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Quellenangabe:
Odyssee Dublin II (vom 18.06.2012),
URL: http://no-racism.net/article/4129/, besucht am 25.04.2024

[18. Jun 2012]

Odyssee Dublin II

Am Beispiel eines psychisch schwer kranken Klienten der Deserteurs- und Flüchtlings- beratung werden mehrere Problemfelder der aktuellen Asylpolitik sichtbar

Zum einen nämlich die zunehmende Fragwürdigkeit des Dublin II-Abkommens, zum anderen die Unmenschlichkeit hiesiger Zustände im Umgang mit Asylwerber*innen.

ITALIEN: ASYLANTRAG UND OBDACHLOSIGKEIT

2007 reiste Herr B. (Name geändert) aus Ostafrika über Libyen und das Mittelmeer nach Italien und suchte dort um Asyl an. Doch während seines Aufenthaltes in Italien, der insgesamt drei Jahre dauern sollte, bekam B. keine Gelegenheit, seine Fluchtgründe vorzubringen. Außerdem musste er ein ähnliches Schicksal erleiden wie viele andere Asylwerber*innen in Italien: Er war obdachlos und hatte deswegen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung oder anderen Sozialleistungen. Er schlief auf der Straße, in besetzten Häusern, in Bahnhöfen.

Die Erfahrungen, die Herr B. in Italien machte, sind bezeichnend für die katastrophalen Zustände im italienischen Asylwesen: Italien wird - ähnlich wie Griechenland und Ungarn - zunehmend zur Zielscheibe der Kritik internationaler NGOs. Diese sehen einen Verstoß Italiens gegen die Aufnahmerichtlinie der EU, da Italien die Mindeststandards in Bezug auf Verfahren, medizinische Versorgung und soziale Absicherung von Asylwerber*innen nicht erfülle. Dabei hätte Herr B. nach herkömmlichem Ermessen sehr wohl Anspruch auf intensive psychosoziale Betreuung: Er leidet unter paranoider Schizophrenie und einer chronischen körperlichen Erkrankung.

ÖSTERREICH: DROHENDE ABSCHIEBUNG NACH ITALIEN

Wegen seiner schlechten Erfahrungen in Italien reiste Herr B. im Herbst 2010 schließlich nach Österreich weiter. Nach seiner Ankunft in Wien wurde er jedoch als "illegal aufhältiger Fremder" in Schubhaft genommen. Mithilfe der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gelang es Herrn B. schließlich Anfang 2010, in Österreich einen Asylantrag zu stellen. Doch das Bundesasylamt entschied, dass im Rahmen von Dublin II Italien für das Asylverfahren von Herrn B. zuständig und damit auch eine Ausweisung von Herrn B. nach Italien zulässig sei.

Dagegen legte die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung Beschwerde ein, mit der Begründung einer drohenden unmenschlichen Behandlung von Herrn B. in Italien gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diesem Artikel zufolge besteht nämlich ein Selbsteintrittsrecht der Mitgliedsstaaten, das in der Judikatur zur Pflicht geworden ist: Ein Mitgliedsstaat - in diesem Fall Österreich - muss "aus zwingenden Erfordernissen" einen Asylantrag ermöglichen, wenn im sonst zuständigen Land - in diesem Fall Italien - Artikel 3 der EMRK verletzt werden könnte.

"INTERIM MEASURE"

Der Asylgerichtshof gab schließlich der Beschwerde der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gegen die drohende Ausweisung von Herrn B. nach Italien statt - der Fall wurde an das Bundesasylamt zurückverwiesen. Dieses entschied neuerlich für eine Ausweisung von Herrn B. nach Italien, obwohl eine dafür notwendige individuelle Zusicherung Italiens, dass Herrn B.s Versorgung bei einer Rückkehr gewährleistet würde, ausblieb. Eine neuerliche Beschwerde der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung beim Asylgerichtshof wurde diesmal - nach einem Richter*innenwechsel - negativ beschieden.

Daraufhin legte die De­ser­teurs- und Flüchtlingsberatung Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Mit Erfolg: Ende 2011 erklärte der EGMR die Abschiebung von Herrn B. für die Dauer des anhängigen Beschwerdeverfahrens - im Sinne eines "interim measure" also - für unzulässig. Eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof blieb erfolglos.

ÖSTERREICH: OBDACHLOSIGKEIT

Währenddessen schien es, als würden sich die Lebensumstände von Herrn B. verbessern: Als die rechtlich maximal mögliche Dauer der durchgehenden Schubhaft von sechs Monaten erreicht war, wurde Herr B. aus der Schubhaft entlassen und wohnte ab nun in einer organisierten Unterkunft. Dort wurde jedoch auf jegliche Form spezieller psychosozialer Betreuung verzichtet. Schließlich regte die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung eine Sachwalterschaft für Herrn B. an. Das im Zuge des Sachwalterschaftverfahrens erstellte Gutachten attestierte Herrn B. paranoide Schizophrenie und eine damit einhergehende Selbst- und Fremdgefährdung. In der Unterkunft von Herrn B. sah man trotzdem keinen speziellen Betreuungsbedarf. Aufgrund seiner kranheitsbedingten Verhaltensauffälligkeit verlor Herr B. schließlich seine Unterkunft und stand in der Eiseskälte wieder auf der Straße. Schließlich gelang es der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, in Wien ein neues Quartier für Herrn B. aufzutreiben.

DUBLIN?

Ob Österreich und Italien vom EGMR wegen unmenschlicher Behandlung verurteilt werden, steht also noch aus. Sollte der EGMR dem Beschwerdeführer Recht geben, wäre dies ein weiterer Fall, in dem der EGMR die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit des Dublin II-Abkommens infrage stellt.


ANMERKUNG

Beim titelgebenden Dublin II-Abkommen handelt es sich um eine seit 2003 bestehende Verordnung der EU zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist.

Dieser Artikel erschien in der MALMOE 59 und wurde von no-racism.net mit freundlicher Genehmigung der Redaktion (geringfügig überarbeitet) übernommen.