Quellenangabe:
Menschenunwürdige Behandlung von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen zeigt ... (vom 07.10.2015),
URL: http://no-racism.net/article/4911/,
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[07. Oct 2015]
... Europas wahres, hässliches Gesicht. Ein ungewöhnlicher Reisebericht über Deutschland, Österreich, Slowenien, Kroatien und Ungarn, 18.-20. Sep 2015.
Konzerne aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verkaufen mehr Waffen als jemals zuvor, aber die EU-Staaten mögen es nicht mit den Folgen dieser tödlichen Industrie konfrontiert zu werden.
Während immer mehr Menschen durch Kriege und blutige Diktaturen gezwungen werden zu fliehen, haben verschiedene EU-Länder angefangen Zäune an ihren Grenzen zu bauen; und das nicht nur in Ungarn. Schon seit Jahren gibt es hohe Zäune um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Nord-Afrika. Als ich letztes Jahr dort war, hingen die Kleiderfetzen noch an den Spitzen des NATO-Stacheldrahts auf dem Zaun. Hohe Zäune gibt es auch an der EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei und auch in Bulgarien. Auf dem Mittelmeer retten die Marine-Schiffe der diversen EU-Staaten nicht nur Menschen, sondern haben auch immer wieder sog. "pushbacks" auf dem offenen Meer ausgeführt. Sie drängen die Flüchtlingsboote zurück in andere Hoheitsgewässer. Über 25.000 Flüchtlinge sind mittlerweile durch die Abschottungspolitik der EU-Mitgliedstaaten ertrunken, Tendenz steigend.
Die EU präsentiert sich gerne als Wertegemeinschaft, als eine Union die für Demokratie, Freiheit (inklusive Reisefreiheit) und Menschenrechte einsteht. Aber was ich gesehen habe, als ich am vergangenen Wochenende durch Deutschland, Österreich, Slowenien, Kroatien, Ungarn und Kroatien gereist bin, hatte nichts mit dieser Wertegemeinschaft zu tun, über die die EU Politiker*innen so gerne reden. Es ist nicht nur die Gewalt, welche das Orban-Regime gegen Flüchtlinge an dem Grenzübergang zu Serbien in Röszke / Horgos angewendet hat. Es geht nicht nur um Zäune. Es geht auch um die seit Jahren anhaltende, rassistische Hetze durch viele europäische Politiker*innen und Teile der Medien und auch das nicht nur in Ungarn. In Deutschland spricht Merkel doppelzüngig. Sie hieß Flüchtlinge öffentlich willkommen, aber gleichzeitig arbeitet ihre Partei CDU fleißig an der Verschärfung des Asylrechts. Die Merkel-Regierung will die schon jetzt sehr niedrigen Sozialleistungen für Geflüchtete weiter kürzen und sie zum Teil in Sachleistungen statt Geld umwandeln. Für viele Flüchtlinge wird es in Zukunft noch schwerer werden Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Auch die Residenzpflicht soll weiter verschärft werden und soll sechs Monate lang an die Erstaufnahmeeinrichtungen gekoppelt werden. Das Bleiberecht soll auch weiter eingeschränkt werden, wodurch es in Zukunft noch mehr Abschiebungen, als es jetzt schon der Fall ist, geben wird.
Diese Reise ist nicht die "übliche" Reise, über die ich normalerweise berichte. Während des Kosovo-Kriegs in 1999 war ich mit einem Hilfstransport an der albanisch-serbischen (jetzt kosovarischen) Grenze unterwegs. Politisch war dies sehr schwierig. Keine der Kriegsparteien verdiente unsere Solidarität, aber dennoch wollten ich und die anderen Beteiligten etwas tun für die Menschen, die bei diesem sinnlosen Gemetzel unter die Räder kamen. Wir entschieden uns Medikamente und Lebensmittel zu einem Flüchtlingslager zu fahren. Wir halfen auch Menschen durch den Wald, an den Bereichen, wo Scharfschützen aktiv waren, vorbei, auf die albanische Seite der Grenze zu dem Flüchtlingslager zu kommen. Heute werden Menschen, die so etwas an den EU-Außen- und Innengrenzen machen, Schleuser genannt. Ich nenne solche Menschen Fluchthelfer*innen. Denn viele Menschen machen dies aus humanitären Gründen und nehmen dafür auch kein Geld, bzw. nur eine Unkostenerstattung. Wenn eine Kreuzrakete ihr Ziel traf, fühlten wir wie die Erde bebte, selbst wenn wir 50 Kilometer vom Einschlagort entfernt waren. Nachdem wir zurück gekehrt waren, bekam ich immer wieder Albträume. Ich wurde auch immer sehr nervös, wenn ich Hubschrauber hörte. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass kurz nachdem ich Hubschrauber gesehen oder gehört hatte, oft Schießereien anfingen. Im Jahre 2000 machten wir noch einen Hilfstransport. Dieses Mal in den Kosovo selbst. Der Krieg war vorbei, aber es gab immer mal wieder Schießereien. Für mich gab es auch noch etwas anderes: Die Bilder im Kopf.
Ich habe eine Weile gebraucht, aber nach einiger Zeit kam ich wieder gut zu recht und erholte mich insgesamt sehr gut davon. Die Bilder in meinem Kopf verschwanden wieder und ich wurde auch nicht mehr nervös, wenn ich einen Hubschrauber sah. Was blieb war das Bewusstsein, dass, was ich dort gesehen und erlebt habe nur für eine sehr kurze Zeit war und dass ich nur ein Bruchteil vom Krieg gesehen habe. Mir war vorher schon klar, dass Krieg der absolute Horror ist, aber es bestätigte mir noch mal, dass es unsere Pflicht ist Widerstand gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu leisten, und wir die Pflicht haben Geflüchtete aufzunehmen. Denn unser Wirtschaftssystem mit seinem mordenden Konkurrenzdruck und die Waffenindustrie mit ihren engen Verbindungen zur Politik sind einige der Hauptursachen für Flucht.
Obwohl ich mich gut erholt hatte, kamen sie irgendwann wieder, die Bilder im Kopf. Aber dieses Mal war es anders. Die Bilder gaben mir Energie, um mich weiterhin politisch und humanitär einzubringen. Sie kamen zurück, als die EU ihre Grenzen immer weiter schloss, als immer mehr Berichte über ertrunkene Flüchtlinge publiziert wurden und als die ersten EU-Mitgliedstaaten anfingen, Zäune zu bauen. Menschen, die Schutz gegen Krieg und Vertreibung suchten, konnten nicht mehr einfach in die EU einreisen und viele zahlten dafür mit ihrem Leben. Nebenbei verursachten die EU-Mitgliedstaaten mit ihrer Abschottungspolitik auch die Geschäftsgrundlagen für die mafiösen Strukturen der Schlepperbanden. Würde die EU Schlepperbanden bekämpfen wollen, müsste sie nur legale Einreisemöglichkeiten ermöglichen. Flüchtlinge würden dann ganz normal per Linienflug, Bus- oder Zugfahrt in die EU einreisen. Stattdessen bekommen Flüchtlinge seit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der deutschen Grenze bei Freilassing jetzt sofort eine Anzeige wegen illegaler Einreise. Das ist Frau Merkels Willkommenskultur.
Dies waren einige der Gedanken, die ich am vergangenen Freitag während der langen Fahrt zur Grenze hatte. Die erste Grenze, die ich passierte, war die deutsch/österreichische Grenze bei Passau. Deutschland nahm seine Grenzkontrollen letzte Woche wieder auf, nachdem mehr und mehr Flüchtlinge angekommen waren. Aber was hat die Bundesregierung denn eigentlich erwartet? Bis heute war alles sehr friedlich, warum gibt es jetzt also so viel Polizei an der Grenze? Während Flüchtlinge innerhalb Deutschlands mehrmals täglich von Nazis angegriffen werden, werden also keine Flüchtlingsheime beschützt. Es werden also keine Menschen, sondern ausschließlich Grenzen geschützt.
In Österreich sah ich den ersten Militär-Konvoi. Bis dahin hatte ich noch nie einen Militär-Konvoi gesehen, aber in den darauf folgenden Tagen sah ich sie immer wieder. Ich fuhr weiter nach Slowenien, wo ich mich mit einem Freund getroffen habe. Danach fuhr ich zur kroatisch-slowenischen Grenze bei Bregana. Ich kaufte einige Vorräte ein (Wasser und Lebensmittel) um sie an Flüchtlinge, die seit dem Vortag dort waren, zu spenden. Die slowenischen Riot Cops ließen diese Menschen nicht über die Grenze. An einem anderen Grenzübergang, etwa 10 Kilometer entfernt, hatten slowenische Polizist*innen die Flüchtlinge gestern angegriffen. Es gab mehrere Verletzte, unter denen auch Kinder waren. Waren das die europäischen Werte, worüber Politiker*innen immer reden? Ich kam also am frühen Morgen nach diesem Angriff an und sah direkt, dass die slowenische Polizei die Flüchtlinge immer noch daran hinderte, die Grenze zu passieren. Kinder mussten in der kalten Nacht draußen auf Pappkartons schlafen.
Gewalt und menschenunwürdiges Verhalten sind also die wahren Werte der EU, das war mir schon lange bewusst. Ich bin mir auch im Klaren darüber, dass weder Ungarn, noch Slowenien ihre Grenzen schließen könnten, wenn Länder wie Deutschland oder Frankreich absolut dagegen wären. Es ist schließlich erst ein paar Monate her, dass die deutsche Bundesregierung gezeigt hat, dass sie notfalls ein Land wie Griechenland regelrecht erpresst, wenn dieses Land eine eigene Politik entwickeln möchte, die den großen EU-Staaten nicht passt. Die Bilder von deutschen und holländischen Polizeiautos an der ungarischen Grenze waren für mich also keine Überraschung. Frontex lässt grüßen. Verbal zeigen einige europäische Politker*innen ihre Abscheu über Orbans Methoden, aber damit die EU-Grenze dicht bleibt, schicken sie sicherheitshalber schon mal ihre Polizeikräfte zur Unterstützung vorbei.
An dem slowenisch-kroatischen Grenzübergang sah ich also viele Riot Cops, Räumpanzer und es war permanent ein Polizeihubschrauber in der Luft. Wovor hat diese EU eigentlich Angst? Hat sie Angst vor diesen Menschen in Not, die Schutz bei uns suchen? Ist das die Art wie EU-Mitgliedstaaten mit Menschen umgehen, die sich bei uns in Sicherheit bringen wollen? Etwa eine Stunde nachdem ich in Bregana angekommen war, kamen einige Busse. Aus irgendeinem Grund durften nur syrische Familien mit Kindern einsteigen. Fast alle Flüchtlinge protestierten, auch viele die in die Busse einsteigen durften. Die Solidarität unter diesen Menschen war in diesem Moment großartig. Auch unter den anwesenden freiwilligen Helfer*innen und Aktivist*innen. Ich hab mich dann entschieden zu versuchen heraus zu finden wo die Busse mit den Flüchtlingen hinfahren, denn das wusste hier niemand so genau.
Zusammen mit einigen Journalist*innen aus Deutschland und Großbritannien (Ich dachte erst, dass sie aus Kroatien kamen, da sie in einem Mietwagen mit kroatischem Kennzeichen fuhren) habe ich mich dann entschieden den Bussen zu folgen. Mit einigen Leuten vor Ort sprach ich ab immer wieder von unterwegs zu twittern. Am Anfang sah es so aus, als ob die Busse von nur einem Polizeifahrzeug begleitet wurden. Doch dies sah nur so aus. Schnell wurde mir klar, dass die Busse von mehreren zivilen und erst einmal nicht erkennbaren Polizei- oder sogar Geheimdienstfahrzeugen begleitet wurden. Die Busse hatten sofort die slowenisch-kroatische Grenze überquert und fuhren nun in Richtung der slowenischen Hauptstadt Ljubljana. Immer wieder standen Polizeifahrzeuge am Straßenrand und beobachteten wer diesem Konvoi folgt. Auch die Begleitfahrzeuge des Konvois ließen sich immer wieder zurück fallen um nachzuschauen wer alles hinterher fuhr. Als die Busse Ljubljana passiert hattten und weiter Richtung Maribor fuhren, wurden die beiden Autos mit den Journalist*innen aus Deutschland und Großbritannien angehalten, damit sie die Busse nicht weiter verfolgen konnten. Ich entschied mich, mich noch etwas mehr zurück fallen zu lassen und wurde dann auch prompt nicht von der Polizei gestoppt.
Leider hab ich die Busse dann ungefähr 10 Kilometer vor Maribor verloren, als ich gezwungen war sie zu überholen. Ich fuhr weiter zur österreichischen Grenze und hielt den Grenzübergang im Auge, aber die Busse kamen nicht. Später hörte ich, dass die Busse zu einem kleineren Grenzübergang in der Nähe gefahren waren. Kurz darauf hörte ich, das eines der Kinder, das die Nacht dank des Grenzregimes vom Schengen Raum an der kroatisch-slowenischen Grenze draußen schlafen musste, gestorben war. Noch ein totes Kind für das ich die EU Politiker*innen verantwortlich halte. Ich hatte ein paar Tränen in meinen Augen, so wie ich sie eine Woche zuvor auch in Dortmund gehabt hatte, als ich dort einer der vielen Menschen war, die die ersten Flüchtlinge, die mit einem "Train of Hope" im Dortmunder Hauptbahnhof ankamen, in Empfang nahm; Tränen voller Wut und Traurigkeit.
Während ich auf die österreichisch-slowenische Grenze schaute, wurde berichtet, dass die kroatischen Behörden einen Zug voll mit Flüchtlingen nach Ungarn geschickt hatten. Die ungarischen Behörden schickten die Geflüchteten zur österreichisch-ungarischen Grenze, um genau zu sein nach Heiligenkreuz. Ich entschied mich also nach Heilgenkreuz zu fahren. Auf dem Weg nach Heiligenkreuz sah ich immer mehr österreichisches Miltär. Als ich am Zollamt in Heiligenkreuz ankam, sah ich das totale Chaos vor meinen Augen. Hunderte von Flüchtlingen: Männer, Frauen und Kinder, die gekommen waren, um ein Leben in Frieden führen zu können, wurden wie lästige Objekte behandelt und von Staat zu Staat geschoben. Wieder sah ich Kinder auf Pappkartons schlafen, ich sah aber auch, dass viele Menschen versuchten zu helfen. Aber ich sah auch viele Soldat*innen mit Mundschutz, die die Flüchtlinge vor allem hinter Hamburger Gittern überwachten. Zumindest versuchten österreichische Behörden die Menschen in Not-Unterkünfte in andere Städte und nach Deutschland zu bringen. Aber ich kann die Bilder, die ich dort gesehen habe, nicht beschreiben. Bilder von Menschen die soviel durchgemacht haben und völlig verzweifelt waren. Wieder waren Tränen aus Wut und Trauer in meinen Augen.
Ich entschied mich über die Grenze zu fahren, nachdem ich gehört hatte, dass eine große Gruppe zu Fuß in Richtung Grenze unterwegs war. Wir waren mit mehreren Leuten in Ungarn unterwegs und es tat gut zu sehen, dass Menschen vielen Geflüchteten einen Platz in ihrem Auto anboten um sie danach direkt zur Grenze zu fahren. Das war wichtig, denn seit dem 15. September gibt es ein neues Gesetz in Ungarn, durch das Flüchtlinge für illegale Einreise bis zu 3 Jahre inhaftiert werden können.
Am nächsten Morgen fuhr ich nach Salzburg. Auch dort sah ich viel Militär. Es gab sogar ein paar Soldat*innen, die auf den Straßen rund um den Hauptbahnhof patrouillierten. Vor dem Hauptbahnhof war ein Zelt vom Roten Kreuz aufgebaut. Im Hauptbahnhof waren viele Riot Cops, aber ohne Helm. Die Polizei, die Armee, das Rote Kreuz und viele freiwillige Helfer*innen bereiteten sich auf die Ankunft von Bussen und Zügen mit Flüchtlingen vor. Die Flüchtlinge kamen vor allem aus Nickelsdorf, ein anderer Ort an der österreichisch-ungarischen Grenze.
Ich fuhr weiter zur östereichisch-deutschen Grenze bei Freilassing. Der Grenzübergang war voll mit deutschen Riot Cops, allerdings auch hier ohne Helm. Es war der soundsovielte Grenzübergang, wo ich an diesem Wochenende war, wo nichts von den europäischen Werten zu sehen war, über die europäische Politiker*innen so gerne reden. Was ich gesehen habe, war wieder mal viel Polizei. Zu den wichtigsten, europäischen Werten gehört wohl vor allem massive Einschüchterung und Repression gegen Menschen, die zu uns kommen um Schutz zu suchen.
Überall wo ich an diesem Wochenende war, habe ich viele Menschen gesehen, die die Menschen, die zu uns kommen, unterstützten so gut wie sie konnten. Und andererseits Staaten, die alles tun um Geflüchtete aus ihren Länder heraus zu halten. Selbst dann, wenn dies bedeutet dass 25.000 Menschen im Mittelmeer ertrinken. Die EU wird nicht umsonst "Fortress Europe" genannt. Die Werte der EU garantieren nur für Menschen aus westlichen Ländern Bewegungsfreiheit, vorausgesetzt diese Menschen können sich das finanziell leisten, was oft nicht der Fall ist. Oder: "Freedom of Movement for Europeans only". Aber die Fluchtrouten zeigen, dass es Löcher im Fort Europa gibt, und sowohl die Geflüchteten als auch immer mehr Menschen aus Europa werden weiter machen und noch mehr Löcher graben.
Österreich schickte mehrere Flüchtlingsgruppen an der slowenisch-österreichischen Grenze am Montag zurück, aber die Menschen kamen immer wieder. Es gibt keinen Zaun, keine Mauer, kein Meer und keine Grenze, das die Menschen auf Dauer stoppen kann. Die Entschlossenheit und der Überlebenswille der Menschen ist viel stärker. Darum werden auch in Zukunft Menschen zu uns kommen, und sie haben auch ein Recht darauf, dies zu tun.
Artikel von Riot Turtle, zuerst veröffentlicht am 24. Sep 2015 auf :: krawallkroete.wordpress.com.