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Quellenangabe:
Kein Nachruf (vom 21.06.2012),
URL: http://no-racism.net/article/4132/, besucht am 22.12.2024

[21. Jun 2012]

Kein Nachruf

Am 19.6.2012 wurde beschlossen, mit 30.6.2012 die Plattform at.indymedia.org abzuschalten und das Projekt einzustellen. Wir dokumentieren an dieser Stelle einen Text, der sich mit den jüngsten Entwicklungen rund um at.indymedia.org befasst.

Irgendwie ist es natürlich schade, dass das Kollektiv von at.indymedia.org das Handtuch wirft. Aber berührt es uns wirklich? Die meisten werden wohl mit einem Schulterzucken reagieren. Ganz praktisch, hin und wieder den Kalender für linkes Event-Hopping zu checken, und überhaupt: regelmäßig auf indy schauen, um zu sehen, ob nicht doch irgendwo irgendwie auch in Österreich ein bisschen was passiert. Und wenn irgendwer anders eine Aktion macht, kann mensch sich nach belieben dazu auslassen, wenn nicht hier dann auf n3tw0rk oder eben auf der nächsten Demo (wo mensch ja insgeheim eh hauptsächlich zum small-talk hingeht). Die Stunden pro Monat zusammen genommen, die links-/emanzipatorisch-interessierte Menschen in Österreich damit zugebracht haben, auf indy zu checken, ob nicht vielleicht doch "irgendwas geht" würden, hypothetisch zusammengenommen und in gemeinsames Handeln übertragen wohl für einen eintägigen kleinen Aufstand reichen.

Es ist ja eh nichts passiert, weder online, noch, zum Teil als Konsequenz daraus, offline. Jetzt indymedia den Saft abzudrehen tut also gar nicht mehr viel zur Sache. Es gibt eh keine Bewegung oder irgendetwas vergleichbares, sondern nur einen Haufen ideologisch links des mainstreams einzuordnenden Subkulturen, die sich gegenseitig auf Soliparties besuchen und sich vornehmlich durch Alkoholkonsum die Miete für ihre Szene-Wohnzimmer und andere Bequemlichkeiten finanzieren.

Das ganze wird aufgefettet mit einer antikapitalistischen Rhetorik, die inzwischen, angesichts der unleugbaren Misere der Welt, zur neuen Redlichkeit des aufgeklärten Bürger_innentums des 21. Jahrhunderts gehört. Über die Rhetorik hinausgegangen wird kaum, auch wenn manche glauben, auf jede Demo zu rennen, die irgendwie ein bisschen radikal klingt wäre schon mal etwas, und mensch könne sich ja nicht um alles kümmern. Im eigenen Leben eine mit dem Kapitalismus wirklich im Widerspruch stehende Praxis zu verwirklichen, liegt den meisten ziemlich fern, wohl nicht zuletzt, weil es Widersprüche ohne Ende hervortreten lässt, die sonst durch die erfolgreiche Illusion verdeckt werden, vielleicht mit Anstrengung doch in (wenigstens monetär) akzeptabler Weise am Kapitalismus partizipieren zu können.

Die Szene ist ja doch größtenteils akademisch und lebt also mit dem Versprechen im Kopf, das zu Zeiten ihrer Eltern noch ganz gut aufzugehen schien: Wer sich anstrengt, sich durch eine gute Bildung mit Abschluss aufwertet, hat vom Leben nichts zu befürchten. Ein nicht ganz stupider Job mit Kündigungsschutz, gut genug bezahlt, um damit auf Raten ein Auto zu kaufen, vielleicht sogar ein Einfamilienhaus mit Garten. Vielleicht Kinder groß ziehen, wenn ja ihnen Spielsachen und Bücher kaufen können. Später selber noch ein paar Jahre vor dem Tod mit dem Luxus endlich freier Zeiteinteilung zu leben, körperlich zwar gebrochen, aber wenigstens mit einer akzeptablen Pension. Es gibt wirklich nicht wenige selbsterklärte linksradikale oder "sogar" anarchist_innen, die irgendwie letzten Endes auf diese Option spielen.

Politisch aktiv sein, kritisch denken, zur Not auch mal hier oder da mehr oder weniger symbolischen Widerstand leisten, sich gut vorkommen, weil mensch nicht auf die Lügen der Kronenzeitung hereinfällt wie die "breite Masse", und dazwischen bei einem Bier ein bisschen von der Anarchie träumen.

Irgendwann versuchen die meisten dann, ernster zu werden, weil ja auch das Leben ernst ist. Das heißt, Zukunftspläne doch im bestehenden System denken, den eigenen Anspruch auf Privilegien (sowohl gegenüber der Armut und Gewalt um eine_n herum als auch global) verteidigen mit dem Zusatz, diese sollten ja eh allen zugänglich sein. Sind sie aber eben nicht, und die darin vorhandene Ungerechtigkeit einfach auf's System abzuschieben mag den Schlaf ein wenig beruhigen, aber nur, wenn mensch nicht allzuviel drüber nachdenkt und die Widersprüche erfolgreich verdrängt.

Darüber hinnaus sprechen mindestens zwei Gründe gegen die Option, auf die Karte zu setzen, sich ökonomisch im System einzurichten, evtl. ein bisschen Karriere zu machen, vielleicht verbunden mit der Hoffnung, nebenbei das ein oder andere "antikapitalistische" oder "gesellschaftskritische" Projekt weiterzubetreiben.

Zum einen wird diese Option einfach in den kommenden Jahren nur für einen immer kleineren Teil der Bevölkerung überhaupt greifbar werden. Überall werden die Reallöhne gedrückt, "sichere Arbeitsplätze" immer seltener, und das muss auch so sein, weil es sonst nur noch wenige Felder gibt, wo sich die stagnierenden Profite noch ausweiten ließen. Ist der Profit aber zu gering, werden Schulden und Zinsen nicht bezahlt, verlieren Banken und Anleger_innen "Vertrauen", es werden zu wenig Kredite vergeben, das System stockt. Der Versuch, Profite in der Sphäre der Kreditversprechen selbst zu machen, hat zwar manche Leute reich gemacht, aber im großen und ganzen sind die aufgeblähten Blasen noch immer geplatzt. Will die globale kapitalistische Klasse ihren Profit und damit das ganze System zur Generierung von Profiten irgendwie (zeitweise) retten, muss sie einen vernichtenden Angriff auf die Löhne und sozialen Sicherungssysteme starten.

Es ist also völlig klar, dass alles was bisher der Illusion einer Mittelklasse entsprochen hat, in den nächsten Jahren auseinandergenommen wird. Dieser Puffer zwischen Arm und Reich, der den gesellschaftlichen Erhalt der westlichen Nachkriegsgesellschaften sichergestellt hat und die Klassengegensätze erfolgreich verschleierte, wird nun langsam nicht mehr leistbar. Zu viel vom möglichen Profit landet immer noch in den Taschen von Leuten, die eigentlich gar nicht Besitzende (über ihr vielleicht vorhandenes "Eigenheim" oder Auto hinaus) sind, denen die Profitierenden dieser Gesellschaft eigentlich gar nichts abgeben müssten, außer dem Notwendigsten zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft. Eine Zeit lang war es der Kleister dieser Gesellschaft, dass die große Mehrheit einfach nur am Komfort der scheinbaren Mittelklasse teilhaben wollte und diese Möglichkeit durchaus real bestand, wenn dadurch auch die proletarische Funktion im Produktionsprozess, die auch mit besser bezahlter Lohnarbeit einhergeht, nicht verändert wurde.

Wer sich ein Leben voll Wettkampf und Eigenvermarktung vorstellen kann, wird wohl auch in Zukunft eine Chance haben, sich einen Platz in jener dünner werdenden Schicht zu sichern, die beim Wochenendeinkauf nicht jeden Cent umdrehen müssen und trotzdem hin und wieder eine private Kurzreise unternehmen können, neben dem real-65-Stunden-Job. Na vielen Dank! Und Pension? Naja, wer genug verdient, um selbst was beiseite zu legen, wird vielleicht im Alter nicht hungern. Für alle anderen: Gute Nacht.

Neben der schwindenden ökonomischen Möglichkeit, an den Konsumfreuden der angeblichen Mittelklasse zu partizipieren, gibt es noch einen weiteren Grund, das Leben nicht auf diese Option auszurichten: Ihre Glücksversprechen hält sie nicht. Mensch frage doch mal die eigenen Eltern, ob sie wirklich zufrieden sind damit, wie sie ihr Leben gelebt haben. Alt zu werden, und zu merken, dass mensch ihr ganzes Leben für andere gearbeitet hat, wo irgendwann nicht einmal mehr die Zeit da war ein Buch zu lesen, mit Freund_innen zu kochen oder ins Grüne zu fahren: Zum weiterhackeln verdammt, um die Kredite abzuzahlen und die Kinder durchzubringen, bis der eigene Körper kaum noch weitermachen kann.

Zwischendurch beruhigt mensch sich, dass es wegen der ganzen Anstrengung wenigstens dazu reicht, einen Teil der Lebensmittel mit "bio"-Siegel zu kaufen, und so Dinge zu essen, die immerhin ein bisschen weniger nach Plastik schmecken. Aber das Vollkornbrot aus dem Bio-Supermarkt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für die meisten Menschen lange her ist, dass sie das letzte mal selber durch ein Weizenfeld gestreift sind und den Halmen beim Wachsen zugeschaut haben.

Was hat das alles mit dem Ende von Indymedia Ö zu tun?


Die Perspektive der alten "neuen Linken", ein widersprüchliches Amalgam aus einem letztlich trotz aller hochgehaltenen Distanz sozialdemokratischen Staatsverständnis, revolutionärer Rhetorik und einem bürgerlich-identitären Selbstbild beginnt sich im Widerspruch mit den Realitäten aufzulösen und zu zersplittern, nun müssen zwangsläufig auch einige ihrer Institutionen dran glauben.

An Orten mit tatsächlich revolutionärer Aktivität haben es verschiedene Indymedias geschafft, über die Ära der "Globalisierungskritik" hinweg zu bestehen und zu lebhaften Orten des Austauschs für antagonistische Bewegungen zu werden. In Österreich ist Revolution eher ein belächeltes Hinterzimmer-Thema, rein hypothetisch gemeint selbst von den meisten, die das Wort überhaupt in den Mund nehmen.

Konsequenterweise blieb indy damit ein Medium für das, was statt dessen da war: Eine Veröffentlichungs-Plattform für die Selbstdarstellungen von Hobby-Aktivist_innen mit großteils bürgerlichem Bewusstsein und radikalem Szene-Chic.

Ein Bruch ist notwendig, und wenn dieser jetzt dadurch passiert, dass sich diese Szene ihr Hauptmedium eben einmal selber abdreht, ihre virtuelle Präsenz vom Netz nimmt: Bittesehr. Sollen die Leute mal ein bisschen mehr auf die Straße gehen und mit ihren Nachbar_innen reden, statt Indymedia zu lesen.

Natürlich ist es auch ein bisschen schade drum, weil indymedia immerhin eine potentiell anonyme Möglichkeit zum Veröffentlichen war.

Vielleicht wird sich ja irgendwann ein neues Kollektiv gründen, was innerhalb oder außerhalb des globalen Indymedia-Netzwerkes etwas ähnliches aufzieht.

Eine offene Frage dabei ist natürlich, ob das bestehende bzw. in Auflösung befindliche Kollektiv bereit ist, technisches Wissen und zum Beispiel Zugang zur Nutzung der domain at.indymedia.org zu gewähren.

Als es das letzte Mal Ende 2010 hieß, Indymedia stehe vor dem Aus, und das open-posting abgedreht wurde, gab es noch Treffen für einen Reboot-Versuch. Dabei hielt ein Teil der alten Hasen (und eher weniger Häsinnen) trotz einiger sehr motivierter neuer Leute bis zuletzt offen, ob sie überhaupt ihre Zustimmung zum Weiterbetreiben der Seite geben würden, oder nicht. Pikanterweise waren in diesem "offenen Kollektiv" die Zugangsdaten für die technische Administration der Website in wenigen Händen konzentriert. Ob also wieder eingeschaltet werden würde oder nicht, hing am Ende am Expert_innenwissen einiger weniger. Vorgeschlagene technische Änderungen an der Website wurden entweder abgelehnt, oder wenn sie trotz Opposition einiger alteingesessener (die teilweise am liebsten eh ganz aufgegeben hätten) auf breite Zustimmung stießen, auf die lange Bank geschoben: Wir müssen erst schauen, ob das umsetzbar ist. Auf die Nachfrage, ob das technische Wissen nicht in Workshops weitergegeben werden könnte, damit das ganze Kollektiv befähigt sei, wurde gesagt: Ja, mal schauen, das ist alles sehr kompliziert, vielleicht irgendwann mal. Viele Monate zogen ins Land, bis jetzt.

Vielleicht ist es der beste Dienst, den die bestehende Gruppe noch leisten kann: Endlich einfach abdrehen, damit vielleicht etwas neues an die Stelle treten kann. Wenn nicht, dann eben nicht. Melden wir uns einfach doch alle bei Facebook an. Da sind doch heute eh alle.

In diesem Sinne:

Revolution oder Untergang!

Dieser Text wurde ursprünglich am 20. Juni 2012 von "nevermind" auf :: at.indymedia.org veröffentlicht.