Quellenangabe:
Das at.imc Kollektiv verabschiedet sich (vom 05.07.2012),
URL: http://no-racism.net/article/4136/,
besucht am 27.12.2024
[05. Jul 2012]
Seit Ende Juni 2012 ist at.indymedia.org abgeschaltet. Wir dokumentieren ein abschließendes Statement der BetreiberInnen.
Das at.imc Kollektiv verabschiedet sich. Beim letzten Treffen Mitte Juni 2012 wurde diese Entscheidung nicht gerade leichten Herzens getroffen. Wir finden viele Aspekte vom Indymedia-Konzept noch immer wichtig und es wird uns fehlen. Wir haben aber auch die Hoffnung, dass aus dem damit enstandenen Loch(?) neue Projekte entstehen. Falls Leute Lust, Zeit & Energie haben, neue Indymedia Kollektive auf die Beine zu stellen, begrüßen wir das und versuchen zu unterstützen- ein erster Schritt dazu ist die Lektüre des New IMC Howto auf https://docs.indymedia.org/view/Global/NewImcHowTo. Wir werden auch weiterhin versuchen, in anderen Kontexten und ausserhalb von Indymedia Medienarbeit zu machen und an verschiedenen Projekten zu partizipieren oder welche zu initiieren- und wir ermutigen alle Leser_innen das auch zu tun. Die im Folgenden festgehaltenen Gedanken sollen ein kleiner Beitrag aus unserer Sicht sein um aus Fehlern und Schwierigkeiten für zukünftige Projekte zu lernen bzw. zu verstehen, warum wir mit at.indymedia aufhören.
In der Zeit seit der Entstehung von Indymedia (1999) beziehungsweise der Entstehung von at.imc (2001) hat sich viel verändert. Indymedia war ein Projekt mit dem Anspruch, Aktivist_innen zu ermöglichen, die Berichterstattung selbst in die Hand zu nehmen. Damals gab es noch nicht die Möglichkeiten, so einfach im Netz eigene Erfahrungen zu publizieren, das heißt autonom und anonym Berichterstattung zu machen. Heutzutage ist es viel einfacher, eigene Blogs zu erstellen oder über soziale Netzwerke Informationen zu verbreiten.
Im Laufe der Zeit haben sich jedoch gewisse Vorteile einer selbstbetriebenen Publikationsinfrastruktur (wie es das Indymedia Netzwerk darstellt) herauskristallisiert. Auf at.imc wurden nie IP Adressen von Publizierenden oder Leser_innen aufgezeichnet. Alle Daten, die irgendwo anfallen, können gegen Aktivist_innen verwendet werden - bei at.imc wurde versucht, sowenig Daten wie möglich zu speichern.
Zusätzlich hat sich die Website at.indymedia.org als Archiv bewährt, viele Blogs, Websiten, Bildarchive sind nach einigen Jahren wieder aus dem Netz verschwunden. Das Archiv von at.indymedia.org wird weiterhin online sein und die Beiträge werden durchsuchbar sein (und es wird immer noch daran gearbeitet, das alte Archiv von 2001-2007 zu integrieren).
Indymedia sollte als Plattform unterschiedliche Medienprojekte zusammenführen und eine kritische Auseinandersetzung mit Medien fördern: deren Nutzen, deren Nutzung und den Gefahren die es dabei gibt. Dies ist uns in den letzten Jahren kaum mehr gelungen - auch auf Grund von fehlenden Ressourcen.
Die fehlenden Ressourcen führen uns zum Problem der Betreuung: wir können nicht mehr. Es existiert ein grundsätzliches Problem mit Infrastrukturarbeit, das wir auch in anderen Zusammenhängen beobachten konnten: sobald Infrastruktur existiert, wird diese genutzt, damit aber auch abgenutzt. Was an reproduktiver Arbeit dahintersteckt, wieviel Arbeit es bedeutet, Räume offline sowie online zu betreuen, wird selten gesehen, angesprochen oder sichtbar gemacht. Auch die Arbeitsverteilung selbst wird nicht diskutiert oder hinterfragt, obwohl allzuoft gerade damit strukturelle Diskriminierung manifestiert wird.
Das Bestehen von selbstverwalteten und offenen Räumen scheint wie eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen zu werden. Dahinter steht aber viel zu oft die Selbstausbeutung von Aktivist_innen, die zum Beispiel einer Lohnarbeit nachgehen um das Einkommen in die Instandhaltung der Räume zu buttern und dann fünf Tage die Woche damit beschäftigt sind Plena und Treffen zu besuchen oder Veranstaltungen vorzubereiten. Doch nicht selten reichen zeitliche und personelle Ressourcen in diesen Räumen für nicht mehr als die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebes.
Auch das indy.at-Kollektiv war in letzter Zeit hauptsächlich damit beschäftigt, irgendwie den Status Quo zu erhalten. Notwendige Weiterentwicklungen am Design, das Fördern von Mehrsprachigkeit auf der Seite und sogar grundlegende Auseinandersetzungen über den Umgang mit verschiedenen Ausschluss- und Gewaltformen dieser repressiven Gesellschaft waren nicht mehr in dem Maß möglich, wie wir es uns wünschen würden. Wir finden das Anliegen von at.imc, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen sich artikulieren können, deren Stimmen in dieser männlich, weiß, heterosexuell und bürgerlich dominierten Gesellschaft selten Gehör finden, immer noch wichtig.
Und da auch offene Nachrichtenplattformen, wie indymedia, nicht aus der Gesellschaft losgelöst sind, sondern Teil des sexistischen und rassistischen Normalzustands sind, erfordert die Betreuung viel Aufmerksamkeit, bedeutet eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen, heißt auf Treffen zu gehen, die eigene sowie kollektive Moderationstätigkeit zu diskutieren und zu reflektieren. Und für all dies fehlten uns letztlich Zeit und Kraft, sodass das Erkennen unserer eigenen Überlastung, die jahrelang ausbleibende Beteiligung aber auch die sehr geringe Wertschaetzung uns dazu brachten einen Schlusspunkt zu setzen.
Der Shitstorm an Kommentaren, der seit der 'at.imc nimmt Abschied'-Veroeffentlichung losgegangen ist, hat uns in unserer Entscheidung bestaetigt. Sexistische Trolle haben sich auf Indymedia ausgetobt und dabei zB. ein Statement immer wieder als Kommentar oder Beitrag zu posten versucht. Personen wurden geoutet und immer wieder die angebliche Zensur auf Indymedia angesprochen.
Uns ist klar, dass Zensur ein sensibles Thema ist. Kurz zur Erläuterung: bei Indymedia werden Beiträge, die gegen die Moderationskriterien verstossen nicht gelöscht sondern mit einer Erklärung versteckt- und sind somit immer noch einsehbar. Gelöscht wurden nur Personendaten, um Privatsphären zu schützen. Oft wurde diskutiert, ob ein Beitrag versteckt werden sollte (diese Moeglichkeit der Diskussion wurde in letzter Zeit nicht mehr genutzt) - diese Diskussionen sind auf der Mailingliste (die offen für alle war) nachvollziehbar.
In nur sehr wenigen Fällen kamen die Zensurvorwürfe in Form einer annehmbaren und emanzipatorischen Kritik, also einer Kritik die auch die eigenen Praxen mitreflektiert. Vielmehr kam dies in fast allen Fällen auf eine typisch mackerhafte Art daher, sich den öffentlichen Raum greifend und anderen Menschen und Ansätzen die (politische) Legitimation absprechend. Ging es dann mal unter die Gürtellinie oder wurden gar Sexismusvorwürfe als vermeintliche Verschwörung abgetan, kamen auf unsere notwendige Moderation hin auch schon die Zensurvorwürfe. Anstatt sich also mit der eigenen Argumentation und Handlungsweise auseinanderzusetzen wurde ein politischer Kampf gegen ein vermeintlich verschwörerisches Kollektiv weitergeführt. Das ist nun kein Spezifikum von at.imc oder online-Kommunikation, das passiert genauso in unseren physischen (Szene-)Räumen. Einzelne nehmen sich einen Raum und vertreiben mit ihrem unguten Verhalten andere, weil sie meinten, sie wären im Recht oder hätten eine revolutionäre Wahrheit gepachtet. Auf at.imc konnten wir dagegen nur partiell was machen. Vor allem bedeutete dies für die Moderation permanent Arbeit, und zwar eine Arbeit, die einer emotionalen Achterbahnfahrt gleichkommt. Feedback in diesem System schien nicht gut möglich. Das lag auch an der bewusst gewünschten Anonymität der Beiträge und Ergänzungen. Hier könnte mensch nun klarerweise weiterüberlegen, wie Dinge technisch anders umgesetzt werden könnten, so dass nicht solche Dynamiken entstehen. Zum Teil ist das aber nur eine Symptom-Bekämpfung.
"Der Zensurvorwurf ist ein Mittel um sich nicht mit eigenen Privilegien auseinandersetzen zu müssen und jene mundtot zu machen, die kritisieren, intervenieren, von Diskriminierung betroffen sind und/oder sich auflehnen. Wenn ich Kritik von mir abwende, muss ich mein Musik_Kunstverständnis nicht hinterfragen. Ich muss mir auch nicht eingestehen, dass ich sexistische, homophobe und rassistische Strukturen und somit das herrschende System durch mein Handeln stabilisiere."
http://maedchenmannschaft.net/wer-zensiert-hier-eigentlich-wen/
Das Auftreten von einigen wenigen 'Nutzern' (wir schaetzen weniger _innen) im letzten Jahr hat emanzipatorische Medienarbeit im Rahmen von at.imc nahezu verunmoeglicht. Verglichen mit einem physischen Raum waere das Verhalten gleichzusetzen mit: kurz vorbeikommen und auf die Bar urinieren um dann den Betreiber_innen ins Gesicht zu spucken. Und wir, als Moderationskollektiv, waren in dieser Hinsicht viel zu nachlaessig- wir haetten mehr verstecken sollen. Und wir haetten intensiver kommunizieren sollen, wie Indymedia funktioniert. Die Ergaenzungsfunktion (wie der Name schon sagt) war nie dazu gedacht, ueber Beitraege zu diskutieren. Indymedia war nie ein Diskussionsforum. Um ueber Beitraege zu diskutieren gab es seit Anfang von at.imc die oben schon erwaehnte Mailingliste, auf der ueber hundert Emailadressen eingetragen sind, sich aber nahezu nie wer zu Wort gemeldet hat. Es war wohl einfacher auf der Website ein Projekt in Grund und Boden zu flamen. Und die Ergaenzungsfunktion zu missbrauchen, um sich darueber zu echauffieren, dass eine Ergaenzung versteckt wird- da beisst sich die Katze in den Schwanz.
Weiters wurde in den letzten Tagen auch Kritik an der technischen Betreuung von at.imc geaeussert. Auch hier existiert dasselbe Problem wie bei Infrastrukturarbeit (technische Betreuung von wasauchimmer ist ja auch Infrastrukturarbeit). Technische Betreuung wird als Service angesehn. Anders als in physischen Raeumen ist die technische Betreuung von den Services, die von Aktivist_innen verwendet wird noch unsichtbarer. Sie passiert auf anderen Kontinenten, in anderen Zeitzonen und meistens kriegen die Benutzer_innen gar nichts davon mit. Und ja, technische Betreuung ist hierarchisch. Es ist nicht moeglich, das root Passwort eines Servers, der von Riseup aufgrund einer Vertrauensbasis zur Verfuegung gestellt wird, an Benutzer_innen zu verteilen. Es ist nicht moeglich allen Interessierten den Zugang zum Administrationsinterface der Website zu geben, da durch die falsche Verwendung der Software die Benutzer_innen von Indymedia gefaehrdet werden koennen. Es liegt in der Verantwortung der Technik, die Sicherheit und den Schutz von Benutzer_innen zu gewaehrleisten- und dies war immer oberste Prioritaet. Es wurde von dem Technikkollektiv ein eigener Server installiert und gewartet, auf dem mehrere Kopien von at.imc liefen, um Interessierten die Moeglichkeit zu bieten, sich mit den Technologien auseinanderzusetzen und herumspielen zu koennen- genutzt wurde der nie. Wir wollen uns auf alle Faelle bei Riseup und bei den Genossinnen von anderen IMCs bedanken, die uns jahrelang mit Rat und Tat unterstuetzt haben.
Wir hoffen, dass die Gedanken, die wir uns zu der Entwicklung von at.imc gemacht haben, nachvollziehbar sind. An- und Aufregungen sind durchaus erwuenscht. Falls unser Frust zu viel Raum eingenommen hat tut uns dies Leid. Anstrengend wars, aber auch schoen, sagen manche...
at.imc Kollektiv