Quellenangabe:
Zur Situation der Flüchtlinge in Ungarn (vom 15.11.2012),
URL: http://no-racism.net/article/4260/,
besucht am 14.12.2024
[15. Nov 2012]
Zwischen Haft und Obdach- losigkeit. Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012 von bordermonitoring.eu und Pro Asyl mit besonderer Berücksichtigung der Implikation für das Dublin II-System.
Dieser Bericht stützt sich (neben der Auswertung schriftlicher Quellen(1)) vor allem auf die Berichte von Flüchtlingen2, die wir bei verschiedenen Recherchereisen im Zeitraum von Dezember 2010 bis Dezember 2011 in Budapest, Debrecen, Bicske, Fót und Balassagyarmat trafen.(3) Weitere Berichte erhielten wir von Flüchtlingen, die aus Ungarn weitergeflohen sind und von der Abschiebung nach Ungarn bedroht waren oder sind. Die meisten von ihnen trafen wir in Deutschland, es liegen uns aber auch Berichte von Flüchtlingen vor, deren Weiterflucht sie nach Schweden, Holland, Österreich und Frankreich führte. Zum Teil haben wir Einzelinterviews, häufig aber auch Gespräche mit Gruppen von Flüchtlingen geführt. Wir haben uns nicht auf quantitative Datenerhebung konzentriert, sondern statt dessen über einen längeren Zeitraum an unterschiedlichen Orten in die Tiefe gehende Gespräche geführt - vor allem mit Flüchtlingen aus Afghanistan und Somalia.
Aus Gründen der zugesicherten Anonymität der InterviewpartnerInnen werden in diesem Bericht anonymisierte Kürzel verwendet. Die Transkriptionen der Audioaufzeichnungen bzw. die Mitschriften der Gespräche liegen den AutorInnen vor.
Die Gruppeninterviews und -gespräche hatten neben der reinen Informationserhebung eine besondere Bedeutung: so entstanden in diesen Gesprächen häufig Diskussionen über grundlegende Elemente europäischer Migrations- und Integrationspolitik. Die Flüchtlinge erläuterten die Auswirkungen dieser Politiken und stellten heraus, welche politischen Änderungen notwendig sind. Aus ihren Berichten und Empfehlungen leiten sich die im letzten Kapitel gemachten Empfehlungen ab.
Haft spielt in der Bewertung der Lebensrealität von Asylsuchenden in Ungarn eine zentrale Rolle. Wir haben die Haftanstalten in Ungarn nicht von innen gesehen. Offizielle Delegationen sind oftmals mit dem Problem konfrontiert, dass sich die zuständigen Stellen in einem möglichst positiven Licht darzustellen versuchen und im Vorfeld die Inhaftierten unter Druck setzen, negative Aspekte der Inhaftierung gegenüber der Delegation nicht anzusprechen. Daher wurden im Rahmen der Recherche primär qualitative Interviews mit ehemals Inhaftierten geführt, unter Bedingungen, die "freies Sprechen" ermöglichen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse wurden in diesem Bericht in Verbindung zu Berichten anderer Organisationen oder Delegationen, insbesondere des Helsinki Komitees Ungarn(4), gesetzt, die (zuletzt im Dezember 2011) ein alarmierendes Bild der Haftbedingungen für Flüchtlinge in Ungarn zeichnen.
Dieser Bericht hat zwei Leerstellen - es wäre notwendig, ihnen in weiteren Publikationen mehr Raum einzuräumen:
Zum einen sind Interviews mit Frauen die Ausnahme geblieben. Das ist unter anderem der Tatsache geschuldet, dass Flüchtlinge in Ungarn überwiegend männlich sind. Dennoch hat das Thema "weibliche Migration" eine besondere Relevanz, denn Frauen sind auf der Flucht in einer besonders schwierigen Situation. Vor allem die obdachlosen somalischen Flüchtlinge, mit denen wir in Budapest sprachen, haben diesen Umstand immer wieder betont.
Abgesehen von einem Kasten auf Seite 32 befasst sich der Bericht nicht mit der spezifischen Situation einer der größten Flüchtlingsgruppen in Ungarn: den Roma aus anderen osteuropäischen Ländern. Im Zuge der zunehmenden antiziganistischen Pogromstimmung (etwa in Bulgarien, Tschechien und Rumänien) sind Roma auch in Ungarn massiver Diskriminierung, Hass und Gewalt ausgesetzt. Diese Art der Verfolgung führt jedoch weder in den (anderen) EU-Mitgliedstaaten zur Gewährung von internationalem Schutz noch zeigt sich die EU insgesamt in der Lage, den Menschenrechtsverletzungen anderweitig wirksam entgegenzutreten. Die Frage des Umgangs mit innereuropäischen Fluchtbewegungen und dem Menschenrechtsschutz gegenüber Roma geht weit über die Flüchtlingssituation in Ungarn und die Frage der innereuropäischen Abschiebungen hinaus und bedarf daher einer gesonderten Auseinandersetzung.
Manche der Flüchtlinge, die wir in Ungarn getroffen haben, hatten wir bereits zuvor kennen gelernt: in Griechenland oder der Ukraine auf ihrem Weg in die europäischen Länder in denen sie sich Schutz und einen sicheren Ort zum Bleiben erhoffen. Über das Border Monitoring Project Ukraine (BMPU)(5) bestehen bereits seit über drei Jahren Kontakte auch nach Ungarn. In Griechenland fährt seit Sommer 2010 ein Infomobil(6) regelmäßig die Orte an, die für Schutzsuchende auf ihrer Weiterflucht nach Europa von Bedeutung sind. Aus diesen Kontakten ist das Vertrauen gewachsen, das notwendig ist, wenn derartig persönliche und oftmals schmerzliche Erfahrungen offenbart werden.
:: Download Bericht: "Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit" als pdf (956 KB, 48 Seiten)
Updates zur weiteren Entwicklung, wie Berichte, Rechtsprechung und Berichterstattung in Medien, werden gesammelt auf :: bordermonitoring.eu.
1 Siehe Quellenliste im Bericht ab Seite 38.
2 Die Terminologie "Flüchtling" wird in diesem Bericht nicht im juristischen Sinneverwendet, sondern für alle Personen, die gezwungenermaßen ihr Heimatland verlassen mussten. Dort wo der Begriff im juristischen Sinne verwendet wird, wird die Terminologie "Flüchtling im Sinne der "Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)" oder "anerkannter Flüchtling" benutzt.
3 Folgende Reisen fanden statt: 17./18. Dezember 2010 (Budapest, Bicske, Debrecen), 28.-30. Januar 2011 (Budapest, Debrecen), 29./30./31. März 2011 (Budapest, Debrecen), 11.-24. Juli 2011 (Budapest, Bicske, Balassagyarmat), 15.-17. September 2011 (Budapest, Bicske, Balassagyarmat), 24.-27. November 2011 (Fót), 3.-6.Dezember 2011 (Budapest).
4 Das Hungarian Helsinki Committee (HHC) ist eine Menschenrechts-NGO, die sich seit Jahren mit Menschenrechtsver- linge. Zwar ist diese Haft juristisch auf letzungen in den ungarischen Flüchtlingsgefängnissen und –lagern auseinandersetzt. Das HHC koordiniert ein Netzwerk von Asylrechts-AnwältInnen. Ein Anwalt des HHC ist im offenen Flüchtlingslager Debrecen präsent, zudem besuchen AnwältInnen des Komitees die Gefängnisse für MigrantInnen wöchentlich und machen Border Monitoring an den Grenzen zur Ukraine und Serbien. Webseite der Organisation (z. T. auch englischsprachig) :: helsinki.hu.
5 Border Monitoring Project Ukraine (auf englisch) siehe :: bordermonitoring-ukraine.eu
6 Infomobil in Griechenland (auf englisch) :: infomobile.w2eu.net