Quellenangabe:
Zur Situation in der Osttürkei / Nordkurdistan - Refugee Support (vom 06.05.2016),
URL: http://no-racism.net/article/5106/,
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[06. May 2016]
Einige in den letzten Monaten auf den griechischen Inseln Lesvos und Samos agierende Aktivist*innen haben sich vor zwei Wochen dazu entschieden, sich ein Bild über die Lage von Geflüchteten in der Osttürkei zu machen.-
Schnell wurde dabei klar, dass das Thema Refugees in der Türkei nicht losgelöst vom kurdisch- türkischen Konflikt behandelt werden kann. Im Gegenteil: Die Türkei selber spielt eine wichtige Rolle im aktuellen Krieg im Nahen Osten und ist somit Mitverursacherin von Fluchtgründen.
Nachdem die No Border Kitchen auf Samos den Küchenbetrieb auf Grund der dortigen Veränderungen eingestellt hat und gleichzeitig die Zahl der auf den griechischen Inseln ankommenden Geflüchteten seit dem 20.3.2016 stetig gesunken ist, stieg das Interesse für eine Erkundungstour in die Türkei um sich ein Bild über die Situation der Geflüchteten dort zu machen. Da bereits mehrere Berichte über Camps im Westen der Türkei kursieren, jedoch kaum Informationen über den Osten des Landes zu finden waren, stand der Entschluss schnell fest: Es geht Richtung syrische Grenze, nach Nordkurdistan. Nicht zu letzt auch, weil ein großer Teil der geflüchteten Menschen sich im östlichen Teil des Landes befindet.
Wenn Mensch sich in Nordkurdistan / der Osttürkei bewegt, ist nicht zu übersehen, dass dort Krieg herrscht. Wir wollen jedoch weniger auf die aktuelle politische Situation eingehen, als viel mehr darauf, wie Menschen in Europa und vor Ort solidarisch praktische Hilfe leisten können.
Das Wichtigste, was in jedem Gespräch, welches wir mit Menschen in Nordkurdistan geführt haben, von den aktiven Kräften gewünscht ist, ist Berichterstattung. Die Medien in der Türkei sind zensiert, die in Europa meist verfälscht, viele Journalist*innen wurden in den kurdischen Gebieten verhaftet.
Die Menschen in Europa sollen sehen, mit welchen faschistischen Mitteln die Regierung Erdogans (AKP) gegen die kurdische Bevölkerung vorgeht. Zahlreiche Städte und Dörfer sind in den letzten Monaten mit nahezu allen zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln angegriffen und zum Großteil zerstört worden. Mehr als 400 Zivilist*innen wurden seit Anfang der militärischen Offensive bereits getötet, Tausende sitzen in türkischen Gefängnissen.
Mit Blick auf die Geflüchteten auf ihrem Weg durch die Türkei wird von lokalen Akteur*innen auf kurdischer Seite in zwei Arten von Geflüchteten- Gruppen unterschieden: Zum einen die "Refugees", die sich in Europa und in westlichen türkischen Städten ein besseres Leben aufbauen wollen. Zum anderen Jene, die durch den Krieg in den kurdischen Gebieten Syriens, dem Irak und der Osttürkei zwar aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden, jedoch in Kurdistan bleiben und auch wieder zurück in ihre Heimat wollen. So genannte "internally displaced people" (idp).
Den geflüchteten Jesid*innen aus Shengal (Irak) wird eine besondere Stellung zugesprochen. Sie sind zwar "Refugees" stehen aber unter dem Schutz der kurdischen Bewegung. Nach dem Verständnis offizieller kurdischer Organisationen sollen sie nach dem Krieg wieder zurück in ihre Heimat. Die meisten von ihnen jedoch können sich ein sicheres Leben im Irak nicht mehr vorstellen und wollen stattdessen nach Europa oder Kanada.
Der Großteil der Geflüchteten in der Türkei (ca. 2 Mio. Menschen) leben in den Städten über die gesamte Türkei verteilt in Wohnungen oder Häusern. Lediglich ein "kleiner" Teil von ca. 200.000 Menschen lebt momentan in Refugee Camps. Der Großteil der Camps in der Nähe der syrischen Grenze wird durch nichtstaatliche Organe und internationale Hilfsorganisationen, u.a. dem Türkischen Roten Halbmond, dem UNHCR und NGOs betrieben.
Syrische Refugees bekommen in der Türkei eine sogenannte "guest card", welche sie zum freien Bewegen innerhalb der Türkei befugt. Alle anderen Geflüchteten werden vermutlich in detention camps festgehalten oder direkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Wir konnten jedoch keine konkreten Informationen darüber erhalten.
Bis auf ein Camp ca 15 km südlich der kurdischen Hauptstadt Amed (Diyarbakir), in dem momentan 1750 Jesid*innen untergebracht sind, gibt es in Nordkurdistan Aussagen zufolge keine selbstorganisierten Camps.
Dem Verständnis der Kurd*innen zufolge sollen die Menschen nicht in Camps untergebracht werden, da sie schnell wie Gefängnisse funktionieren. Stattdessen werden idp-Leute bei Familienangehörigen, Freund*innen oder anderen solidarischen Menschen untergebracht und versorgt. Insgesamt gibt es eine breite solidarische Bewegung unter den Kurd*innen. Es wird sich gegenseitig in allen Lebensbereichen unterstützt.
Die Menschen sollen nicht als Fremde behandelt werden. Im Gegensatz zur türkischen Regierung wird kein Profit aus der Situation geschlagen.
Die "Rojava Aid and Solidarity Association" nimmt bei der Organisierung und Koordinierung der praktischen Hilfe eine wichtige Position ein. Sie organisieren u.a. Hilfstransporte in die zerstörten oder noch umkämpften Gebiete, sorgen für Unterkünfte, helfen beim Wiederaufbau, bieten psychologische Betreuung, sammeln Spenden, verteilen Essensrationen uvm.
Gegründet wurde die Rojava Assosiation während der Belagerung Kobanes vor zwei Jahren. Sie ist komplett durch Spenden finanziert. Die Spenden kommen aus der kurdischen Gesellschaft und von solidarischen Menschen auf der ganzen Welt. Weder die türkische Regierung, noch die Vereinten Nationen geben Geld in die kurdische Bewegung.
Mittlerweile ist die Situation für die Kurd*innen in der Türkei schwieriger als die der in Kobane Lebenden selbst. Daher liegt der Fokus der Aktivitäten nun in Nordkurdistan z.B. in Diyarbakir, Cizre, Nusaybin. In zahlreichen Städten oder Bezirken besteht nach wie vor Ausgangssperre (curfew), zum Teil finden noch heftige Kampfhandlungen statt.
Die Erfahrungen in der kurzen Zeit, die wir vor Ort waren, haben uns zweierlei gezeigt.
Zum Einen wurde sehr deutlich, dass alle Sicherheitsorgane des Staates (Polizei, Militär) extrem scharf sind. Überall, vor allem aber in den Kriegsgebieten muss mit starken Kontrollen gerechnet werden. Die größte Gefahr in den kurdischen Gebieten geht klar von Polizei und Militär aus. Die Willkür und eine geringe Hemmschwelle Menschen zu verdächtigen oder zu kriminalisieren sind schnell Gründe für repressive Handlungen. Mensch gerät sehr rasch in den Fokus und wird verdächtigt Terrorist*in zu sein oder zumindest Kontakte zur PKK o.ä. zu haben. Beides bedeutet Knastaufenthalt.
Dazu kommt, dass die Polizei selbst das Hauptziel von Angriffen der kurdischen Guerilla ist und es allein deshalb ratsam ist jeden Kontakt zur Polizei möglichst zu vermeiden.
Zum Anderen haben wir gesehen, dass es eine sehr starke Solidaritätsbewegung innerhalb der kurdischen Gesellschaft gibt. Dies sollte ein Vorbild für alle europäischen Länder sein. Jede*r trägt einen kleinen Teil dazu bei, somit entsteht ein großes Netzwerk einer solidarischen Bewegung.
Diese Bewegung kann und soll von Außen unterstützt werden. Sei es durch Geldspenden oder durch praktische Hilfe in den bestehenden Strukturen vor Ort.
Daher ist eine internationale Solidaritätsbewegung außerhalb Kobanes und Rojavas aktuell sehr wichtig und erstrebenswert um auch in Nordkurdistan praktische und moralische Unterstützung zu bieten.
Der Bedarf an neuen Projekten muss mit den bestehenden Strukturen besprochen werden.
Externe Strukturen, wie die der No Border Kitchen entlang der Fluchtrouten in Europa, sind in Nordkurdistan insofern nicht von Nöten, da infrastrukturelle Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern innerhalb der Bewegung bereitgestellt wird.
Darüber hinaus ist die Arbeit in Orten nahe der syrischen Grenze außerhalb der kurdischen Gebiete auf Grund starker Unterwanderung des so genannten IS für internationale Aktivist*innen eher als gefährlich einzuschätzen.
Worüber wir kaum Informationen erhalten haben ist, was mit Geflüchteten passiert, die von weiter östlich her (Pakistani, Afghani, Irani etc.) in die Türkei kommen und ihren Weg durch die Türkei nach Westen fortsetzen. An dieser Stelle sind weitere Informationen ergänzbar und erwünscht.
Nachfolgend Auszüge eines Erfahrungsberichts (Anfang April 2016)
"...Das Land ist riesig und wir konnten lediglich einen Fokus auf ein kleines Gebiet legen. Die Region rund um die "kurdische Hauptstadt" Diyarbakir. Zwei Tage bevor wir da angekommen sind, starben bei einem (PKK) Bombenanschlag ein paar PolizistInnen. Die ganzen türkischen West-Ost Straßen sind gesäumt von Kontrollen.
Gepanzerte Fahrzeuge, Menschen mit schusssicheren Westen, das Sturmgewehr im Anschlag, kontrollieren Fahrzeuge und Menschen stichprobeweise und immer wieder. Die Zufahrtstraßen zu Diyarbakir haben schärfere Kontrollen und fast alle werden kontrolliert. Vor einem Polizeiposten ist auch mal die zweispurige Straße einer Fahrtrichtung gesperrt, davor geschätzt fünf Wasserwerfer und ebensoviele gepanzerte Fahrzeuge.
In Diyarbakir ist kein einziger normaler Streifenwagen zu sehen, es patrouillieren zuhauf gepanzerte und vergitterte Geländewagen mit Geschützen auf dem Dach sowie Wasserwerfer. Immer wieder schwer bewaffnete Checkpoints und Kontrollen.
Im Stadtteil Sur gab es in den letzten Monaten zum Teil heftige Gefechte zwischen kurdischen GuerillakämpferInnen und der türkischen Armee und Polizei. Ein Teil dieses historischen Altstadtteils ist noch immer komplett abgeriegelt, es werden da kurdische KämpfeInnen vermutet. Im Moment fallen keine Schüsse. Teile der Stadt sind komplett zerstört und unbewohnbar. 82% der Fläche in Sur wurden konfisziert und sollen nach den Vorstellungen der Regierung neu aufgebaut werden. Obwohl der Stadtteil tausende von Jahren alt und UNESCO geschützt ist, bestehen Pläne diesen neu aufzubauen um ihn besser überwachen zu können. Die Panzer und Geländewagen passen nicht in die engen Gassen, die Regierungstruppen haben drei Monate gebraucht um ins Viertel zu kommen.
Der kurdisch-türkische Konflikt ist ein alter. Bei den jüngsten Auseinandersetzungen kann von einem überschwappen des Syrienkrieges auf türkischen Boden die Rede sein. Viele KurdInnen aus der Türkei haben in Syrien gekämpft. Kurdische Verbände erzielten Erfolge im Syrienkrieg (zum Beispiel die Verteidigung der Stadt Kobane an der türkischen Grenze gegen die Angriffe des IS). Die Türkische Armee begann kurdische Stellungen auf syrischem Boden anzugreifen. Kurdische Dörfer und Städte auf türkischem Boden haben angefangen sich zu verbarrikadieren und Gräben auszuheben. Daraufhin kam es zum Eklat, die türkische Armee hat sich ihrer Autorität beraubt gefühlt und ist militärisch gegen die Stellungen vorgegangen. In einigen Orten gibt's noch immer eine Ausgangssperre sind komplett zerstört und unbewohnbar, so wurde uns berichtet. ..."
Kontodaten der "Rojava Aid and Solidarity Association"
Is Bankasi
Branch of Ofis/Diyarbakir
TL IBAN: TR96 0006 4000 0018 3030 8933 06
USD IBAN: TR03 0006 4000 0028 3030 2128 71
EUR IBAN: TR13 0006 4000 0028 3030 2128 85
Ziraat Bankasi
Branch of Ofis/ Diyarbakir
TL IBAN: TR 73 0001 0011 5070 4108 9850 01
USD IBAN: TR46 0001 0011 5070 4108 9850 02
EUR IBAN: TR19 0001 0011 5070 4108 9850 03
Artikel von no border activists, zuerst veröffentlicht am 05. Mai 2016 auf :: linksunten.indymedia.org.