Quellenangabe:
Es ist Zeit, sich zu entscheiden (vom 09.07.2018),
URL: http://no-racism.net/article/5387/,
besucht am 31.10.2024
[09. Jul 2018]
Deutschland - Mit dem Ende des Prozesses gegen den National- sozialistischen Untergrund (NSU) ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen.
Das Urteil im NSU-Prozess in München wird nun gesprochen, und auch wir haben unsere Arbeit getan. Die meisten Untersuchungsausschüsse haben ihre Berichte verfasst, die Nebenklageanwält_innen haben ihre Bücher geschrieben. Fernseh- und Radiointerviews, Theaterstücke, Filmprojekte, Recherchen, Bücher, Broschüren, Veranstaltungen und Demonstrationen wurden realisiert, schließlich sogar ein Tribunal abgehalten, das erstmals mehr als 90 Verantwortliche des NSU-Komplexes explizit beim Namen nannte und anklagte. Und ein Großaufgebot solidarischer Menschen fordert am Tag der Urteilsverkündung vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München: »Kein Schlussstrich!«
Aber wie weitermachen? Wurde nicht bereits alles gesagt - in aller erster Linie von den Betroffenen des NSU-Komplexes selbst, von den Verletzten der Bomben und den Angehörigen der Ermordeten? In den vergangenen fünf Jahren erreichte ihr Wissen Hunderttausende Menschen, die sich die Geschichten der Gastarbeiterkinder angehört haben. Sie hörten ein anderes Narrativ zur Geschichte dieses Landes, darüber wie die Geschädigten des NSU-Terrors und ihre Eltern sich in den letzten Jahrzehnten Existenzen aufgebaut haben und Stadtteile wie Köln-Mühlheim, Hamburg-Ottensen, Dortmund-Nordstadt, München-Westend oder Kassel-Nordstadt über Jahrzehnte instand gesetzt und mit Leben gefüllt haben; mit einem Leben, das dieses Land pluralisiert, liberalisiert und demokratisiert hat, indem es für das Recht auf gute Bildung, angemessenes Wohnen, gerecht entlohnte Arbeit und politische Teilhabe gestritten hat. Der NSU und seine geistigen Alliierten haben ihre Opfer an diesen Orten ausgesucht und damit die postmigrantische Realität in ihrer sichtbarsten Verfasstheit angegriffen. Wir wissen das alles, und niemand wird in Zukunft behaupten können, es nicht gewusst zu haben.
Der Angriff des NSU auf die postmigrantische, plurale Verfasstheit wurde vor 2011 ein ganzes Jahrzehnt lang von Behörden und Medien fortgeführt, in seiner strukturellen Dimension sogar verschärft. Eine Blaupause dafür, was die hiesigen Migrationsdiskurse konkret bedeuten. Sie schaffen mit Gewalt jene Parallelgesellschaften, die es ohne sie nicht gäbe. Die Message an die Opfer der Keupstraße und die Familienmitglieder, Nachbar_innen und Freund_innen der neun migrantischen Ermordeten war einfach: »Haltet den Mund, redet nicht darüber, was ihr wisst, was ihr zu wissen glaubt, es interessiert niemanden. Ihr seid isoliert und schutzlos. Ihr sprecht von Rassismus? Wir sprechen von gescheiteter Integration.«
Und dennoch, die Lektion in Staatsbürgerabschaffungskunde wurde nicht angenommen. Im Gegenteil, das Wissen der Betroffenen um die Wahrheit im NSU-Komplex hat sich Gehör verschafft: dass es Rassisten und Rassistinnen sind, die eine Mordserie gegen vermeintliche Nichtdeutsche begehen, dass es ein ausgedehntes Neonazinetzwerk gibt, das die Morde geplant und ermöglicht hat, dass der Staat mit seinen Geheimdienstagenturen knietief in der Alimentierung, dem Assistieren und der Abschirmung dieser mörderischen Netzwerke steckt. Dass also Rassismus das Motiv und die Destabilisierung der gelungenen, jahrzehntelangen Einwanderung das Ziel der Akteure im NSU-Komplex sind.
Diese Entschlossenheit hat eine große Solidaritätsbewegung ausgelöst, die sich das Wissen der Betroffenen angeeignet und es verstärkt hat. Zwar noch nicht 2006, als Tausende türkischstämmige Menschen nach den beiden aufeinanderfolgenden Morden in Dortmund und Kassel auf Demonstrationen lautstark vom Staat eine Beendigung der Mordserie verlangten. Sie machten klar, dass sie die Logik dieser terroristischen Gewalt begriffen haben und nicht schweigen, sondern sich wehren werden. Nach dieser öffentlichen Intervention wurde die rassistische Mordserie beendet. Aber die solidarische Zivilgesellschaft wurde 2006 noch nicht erreicht.
Das änderte sich erst nach der Selbstenttarnung des NSU Ende 2011. Nun wurden Begegnungen organisiert, Kontakte geknüpft, Vertrauen aufgebaut, Freundschaften geschlossen, Initiativen gegründet, Aktionen geplant und vor allem - zugehört. Immer mehr Geschichten über die ineinandergreifenden rassistischen Angriffe von Nazis, Behörden und Medien auf die migrantischen Communities wurden von diesen in die Öffentlichkeit getragen. Sie schufen ein gewaltiges Archiv migrantischen Wissens über den strukturellen Rassismus in diesem Land. Aber auch die offenen Fragen, welche die Betroffenen von Anfang an stellten und auf deren Beantwortung sie bis heute bestehen, können nicht mehr ignoriert werden. Denn in den Antworten auf diese Fragen liegt die Erfüllung des Versprechens nach lückenloser Aufklärung: »Warum wurde gerade mein Mann ermordet? Warum in dieser Straße? Wer hat das vor Ort ausgespäht? Wieso wurde nicht ordentlich ermittelt? Was wusste der Staat? Warum interessiert sich niemand für das Schicksal der Opfer und ihrer Hinterbliebenen?«
Die Erfüllung des Versprechens der Bundesregierung nach umfassender Aufklärung wird es nicht geben, es wurde gebrochen. Die Konsequenz dieses gebrochenen Versprechens bedeutet, dass die organisierte Neonaziszene gestärkt aus dem NSU-Verfahren in München hervorgehen wird, weil die Bundesanwaltschaft mit Duldung des Staatschutzsenats am OLG München erfolgreich und gegen die entschlossene Intervention der Nebenklage die Netzwerke des NSU aus dem Verfahren heraushalten konnte. Damit wird die Unterstützung durch die Strukturen von Blood & Honor und die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz folgenlos bleiben. Das ist ein starkes Signal an organisierte Nazis: dass ihre Zusammenhänge und Strukturen auch weiterhin weder verfolgt noch belangt werden. Alle wissen das.
Es reicht! Warum sollen wir nochmal die Verbrechen aufzählen und das Unrecht ausbuchstabieren, das den Menschen angetan wurde? Gibt es noch jemanden, der nicht Bescheid weiß und den es zu empören gilt? Müssen wir nochmal die Namen nennen? Amadeu Antonio (28), Yeliz Arslan (10), Ayşe Yılmaz (14), Bahide Arslan (51), Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9), Saime Genç (4), Sylvio Amoussou (27), Maiamba Bunga (27), Nsuzana Bunga (7), Françoise Makudila (32), Christine Makudila (17), Miya Makudila (14), Christelle Makudila (8), Legrand Makudila (5), Jean-Daniel Makudila (3), Rabia El Omari (17), Enver Şimşek (38), Abdurrahim Özüdoğru (49), Süleyman Taşköprü (31), Habil Kılıç (38), Mehmet Turgut (25), İsmail Yaşar (50), Theodoros Boulgarides (41), Mehmet Kubaşik (39), Halit Yozgat (21); Oury Jalloh (36), Burak Bektaş (21). Diese und viele weitere Namen der von Rassist_innen Ermordeten und Verletzten sind bekannt. Die Zeit der Empörung ist vorbei, die Karten liegen auf dem Tisch. Zwar ist längst nicht alles recherchiert und berichtet, aber es wurde mehr als genug aufgedeckt, um laut zu schreien. Es braucht keine Empörung mehr und auch keine Betroffenheit.
Es ist Zeit, sich zu entscheiden. Das kann heißen, sich aktiv dafür zu entscheiden, die Wahrheiten im NSU-Komplex weiterhin zu verschleiern und zu vernebeln. Die Rassist_innen machen vor, wie es geht, und viele in der Mitte der Gesellschaft geben ihnen nach. Denn sie wissen oder spüren, dass Rassismus eine gute Sache für die ist, die davon profitieren. Großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft scheint es angemessen, wenn migrantische Lebenswelten verunsichert und destabilisiert werden, wenn Migranten und Migrantinnen als Problem bezeichnet und deren Rechte damit systematisch zur Disposition gestellt werden. Es scheint richtig, wenn Leute, die für ihre demokratischen Rechte und für gesellschaftliche Teilhabe kämpfen, gebremst und delegitimiert werden. Das Ertrinken im Mittelmeer wie auch die Schüsse in dem Internetcafé in Kassel sind produktiv für die, die ihren Reichtum über die Armut der »Anderen« organisieren, ihre hegemoniale Teilhabe über die Entrechtung der »Anderen« absichern und ihre Staatsbürgerschaft über den Tod der »Anderen« konstituieren.
Es ist Zeit sich zu entscheiden, und viele - von AfD über die bürgerliche Mitte bis in die Linke hinein - entscheiden sich in diesen Tagen auch gegen die demokratische Verfasstheit von Gesellschaft und für eine rassifizierte Hierarchisierung, umfassende Entrechtung und ökonomische Ausbeutung von Migrant_innen. Sie erklären Migration zum zentralen Problem, dass es als solches zu behandeln gilt. Für Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Sexismus, Kriminalität, Antisemitismus und den Verlust von sozialer Sicherheit wird der rassistisch stigmatisierte Sündenbock durchs nationale Dorf gejagt.
Ein Angriff auf demokratische Grundrechte
Aber wir wissen - nicht zuletzt aus historischer Erfahrung - dass diese Technik der Externalisierung gesellschaftlicher Missstände die Bedingung ihrer Herstellung ist. Der Weg des Angriffs auf demokratische Gefüge erfolgt stets über die Figur ihrer Verteidigung gegen den stigmatisierten Anderen. Der NSU-Komplex ist in seiner Gesamtheit als Angriff auf demokratische Grundrechte zu werten, an dem sich neben Nazis, die sich immerhin dazu bekennen, viele Medien, die Polizei, die Geheimdienste und zahlreiche Politiker_innen beteiligt haben und dies mit zunehmender Heftigkeit bis heute tun. Die zunehmende Diffamierung solidarischer Initiativen als linksextremistisch, die fortgesetzte Leugnung, Verharmlosung und Nichtahndung von Rechtsterrorismus und rassistischer Gewalt und die massive Rückkehr aggressiven Nationalismus sind brandgefährliche aktuelle Phänomene - indes sind es alte Bekannte.
Wie also weitermachen nach 25 Jahren NSU-Komplex, der im rassistischen Taumel nach dem Mauerfall geboren und sich in der zunehmend verrohenden kapitalistischen und sozialen Krise ausbreiten und normalisieren konnte? Es ist Zeit, eine gesamtgesellschaftliche Entscheidung zu treffen, die rassistische Lücke in dieser Gesellschaft zu schließen und Migration, Einwanderung, migrantische Kämpfe um Rechte und postmigrantische Lebensrealitäten zu bejahen, zu begrüßen, sich darin einzurichten, sie zu genießen, sich selber als Teil davon zu verstehen und sie zu verteidigen und damit der darin angelegten Demokratisierung und Inklusion aller Menschen zu ihrer weiteren Durchsetzung zu verhelfen. Es geht nicht um Anteilnahme am schlimmen Schicksal der Betroffenen, sondern darum, das gemeinsame Anliegen zu erkennen, dem schmutzigen Spiel des NSU-Komplexes in einer zunehmend exkludierenden Gesellschaft etwas Solidarisches, Gerechtes und Menschliches entgegenzusetzen.
Dieser Artikel von Massimo Perinelli erschien zuerst in ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 639, online seit 19. Jun 2018 auf :: akweb.de.
Massimo Perinelli hat 2013 die Kölner Initiative Keupstraße ist überall mitgegründet und seit 2015 das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« mitorganisiert, aus dem eine Anklageschrift hervorgegangen ist (nsu-tribunal.de/anklage).