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Quellenangabe:
Neue rassistische Hetze und Repressionen in Russland (vom 16.08.2013),
URL: http://no-racism.net/article/4495/, besucht am 21.11.2024

[16. Aug 2013]

Neue rassistische Hetze und Repressionen in Russland

In den letzten Wochen mehren sich die Nachrichten aus Russland über rassistische Razzien, Festnahmen und Schikanen seitens der Polizei und anderer Behörden gegenüber Migrant*innen, Geflüchteten und vor allem Menschen, die nicht in Russlands etabliertes slawisches weiß-sein Bild passen.

Tausende Menschen werden auf den Märkten, Baustellen oder einfach auf den Straßen brutal festgenommen und sogar den existierenden Gesetzen zuwider tage- und wochenlang festgehalten.

In Moskau wurde am 31. Juli ohne jegliche rechtliche Grundlage ein Zeltlager errichtet wo mehrere hunderte Menschen durch die Polizei und andere Behörden festgehalten werden und, so heißt es offiziell, auf ihre Abschiebung warten. Die Medien hetzen gegen POCs (:: People Of Colour) und Migrant*innen, die Regierung und die Politiker*innen wollen neue Gesetze verabschieden, die solche Lager legalisieren und existierende Migrationsgesetze verschärfen. Die etablierten Oppositionellen begrüßen die Hetze oder schauen tatenlos zu. Nur einige der Menschenrechtler*innen, Anarchist*innen und libertäre Linke, sowie migrantische Organisationen versuchen dem wachsenden Rassismus etwas entgegenzusetzen.


Startschuss


Am 27. Juli 2013 eskalierte ein Konflikt auf dem Markt Matwejewskij in Moskau. Einige Polizeibeamt*innen versuchten einen jungen Mann angeblich wegen einer Vergewaltigung festzunehmen und stießen auf Widerstand seitens seiner Verwandten und anderer Menschen. Ein Polizist in zivil wurde dabei schwer verletzt. Es gibt viele offene Fragen in dieser Geschichte, die schnell die Schlagzeilen machte. Die Medien legten aber vor allem die Aufmerksamkeit auf die Herkunft der Menschen, die Widerstand leisteten, - einige von ihnen kamen aus :: Dagestan. Dagestan ist eine russländische föderative Republik im Nordkaukasus, die Dagestaner*innen sind genauso Staatsbürger*innen Russlands, wie die Polizeibeamt*innen in diesem Konflikt. Für die immer rassistischeren Medien, die Polizei und die Migrationsbehörden ist das aber nicht so wichtig. Der Nordkaukasus ist in einer russländischen Prägung des Rassismus eine Region, wo fremde nicht-weisse Menschen, mit fremder, vor allem muslimischer, Kultur leben. Und da diese nicht genug integriert und "wild" sind, geht von ihnen enorme Gefahr aus. Der Mythos vom schwarzen Vergewaltiger existiert auch in Russland. Daher passt dieses Konflikt sehr gut in eine Vorstellung vom Kampf der Kulturen. Wenn als weisse Russen wahrgenommene Typen die Polizei verprügeln - :: wird es bejubelt, oder wenigstens einfach hingenommen. Die Polizei ist nicht besonders beliebt, wenn nicht verhasst, und die Tatsache, dass die Beschuldigungen der Polizei sich leicht als konstruiert entpuppen, ist auch für Mainstreammedien nicht neu. Nur nicht in diesem Fall. Der Ton der Mitteilungen und Reaktionen war klar - diese Fremden sind schon so dreist geworden, dass die unsere Polizisten verprügeln. Die Verdächtigen für den Angriff auf den Polizisten wurden schon in den ersten Tagen danach festgenommen - eine Frau und ein Mann. Ihnen droht jetzt eine lebenslange Haft. Aber es musste eine andere Antwort geben, die für alle als fremd Markierte gilt. Und auf ein Antwort lies sich nicht warten.


Erste Schritte


Direkt nach dem Vorfall fing die Polizei in Moskau auf den Märkten und auf der Straße mit großen Razzien, sprich willkürlichen Festnahmen von hunderten und tausenden nicht als genug weiss wahrgenommenen Menschen, an. Es gibt :: unzählige Videos im Internet, wie solche verlaufen. Brutalität wird nicht verschleiert - sie wird als etwas ganz normales wahrgenommen, sowohl von der Polizei als auch von der Mehrheitsgesellschaft. Die Bilder ähneln denen vom Krieg, den Russland seit fast zwanzig Jahren mit unterschiedlicher Intensität im Nordkaukasus geführt hat. Hier (:: 1, :: 2) wurde zum Beispiel von Passant*innen gefilmt, wie die Polizei eine Kolonne mit Festgenommenen im Rahmen solcher Razzien wie Kriegsgefangene durch die Straßen am Stadtrand von Moskau treibt. Zuschauer*innen lachen. Auch in anderen Regionen fing die Polizei an ähnliche Razzien durchzuführen.

Schnell und immer härter kamen die Äußerungen von ganz oben. Schon am 30 Juli gab Innenminister Kolokoltsev die Anordnung innerhalb von 48 Stunden "die Märkte in Moskau zu dekriminalisieren". Auch der Chef von FMS (Föderale Migrations Behörde) Romodanowski äußerte sich zu dem Fall: "... Sowas muss streng unterbunden werden, weil unsere Sitten gebrochen werden. Wir müssen uns respektieren". Sogar Präsident Putin hat sich eingemischt und gesagt, dass er es komisch findet oder als Zeichen der Korruption sieht, dass mehrere Polizist*innen tatenlos zugeschaut haben, als deren Kollege zusammengeschlagen wurde und die Angreifer*innen nicht sofort festgenommen wurden. Das war ein klares Signal Antikorruptions-Schauprozesse einzuleiten.


Erste Lager


Zum 1. August wurde den Medien und Menschenrechtler*innen ein Zeltlager am Moskauer Stadtrand auf einem leerstehenden Industriegelände präsentiert. Die Angaben, wie viele Plätze das Lager hat, unterscheiden sich, aber es geht wohl um etwa Tausend. In diesem Lager werden die Menschen die festgenommen sind, interniert und warten auf die Entscheidung über bevorstehende Abschiebungen. Die Zelte und die Infrastruktur stellte das Ministerium für Notfälle, die Wächter*innen und sonstiges Personal stammen offiziell von Innenministerium und Migrationsbehörde. Die Polizei hat die Notwendigkeit solcher Lager dadurch begründet, dass es einfach nicht genug Platz in IWS (ähnlich wie GeSa) und Polizeirevieren für alle Menschen gibt, die im Laufe von Razzien festgenommen werden.

Nach wenigen Tagen war das Lager gefüllt. Die Zahlen unterscheiden sich wieder, es geht aber um etwa 600 Menschen. Die Mehrheit von ihnen hat die vietnamesische Staatsbürger*innenschaft, einige kommen aus Tadschikistan, Aserbaidschan, Syrien und Afghanistan. Die Mainstreammedien haben berichtet, dass die Bedingungen im Lager ganz gut sind. Und sowieso besser als die Bedingungen in denen Migrant*innen angeblich vorher gelebt haben - illegale Betriebe, wo sie in Sklav*innen-ähnlichen Zuständen gelebt und gearbeitet haben.

Unabhängige Beobachter*innen und die Bewohner*innen des Lagers selbst äußern andere Meinungen. In den ersten Tagen gab es größere Probleme mit der Versorgung, die Internierten mussten teilweise hungern. Die Zelte stehen direkt auf dem Asphalt, 50m² für etwa 40 Bewohner*innen. Tagsüber ist es zu heiß, Nachts zu kalt. Mangel an Sanitären Einrichtungen - es gibt zwar einige Duschen, aber nur mit kaltem Wasser. Wechselkleidung haben die Menschen auch nicht - sie haben nur das, womit sie festgenommen wurden. Anstatt Trinkwassers gibt es nur ein kleines Glas Tee ein paar Mal am Tag. Nach einigen Tagen wurden etwa 20-30 Menschen in Krankenhäuser gebracht. "Infektionskrankheiten oder Allergie" hieß es offiziell. Im Lager befinden sich auch Kinder und schwangere Frauen.

Die Menschenrechtler*innen weisen vor allem darauf hin, dass das Lager gar keinen legalen Status hat. Die Menschen werden hinter über drei Meter hohen Wänden und mit Wächtern aus OMON-Einheiten ohne rechtliche Grundlagen interniert, nur weil sie nicht weiss genug aussehen. (...) Polizei und Migrationsbehörden sprechen davon, dass die Häftlinge illegal in Russland seien und ein Gericht hat entschieden, dass sie abgeschoben werden müssten. Die Menschenrechtler*innen sprechen aber dagegen, dass es einfach nicht möglich sei bei so vielen Menschen so schnell Gerichtsprozesse durchzuführen. Nach Aussagen von Inhaftierten wird klar, dass sie nicht mal die Richter*in gesehen haben. Es wurde ihnen wie auf einem Fließband ohne Übersetzung und blitzschnell etwas zum unterschreiben gegeben, ohne die Personalien richtig festzustellen. Viele der Häftlingen können kein Wort russisch und können sich nicht gegen die Willkür wehren. Später kam noch heraus, dass die Behörden nicht mal die Namen vom großen Teil der Häftlingen sicher wissen. Von der Chefin der Moskauer Migrationbehörde hieß es "90% der Personen im Lager haben falsche Angaben über sich gemacht". Außerdem haben laut Menschenrechtler*innen einige der Festgenommenen sogar alle notwendige Papiere für den legalen Aufenthalt in Russland. Nur hatten sie diese bei der Festnahme nicht dabei oder sie wurden als "gefälscht" abgetan.


Moskauer Stadtregierung


Die Tatsache, wie schnell das Internierungslager aufgebaut wurde, lässt vermuten, dass die Aktion schon lange geplant war.

Für den 8. September sind in Moskau Stadtbürgermeister*innen Wahlen geplant. Es gibt zwar nicht so viele Kandidat*innen, die realistisch für Wähler*innen Stimmen streiten können, aber eines haben sie gemeinsam - alle teilen anti-migrantische und/oder rassistische Rhetorik. Der "Hauptkandidat" der Opposition Alexej Nawalnyj stammt sogar aus der extremen Rechten. Seine Hauptthemen sind neben dem Kampf gegen Korruption auch "illegale Immigration". Durch die rassistische Hetze und Schauprozesse gegen korrupte Polizist*innen und Beamt*innen stilisiert der heutige Bürgermeister Sergej Sobjanin, Mitglied der Regierungspartei Einiges Russland, sich als mindestens genauso konsequent wie seine Gegner.

Es gibt auch Meinungen, dass die rassistische Kampagne auch für Zwecke des Konkurrenzkampfes vor Ort instrumentalisiert wird. Die Moskauer*innen werden nicht von Heute auf Morgen aufhören einkaufen zu gehen, wenn nicht auf einem Markt, dann auf einem anderen. Und wenn die Märkte geschlossen werden, dann gibt es Supermärkte oder noch größere Hypermarktketten. Und die stehen alle im Konkurrenzverhältnis zueinander. Es wird auch von Räumungen berichtet, nach denen einige Märkte komplett geschlossen wurden. Die hochbegehrten Flächen werden dadurch frei. Anti-Korruptionskampagnen wurden schon in der Vergangenheit oft für interne Behördenkonflikte instrumentalisiert, und erscheinen deswegen nicht besonders glaubwürdig.


Die extreme Rechte. "Russische Säuberungen"


Die extremen Rechten haben auch schnell auf die Ereignisse in Moskau am 27. Juli reagiert. Direkt danach fingen in Sankt-Petersburg und Moskau selbsternannte "Russische Säuberungen" an. Das Wort Säuberung kommt aus der Militärsprache und ist mittlerweile in der Alltag und in den Medien weit verbreitet und bedeutet sowas ähnliches wie Razzia. Diese "Säuberungen" sollen eine Mischung aus den Pogromen und Polizeirazzien darstellen: eine Gruppe aus etwa 20-30 extremen Rechten, überwiegend Jugendliche, teilweise mit extrem rechter Symbolik, bewaffnet und vermummt, versammeln sich und gehen los auf die Märkte, in die Wohnheime oder einfach auf die Straße. Da suchen sie nach "illegalen" Menschen, "kontrollieren" deren Papiere und geben dann die "illegalen" an die Polizei ab. Zu solchen Aktionen wird offen in Internet aufgerufen, es wird gefilmt und veröffentlicht. Die Polizei mischt sich nur wenig ein, meistens löst sie nur die Versammlung von extremen Rechten auf und wenn es zu Massenschlägereien kommt, werden solche unterbunden. In Sankt-Petersburg hat einer der aktiven Neo-Nazis und Organisator solcher "Säuberungen" aber wohl eine Anzeige gekriegt. Die Zeug*innen berichten wenig überraschend davon, das die Polizeibeamt*innen die Aktionen selbst begrüßen und nehmen nach den Konflikten in der Regel nicht die Rechten, sondern die POC's fest.


Oppositionelle


Wie schon oben angedeutet, teilen die etablierten Oppositionellen in Russland selbst einen mehr oder weniger rassistischen und anti-migrantischen Konsens. Teilweise aus populistischen Gründen, teilweise aus Überzeugung. Biologistische Prägungen des Rassismus sind bei "Intellektuellen" nicht unbedingt salonfähig, dagegen ist aber Kultur-Rassismus ein Normalzustand. Die Liberalen sehen Migrant*innen wenn nicht als Problem, dann nur als Treibstoff für die Wirtschaft und insofern notwendiges Übel. Einer der bekannten liberalen oppositionellen Prochorow hat sogar in seinen Programm letzten Winter geäußert, dass für die migrantischen Arbeiter*innen abgeriegelte Lager aufgebaut werden müssen. "Kein Mensch ist illegal" oder "no borders no nations..." braucht Mensch im Kontext gar nicht zu erwähnen. Die am weitesten "fortgeschrittenen" versuchen, die Konzepte von Multikulturalismus und Integration aus Westeuropa zu adoptieren, dabei wird, wie auch in Westeuropa, die koloniale Vergangenheit und Gegenwart des Russländischen Reiches, Sowjetunion und modernes Russland und der Rassismus von Mehrheitsgesellschaft ausgeblendet und negiert.

Deswegen werden nur von einem Bruchteil der rassistische Charakter von Massen-Festnahmen und Razzien kritisiert. Die meisten Kritiker*innen haben ein Problem damit, wie brutal, wenig legal und ineffektiv diese Maßnahmen sind. Ihnen ist auch die Tatsache klar, dass insofern sie auch etwas gegen existierende Regime haben und/oder sogar etwas dagegen tun, diese Brutalität auch auf sie selbst zukommen kann. Das Internierungslager macht auch nur Sorgen, weil "morgen können wir da alle landen" und weil es keine legalen Grundlagen für die Lager gibt. Die Situation, in denen die POC's und Migrant*innen tagtäglich leben scheint für die weisse Mehrheitsgesellschaft genauso wenig interessant zu sein, wie bisher.


Ausblicke


Moskauer Behörden reden davon, das Lager innerhalb Moskaus aufzulösen und die Internierten in ehemalige Ferienlager im Moskauer Gebiet zu versetzen. Erste Gruppen von Menschen wurden schon abgeschoben, etwa 500 Menschen sind immer noch da. Die Polizei-Razzien in Moskau und anderen Regionen werden fortgesetzt. Solche Hetzkampagnen gab es schön früher. Jetzt ist aber nicht nur das Ausmaß größer, sondern die Folgen werden wahrscheinlich langfristig die Migrationspolitik in Russland deutlich repressiver machen.

Die Föderale Migrationsbehörde plant bis zum Ende des Jahres noch 83 Lager in 81 Regionen für illegalisierte Migrant*innen aufzubauen. Die Parlamentssprecher*innen reden davon, nach der Sommerpause sofort neue Gesetze zu verabschieden, die die Lage der Migrant*innen verschärfen und für solche Lager, wie jetzt in Moskau, eine gesetzliche Grundlage schaffen. Abgeordnete reden sogar darüber "freiwillige Arbeit" in solchen Lagern einzuführen, damit die illegalisierte Person selbst für ihre Abschiebung Geld verdienen kann.

Die Regierung instrumentalisiert schon wieder Rassismus für eigene Zwecke. Einerseits, wie banal das auch klingeln mag, lenken sie so die Aufmerksamkeit von sozialen Problemen auf die heraus halluzinierte aber trotzdem real wirkende "nationale Frage". Andererseits werden nicht nur neue Hassbilder produziert wie es mit :: LGBTIQ war, sondern alte, wie die POC's und Migrant*innen, wieder aktuell gemacht. Die ganze Geschichte mit dem Lager in Moskau ist gleichzeitig ein Signal und eine Probe - wie weit die Repressionen gehen können, was kann die Gesellschaft noch erlauben.


Aufruf für die Solidaritätsaktionstage vom 29. August bis 3. September 2013


In Moskau und anderen Städten in Russland fanden einige leider eher kleine Solidaritätsaktionen mit den Internierten im Lager in Moskau und gegen neue rassistische Entwicklungen statt. Es werden auch neue Aktionen geplant. Anarchist*innen aus Moskau rufen dazu auf, :: vom 29. August bis 3. September Solidaritätsaktionen durchzuführen.

Ja, heute werden die Stimmen von Illegalisierten, die Stimmen von Migrant*innen und POC's selbst in Russland wenig oder gar nicht gehört. Aber wir können dafür kämpfen, dass es anders wird. Wir können gegen rassistischen Entwicklungen im Staatsapparat und in der Gesellschaft kämpfen, damit es immer mehr Möglichkeiten für selbstorganisierte migrantische und POC Strukturen gibt.

Und dafür ist grenzübergreifende Solidarität von enormer Bedeutung. Die Regierung, wie auch die liberale Opposition in Russland zeigt gerne auf Westeuropa wie auf einen Vorbild, wo Abschiebungen und Abschiebeknäste zum Alltag gehören. Aber genauso muss dann auch der Protest dagegen zum Alltag in Westeuropa und möglichst überall werden - sei es vor den Staatsvertretungen; in den Veranstaltungen, die offizielle Delegationen aus Russland besuchen oder auch in Medien.

Quelle :: bruno.noblogs.org, bearbeitet von no-racism.net.