Quellenangabe:
Gänzlich unerwünscht. Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn (vom 25.08.2016),
URL: http://no-racism.net/article/5171/,
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[25. Aug 2016]
Der von border- monitoring.eu und Pro Asyl im Juli 2016 veröffentlichte Bericht zeichnet die Entwicklungen von Beginn des Jahres 2015 bis zum Frühjahr 2016 nach, geht auf die beiden Gesetzespakete vom Sommer 2015 ein, die das individuelle Asylrecht in Ungarn faktisch abgeschafft haben und thematisiert die Inhaftierung von Asylsuchenden sowie den staatlichen Umgang mit Dublin-Rückkehrer_innen und zurückgeschobenen Personen mit Schutzstatus.
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Im Sommer 2015 kampierten mehrere tausend Menschen, darunter etliche Familien mit kleinen Kindern, unter katastrophalen Umständen über Tage hinweg am Budapester Bahnhof Keleti. Im Zentrum einer europäischen Hauptstadt spielte sich eine humanitäre Katastrophe (bisher ungekannten Ausmaßes) ab, die durch zeitweise über zehn Übertragungswagen weltweit live verfolgt werden konnte.
Schlussendlich nahmen die unfreiwillig immobilisierten Geflüchteten bekanntermaßen ihr Schicksal in die eigene Hand und marschierten auf der Autobahn in Richtung Österreich. Auch die Bilder hiervon gingen um die Welt. Sie veranlassten Angela Merkel, die Flüchtlinge, die sich auf den Weg gemacht hatten, nach Deutschland kommen zu lassen. Dies war zugleich der Beginn der "formalisierten Balkanroute", über die Hunderttausende – insbesondere syrische Kriegsflüchtlinge – relativ schnell und gefahrlos von Griechenland aus nach Zentraleuropa gelangen konnten.
Die ungarische Regierung wollte zu keinem Zeitpunkt, dass das Land Teil oder gar Endpunkt der Balkanroute würde. Zwar hatte sie dies gemein mit allen anderen europäischen Staaten, war jedoch im Gegensatz zu diesen relativ schnell dazu bereit, radikale Maßnahmen zur Unterbindung der migrantischen Mobilität zu ergreifen. Dies geschah auf mehreren Ebenen: Diskursiv wurde den Geflüchteten nicht nur durch eine sich permanent verschärfende Rhetorik der Regierung, sondern sogar auf landesweit aufgehängten Plakaten unmissverständlich klargemacht, dass sie in Ungarn gänzlich unerwünscht sind. Ganz praktisch hat die ungarische Regierung mittlerweile einen Großteil der Staatsgrenze mit einem Zaun versehen und damit eine neue Teilung Europas mittels physischer Grenzbarrieren eingeleitet, die vor Kurzem noch undenkbar erschien. Weiterhin wurden eine Reihe von Gesetzesverschärfungen verabschiedet, die allesamt dem Zweck dienten, das Asylrecht in Ungarn auszuhebeln (vor allem über die Erklärung Serbiens zum "sicheren Drittstaat"). Zudem verschlechterten sich auch die allgemeinen Lebensumstände von Asylantragstellern und deren Inhaftierung wurde ausgeweitet. Wenn dennoch Schutzsuchende nach Ungarn gelangen und eine Abschiebung nicht möglich ist, sollen sie das Land zumindest "auf eigene Faust" so schnell wie möglich wieder verlassen. Jüngster Höhepunkt dieser Strategie ist der im März 2016 bekannt gewordene Plan der Regierung, sämtliche offenen Aufnahmeeinrichtungen in Ungarn zu schließen und durch zwei Zeltstädte an der Grenze zu Österreich zu ersetzen sowie die Abschaffung sämtlicher Integrationsbeihilfen für Flüchtlinge, die einen Schutzstatus in Ungarn erhalten. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass sich die ungarische Regierung seit letztem Jahr vehement dagegen sträubt, Dublin-Überstellungen in einem größeren Ausmaß zu akzeptieren. Oder um es mit den Worten von Viktor Orbán zu sagen: "Wir denken, der beste Flüchtling ist derjenige, der erst gar nicht zu uns kommt. Die Obergrenze liegt bei null". (1)
Der vorliegende Bericht zeichnet im ersten Teil zunächst die Entwicklungen von Beginn des Jahres 2015 bis zum Frühjahr 2016 nach. Im zweiten Teil wird detailliert auf die beiden Gesetzespakete eingegangen, die im Sommer 2015 verabschiedet wurden und das individuelle Asylrecht in Ungarn faktisch abgeschafft haben. Der dritte Teil geht auf die nach wie vor bestehende Inhaftierungspraxis von Asylsuchenden ein. Der vierte Teil beschreibt den staatlichen Umgang mit Dublin-Rückkehrern sowie zurückgeschobenen Personen mit Schutzstatus und die Bedingungen, mit denen sie in Ungarn konfrontiert sind.
Laut ungarischer Polizei gab es im Jahr 2015 genau
391.384 irreguläre Grenzübertritte nach Ungarn,(2) bei nach Eurostat 174.435 Asylerstanträgen, von denen
wiederum 37 % von syrischen und 26 % von afghanischen Schutzsuchenden gestellt wurden.(3) Dem standen – noch vor der Schließung der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung des Landes in Debrecen – laut EASO
gerade einmal 1.928 Plätze in offenen Aufnahmeeinrichtungen und 456 Plätze in der Asylhaft gegenüber.(4) Den Daten der ungarischen Migrationsbehörde zufolge wurde vom 1. Januar 2015 bis zum 30. November 2015 insgesamt 450 Personen ein internationaler Schutzstatus zugebilligt, davon erhielten 318 einen subsidiären Schutz und 132 eine Flüchtlingsanerkennung. Für den Stichtag 30. November 2015 gab die ungarische Migrationsbehörde insgesamt 1.763 anerkannte Flüchtlinge und 1.253 subsidiär Schutzberechtigte als Inhaber gültiger ungarischer Papiere an.(5) Wie viele davon sich tatsächlich noch in Ungarn aufhalten, ist jedoch unklar. Laut dem Menschenrechtsbeauftragten des Europarats, Nils Muižniek, wurden zwischen dem 15. September (als das zweite Gesetzespaket in Kraft trat) und dem 27. November 2015 durch die ungarische Asylbehörde 372 Anträge als unzulässig ablehnt (davon 311 auf Basis des "sicherer Drittstaat"-Konzepts), 23 Anträge wurden negativ entschieden und lediglich vier Personen erhielten einen subsidiären Schutzstatus zugesprochen, niemand bekam eine Flüchtlingsanerkennung.(6) Im Jahr 2015 wurden unter der Dublin-Verordnung insgesamt 42.923 Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet, wobei lediglich 1.402 Personen tatsächlich überstellt wurden, davon gerade einmal 192 aus Deutschland. Seit Beginn des Jahres 2016 lässt sich beobachten, dass einhergehend mit der Schließung der "formalisierten Balkanroute" wieder vermehrt Personen an der ungarischen Grenze aufgegriffen werden: Im Januar gab es 553, im Februar 2.398, im März 3.412 und vom 1. bis zum 20. April 2.543 Aufgriffe. Damit einher geht auch eine Überbelegung der drei offenen Aufnahmeeinrichtungen in Ungarn. Mitte April 2016 waren in Vámosszabadi 465 Personen untergebracht (offizielle Kapazität: 255), in Bicske 868 Personen (offizielle Kapazität: 464) und in Balassagyarmat 108 Personen (offizielle Kapazität: 111).
1 Viktor Orbán in einem Radiointerview im Januar 2016.
2 Ungarische Polizei (2016). Napi tájékoztató. Online :: police.hu.
3 Eurostat (2016, S. 4). Asyl in den EU-Mitgliedstaaten. Rekordzahl von über 1,2 Millionen registriertenerstmaligen Asylbewerbern im Jahr 2015. Syrer, Afghanen und Iraker an erster Stelle. Online :: ec.europa.eu/eurostat.
4 EASO (2015). Description of the Hungarian asylum system, S. 7 bzw. S. 11. Online :: refworld.org.
5 Ungarische Migrationsbehörde (November 2015). Kiadványfüzet. Online :: bmbah.hu.
6 Council of Europe Commissioner for Human Rights (2015, S. 4). Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights. Online :: statewatch.org.
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