Kolonien besessen hat, kann es doch nicht von der Beteiligung am Kolonialen Projekt freigesprochen werden. Vor allem durch Reisen, Forschungsexpeditionen und regen Handel partizipierte die Habsburgermonarchie am kolonialen Gewinn. Auch (rassistische) österreichische Gegenwart ist untrennbar mit kolonialen Verbrechen verstrickt.
(2) In Anlehnung an Ursula Wachendorfer und anderen AutorInnen haben wir die Begriffe Weiß und Schwarz großgeschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht von einer Einteilung der Menschen nach phänotypischen Merkmalen im Sinne biologischer Entitäten ausgehen, sondern die Begriffe als soziale Konstruktionen verstehen.
ursprünglich erschienen in: Unique 06/2010
Mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen auf no-racism.net zweitveröffentlicht.