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Quellenangabe:
Solidarität mit den kriminalisierten Migrant*innen und Aktivist*innen in Europa (vom 20.03.2018),
URL: http://no-racism.net/article/5325/, besucht am 28.03.2024

[20. Mar 2018]

Solidarität mit den kriminalisierten Migrant*innen und Aktivist*innen in Europa

In Ungarn fand am 14. März 2018 eine weitere gerichtliche Anhörung von Ahmad H. statt. Zur gleichen Zeit begannen in Stansted, Großbritannien die Verfahren gegen die Stansted Defendants, jene Aktivist*innen, die sich an ein Flugzeug gekettet hatten, um einen Abschiebeflug zu verhindern. In Chios, Griechenland findet am 20. April das nächste Verfahren gegen fünf der Angeklagten der Moria 35 statt.

So verschieden all diese Situationen und Fälle sind, haben sie doch eines gemeinsam: sie sind ein Ausdruck dessen, wie die EU und europäische Staaten mit Widerstand gegen das Grenzregime vorgehen: mit exorbitant hohen Strafen und pauschaler Kriminalisierung. Vielen von ihnen drohen jahrelange Haftstrafen und einige sind unter Terrorismusverdacht angeklagt, Beweise werden gefälscht oder sich widersprechende Zeug*innen nicht angehört, es gibt monatelange Festnahmen ohne Anklage und in Moria wird das Gerichtsverfahren wortwörtlich auf einer anderen Insel geführt. All dies hat nicht nur erschreckende Auswirkungen darauf, was wir unter Rechtsstaatlichkeit in der EU verstehen, sondern auch darauf wie drastisch sich das Verständnis von Grenzen und der Festung Europa seit dem langen Sommer der Migration 2015 wieder verfestigt hat.

Wenn heute Menschen, die Widerstand gegen eine Abschiebung leisten als Terrorist*innen gesehen werden, wenn Menschen, die ihre Stimme mit einem Mikrofon erheben, um eine chaotische Situation zu ordnen und Verletzungen zu verhindern als Schwerverbrecher behandelt werden, wenn Menschen wahllos eingesperrt werden, weil sie die angeblichen Anführer*innen eines Protestes gegen die unmenschlichen Bedingungen im Gefängnislager Moria sind, dann geht uns das alle was an.
#notafairtrial #freetheröszke11 #freetheMoria25 #freetheStanstedDefendants

Anbei folgt eine Übersetzung des Statements des Solidaritätsnetzwerks „Free the Röszke 11“ vom Jänner 2018 und anbei (siehe linke Spalte) die Links zu weiteren Informationen über die Moria 35, Röszke 11 und Stansted Defendants.


Freiheit für Ahmed H.


„Am 30. Oktober und 2. November 2017 ging das Verfahren gegen Ahmed H. in die nächste der absurd und endlos erscheinenden Runden. Ahmeds Fall wurde jetzt wieder zurück auf die erste Instanz verwiesen aufgrund der fehlenden Berücksichtigung von Widersprüchen in den Beweisen. Das Gericht fuhr mit dem Prozess fort, ging die gleichen Aussagen von Cops wieder und wieder durch, ohne neue Augenzeugen oder Beweise einzubeziehen. Das einzig neue im Gerichtssaal war der Richter. Dieses Mal spielte der Richter nicht von Beginn an die Rolle des Anklägers oder sah Ahmeds von Beginn an als schuldig an. Zur Abwechslung fragte er Ahmed, ließ ihn auch antworten und hörte seinen Aussagen zu. Sehen wir also jetzt einen fairen Prozess so wie manche Reporter*innen und Beobachter*innen sagen? Funktioniert Ungarns Justizsystem schlussendlich doch und es wird ein gerechtes Urteil geben?
Fakt ist, dass Ahmed in Isolationshaft sitzt, von seiner Familie sehr mehr als zwei Jahren getrennt ist und vom Staat aufgegriffen wurde, während er in einer Zugstation geschlafen hat um ihrer rassistischen Propaganda genüge zu tun (man stelle sich einen „Terroristen“ vor, der zurück in das Land geht, das er drei Tage vorher „attackiert“ hat und in einer Zugstation schläft). Ahmed wurde zu einer Zeit festgenommen, als der ungarische Staat selbst Menschen von Kroatien nach Westeuropa durch sein Territorium brachte. Sie transportierten eben jene Menschen, die von anti-terrorismus Truppen zuvor brutal niedergeschlagen und in Röszke nach Serbien zurückgeschoben wurden. Was und wann etwas ein Verbrechen ist, ist immer eine Frage, was der Staat als solches definiert.

Fakt ist, dass es in Ungarn und ganz Europa umzäunte Gefängnisse gibt, in denen tausende Menschen für eine unbekannte Zeit festgehalten und misshandelt werden, dass jede einzelne Nacht „border hunters“ ihr Unwesen treiben und Menschen ohne Dokumente verfolgen und unmenschlich behandeln. Wurde all dies in den Anhörungen vor Gericht erwähnt? Für uns ist die Frage, ob der neue Richter weniger rassistisch als der vorhergehende ist unwichtig, da dieser Prozess nie hätte stattfinden sollen. Das Verfahren gegen Ahmed H ist, war immer und wird auch weiterhin ein politisch motivierter Schauprozess bleiben.

Die Fidesz Regierung benutzt Ahmed als Sündenbock um Migrant*innen zu kriminalisieren und um das Bild eines gefährlichen Migranten/Terroristen zu zeichnen. Dafür wurde eigens etwas erfunden, das sich „Die Schlacht von Röszke“ nenne (mit eigener Wikipedia Seite) und das Bild eines epischen Kampfes der ungarischen Polizei zeichnet, die das Land heldenhaft gegen die „Angreifer“ verteidigt. Damit kann Ungarn sich als Verteidiger Europas und seiner „christlichen Werte“ positionieren.

Europa befürwortet die Rolle, die Ungarn mit so viel Stolz erfüllt. Die „zivilisierteren“ Länder der EU profitieren von der andauernden Gewalt, die Ungarn auf Migrant*innen an den Grenzen ausübt. Europa kann mit dem Finger auf jemanden zeigen, während EU-Frontex Missionen an den exakt gleichen Grenzen stattfinden. So wird die Militarisierung der Grenzen zunehmend zum Normalzustand. Zentral dafür sind die Interessen einer Industrie (eines globalen Netzwerks an privaten Unternehmen und staatlichen Akteuren), die davon profitieren Waffen zu produzieren und zu verkaufen und ebenso Gegenstände für die Grenzkontrolle, für Gefängnisse, für Lager und ähnliches herzustellen. All dies wird vergessen, wenn wir über „Fairness“ in diesem und zahlreichen anderen Gerichtsverfahren sprechen.

In den jetzt stattfindenden Anhörungen werden wir Zeug*innen davon, wie Geschichte geschrieben, indem die kollektiven Erinnerungen von vorhergegangenen Kämpfen zum Schweigen gebracht werden. Diese Erinnerungen für uns und für andere am Leben zu erhalten muss Teil unseres alltäglichen Widerstandes sein. Ein politisches Schautribunal kann niemals ein faires Verfahren sein. Wir akzeptieren keine gespielte Fairness eines neuen Verfahrens mit einem „netteren“ Richter; wir erinnern uns an die ständig stattfindenden Verbrechen des Staates, an die erzeugte „Terrorismus-Migrations-Verbindung“ und die Repressionen gegen solidarische Aktionen.
Deshalb, anstatt ein faires Verfahren für Ahmed zu fordern, fordern wir seine sofortige Entlassung! Migration und Protest sind kein Verbrechen!

Die nächsten gerichtlichen Anhörungen finden am 14. Und 19. März in Szeged statt. Es wird eine erstgerichtliche Entscheidung erwartet.

Nehmt teil und zeigt Solidarität mit Ahmed! Sofortige Freiheit für Ahmed H.!“


Update zum Prozess gegen Ahmed H.


Am 14. März 2018 wurde in Szeged das Urteil gegen Ahmed H. aus dem voran gegangenen Prozess bestätigt. Der feine Unterschied: Statt zu zehn Jahren Haft wurde er nun zu sieben Jahren verurteilt. Mehr dazu in einem :: Bericht vom Grundrechtekommittee.