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Quellenangabe:
Aufruf – A better Future for all! (vom 15.07.2018),
URL: http://no-racism.net/article/5396/, besucht am 24.11.2024

[15. Jul 2018]

Aufruf – A better Future for all!

Aufruf der 'Plattform Radikale Linke' zum Protest gegen den EU-Gipfel der Abschottung und sozialen Kontrolle. Donnerstag, 20. September 2018, Salzburg. Gegengipfel 21. - 23.09.2018 in Wien.

Aufruf :: A better Future for all! der Plattform Radikale Linke



Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft die fällt. Während sie fällt sagt sie, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief’s noch ganz gut. Bis hierher lief’s noch ganz gut. Bis hierher… lief’s noch ganz gut. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung.“ – La Haine (Film)


Am 20. September wollen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Salzburg zu einem informellen Gipfel zu den Themen „Innere Sicherheit“ und „Bekämpfung der illegalen Migration“ zusammenfinden. Im Zuge der Ratspräsidentschaft, die Österreich ab der zweiten Jahreshälfte 2018 innehat, will das autoritär-konservative bis rechtsextreme Regierungsprojekt aus ÖVP und FPÖ seine Politik der Abschottung nach außen und der sozialen Kontrolle und Disziplinierung nach innen auf die europäische Ebene tragen. Für uns als emanzipatorische, gesellschaftliche Linke Anlass genug, die Proteste gegen die Regierung ebenfalls auf eine neue Stufe zu stellen.

Spätestens seit 2015 ist die österreichische Regierung insbesondere bei der aggressiven Abwehr von Zuwanderung ein treibender Faktor in der EU und war z.B. für die „Schließung der Balkanroute“ maßgeblich verantwortlich. Die Konsequenzen dieser Politik sind über Europa hinaus spürbar: Die Abschottung der europäischen Grenzen beruht auf der Zusammenarbeit mit autoritären Regimen wie der Türkei oder Milizen in Libyen. Sie produziert massives Elend und Gewalt gegen Menschen auf der Flucht. Wenn die Staats- und Regierungschefs der EU in Salzburg über die Zukunft der Europäischen Union beraten und damit die immer autoritärere Durchsetzung des Wettbewerbs durch Ausschluss und Disziplinierung meinen, wollen wir als emanzipatorische Linke sichtbar sein und mitmischen. Wir wollen weder eine tödliche Festung Europa oder weitere Abschiebungen, noch ihre Sicherheitspolitik im Inneren. Letztere bedeutet nichts anderes, als die umfassende soziale Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung aller ökonomisch überflüssig gemachten und an den Rand gedrängten Menschen. Was wir wollen, ist das gute Leben für alle, fern von Konkurrenz und nationalistischer Spaltung. Wir wollen keine falsche Gegenüberstellung von „liberalen“ und autoritär-nationalistischen Perspektiven. Diese beiden ergänzen sich perfekt innerhalb des kapitalistischen Ausnahmezustands. Und wer sich für eines der beiden entscheidet, um das Schlimmere zu verhindern, der wird beides bekommen. Wir wollen die Zukunft neu erfinden, nicht das schlechte Bestehende und dessen reaktionäre Verrohung ständig als Hindernis unserer Visionen begreifen. Es ist genug für alle da und niemand soll mehr arbeiten müssen – wir wollen in Salzburg für eine solidarische Gesellschaft auf die Straße gehen. Eine Gesellschaft, die nicht am Verhandlungstisch der Herrschenden entworfen wird, sondern nur gegen sie durchgesetzt werden kann. Wir laden euch ein, nach Salzburg zu kommen und uns ein Stück auf diesem Weg zu begleiten. Gemeinsam wollen wir ein starkes Zeichen setzen – gegen die extreme Rechte, wie auch die autoritäre Verwaltung des Immergleichen. Wir wollen die gesellschaftlichen Widersprüche aufheben – in einer revolutionären Perspektive.


Die Krise der Europäischen Union und die autoritäre Durchsetzung des Wettbewerbs

Innerhalb der Europäischen Union werden die Widersprüche ihrer Integrationsweise immer offensichtlicher. Sie führen zu Brüchen und Verwerfungen, der hegemoniale Konsens des neoliberalen Staatenprojekts scheint schon seit längerem ins Wanken geraten zu sein. Spätestens ab der sogenannten „Griechenlandkrise“ scheint es nicht mehr möglich, das (Un-)Gleichgewichtsgefüge in jener Form aufrecht zu erhalten, welche die herrschende Ordnung innerhalb der EU über Jahrzehnte hinweg zementierte. Der Exportüberschuss ökonomisch stärkerer Staaten führte zu einer massiven Verschuldung der südlichen Peripherie, die durch die Politik der EU an den Rand konkurriert wurde. Die Bearbeitung der Staats- und Schuldkrise hinterließ tiefe Risse im europäischen Staatengefüge. Dazu kommen die multiplen Krisenerscheinungen, die den globalen Kapitalismus durchziehen und sich auch innerhalb der EU durchschlagen – von der Krise der Ökonomie über die Krise des Klimas bis zur Krise der Reproduktion. Ein diffuses Gefühl der Unsicherheit macht sich breit, gepaart mit der Gewissheit, dass hier etwas im Übergang begriffen ist, dass die alte Welt im Sterben liegt, die neue aber noch nicht geboren ist. Wie die vielfältigen Krisenerscheinungen und Widersprüche bearbeitet werden sollen, ist umstritten und bildet den aktuellen Konflikt des in mehrere Lager gespaltenen europäischen Nationalstaaten-Ensembles. Die Krise des neoliberalen Akkumulationsregimes und die Krise der neoliberalen Integrationsweise führten auch zu einer Krise der Herrschaft, zu einer Krise der Politik und der Repräsentation. Ausnahmestaatliche Regierungstechnologien gewinnen in dieser Krise immer mehr an Einfluss. Obwohl einzelne Staaten unterschiedlich darauf reagierten, haben sie nicht nur einen gemeinsamen Ursprung, sondern verfolgen auch ein gemeinsames Ziel: Die autoritäre Durchsetzung des sich brutalisierenden kapitalistischen Wettbewerbs. Die Bearbeitung der „Griechenland-Krise“, die Durchsetzung von „Reformen“ wie die des Arbeitsgesetzes in Frankreich, die Reaktionen auf die Bewegung von Geflüchteten und die zunehmende nationalstaatliche Abschottung: überall dort prägt ein autoritärer Stil die Politik der Staaten. Ein Stil, der auch bereit ist, geltende Rechte zu verletzen, um so die eigene souveräne Herrschaft abzusichern.

Kapitalistische Vergesellschaftung bringt Formen bürgerlicher Demokratie hervor, die es erst ermöglichen, zwischen den widerstreitenden Interessen (auch zwischen jenen der unterschiedlichen Kapitalfraktionen) zu vermitteln und „Kompromisse“ herzustellen. Dieses „Gleichgewicht“ erzeugt die Stabilität, die für die Verwertung des Kapitals notwendig ist. Schon Marx beobachtete angesichts des Kampfes um Demokratie in Frankreich, dass die bürgerliche Klasse im Kontext einer politischen Krise bereit ist, die bürgerliche Demokratie wieder einzuschränken oder gar generell aufzugeben. Ziel ist die Erhaltung ihrer gesellschaftlichen Macht. Je mehr die gesellschaftliche Hegemonie ins Wanken gerät, desto mehr rüstet sie ihre Polizei auf. Die Politik zieht sich zurück auf die Exekution von „Sachzwängen“, ihre Handlungsmacht kann sie nur mehr demonstrieren, indem ihre Politik sich auf tagtägliche, umfassende Polizeioperationen reduziert. In den Institutionen scheint die autoritäre Wende längst vollzogen. Der Ausbau der Polizei, Datenerfassung und Überwachung, das autoritäre Grenzregime, die Verhängung des Not- und Ausnahmezustands, die drastische Einschränkung von bürgerlichen Freiheitsrechten, der Aufstieg von autoritär-rechtsextremen und rassistischen Parteien – das alles steht nicht unvermittelt nebeneinander. Es verweist auf einem gemeinsamen Problemhorizont: Die gegenwärtige Krise des globalen Kapitalismus und seiner Institutionen.


Der Krieg gegen die Überflüssigen nach außen…

Es ist schon tückisch: Während durch die sich global expandierte kapitalistische Produktions- und Lebensweise einerseits fast alle Menschen und Dinge dem Diktat der Verwertung und der Lohnarbeit unterworfen werden, schaffen die systemischen Dynamiken des Kapitalismus gerade dadurch massenhaftes Elend. Denn es werden immer mehr Menschen als Überflüssige aus diesem System geworfen und auch ihnen bleibt durch die Institution des Privateigentums kein anderes Auskommen. Zudem schafft das negative Potential kapitalistischer Produktivkraftentwicklung, der unaufhörliche und maßlose Drang nach Erweiterung der Produktion und mehr Profit, auch einiges an Gründen, warum Menschen in den abgehängten Regionen des kapitalistischen Weltmarktes diesen Zuständen entfliehen wollen. Diese Gründe sind massenhafte Arbeitslosigkeit, geopolitische Konflikte und Kriege, die Zerstörung von natürlichen Ressourcen sowie der subventionierte Export der europäischen Überproduktion in der industrialisierten Landwirtschaft. Islamistische Banden und Rackets, die im „Heiligen Krieg“ ihre Erlösung finden und mit ihren Ressentiments die Barbarei für alle geltend machen wollen, sind oft ein Produkt dieser Entwicklung. Sie wollen die Welt in die Hölle verwandeln, als welche sie sie schon immer sahen. Menschen, die dadurch gezwungen werden, irgendwo anders eine Lebensperspektive zu finden, und damit sehr oft Europa meinen, wird der Riegel vorgeschoben. Zwar benötigt der kapitalistische Kreislauf der Akkumulation immer auch Arbeitskräfte, die im Produktionsprozess genutzt werden können, dieses flexible Bedürfnis soll aber je nach den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals „gemanagt“ werden. Migrationsmanagement ist ein Euphemismus, der die brutale Abwehr oder den partiellen Zugang zu Arbeitsmärkten meint. Dahinter stehen tausende Tote im Mittelmeer. Die gewisse Durchlässigkeit der Festung Europa schafft zudem ein riesiges Heer an illegalisierten Arbeitskräften, die in der europäischen Schattenwirtschaft als rechtlose Arbeitssklaven im Einsatz sind – von den Gemüse- und Obstplantagen in Italien, Griechenland oder Spanien bis zu Pflegekräften in Österreich oder Deutschland.

Für die als fremd bestimmten, für die Ausgeschlossenen, war der Ausnahmezustand immer schon die Regel. Sie werden in eine Sphäre der Rechtlosigkeit und Illegalität gedrängt, ertrinken im Mittelmeer oder werden von Grenzpolizisten geschlagen, verhaftet und in Lager gesperrt. Für sie ist der faktische Ausnahmezustand Alltag. In Europa findet eine Menschenjagd statt, die jährlich tausende Todesopfer fordert und immer weniger Menschen scheint dies zu stören. Im Gegenteil: Sie fordern eine noch härtere Gangart. Die zwischenmenschliche Kälte als Resultat der allumfassenden Konkurrenz, die mit völliger Gleichgültigkeit auf das blickt, was anderen Menschen widerfährt, schafft die Voraussetzung für das alltägliche Grauen, weil alle zusehen und keiner sich regt. In Form einer militarisierten Abwehr von Flüchtenden werden die Mauern und Grenzzäune aufgezogen und mit rasierklingenbestücktem Stacheldraht bewehrt. Sie werden mit Wärmebildkameras und Flugzeugen gejagt. Sie werden mit meterhohen Zäunen, Pfefferspraykanonen oder Gummigeschossen daran gehindert, Landstriche zu überqueren. Diese als Grenzen bezeichnete Landstriche machen die Brutalität moderner Staatlichkeit sichtbar.

Doch nicht nur in Internetforen, sondern immer stärker auch im etablierten Politikbetrieb, paart sich ein Sadismus zu jener zwischenmenschlichen Kälte, der das Leid anderer zum Ziel hat. Die Rechte konnte die Hegemoniekrise innerhalb der Europäischen Union für ihr menschenverachtendes Projekt nutzen. Ihr Versprechen ist der Nationalismus und Rassismus, also Solidarität durch Ausschluss – bei Unterordnung unter das nationale Kollektiv, das im kollektiven Narzissmus noch als psychischer Lohn daherkommt. Wo nur noch der Volkskörper zählt, ist der Einzelne nur Funktion für dessen Erhalt. Der Autoritarismus von oben wird jedoch befürwortet und beklatscht von den Untertanen. Sie sehnen sich nach der starken Hand, die verspricht, für sie da zu sein und an deren Macht sie teilhaben wollen. Die Einsicht der eigenen Überflüssigkeit und Ersetzbarkeit treibt sie in die Abgründe kollektiver Identitätsproduktion, die sich durch den Ausschluss der „Anderen“ gesellschaftliche Teilhabe und Privilegien verspricht. Entmündigt und gleichzeitig umsorgt rottet sich die Volksgemeinschaft auf der Suche nach den Schuldigen zusammen, die für das andauernde Unheil verantwortlich sein sollen.


… ist die Kehrseite der Disziplinierung der Überflüssigen im Inneren

Die Politik der „Inneren Sicherheit“ soll der Exekutive immer mehr Raum geben, um jene zu drangsalieren, die als nicht verwertbar gelten und aus dem System herausfallen – oder eben jene, die dagegen aufbegehren. Arbeitslose seien selbst schuld an ihrer Lage und ein Problem für die Staatskassen. Und die „Zuwanderung in das Sozialsystem“ müsse ohnehin gestoppt werden. In die Debatte um „Innere Sicherheit“ mischt sich ein rassistischer und chauvinistischer Sicherheitsdiskurs, der soziale Konflikte naturalisiert.

Kriminalität, also alle Praktiken und Verhaltensweisen, die vom Staat kriminalisiert werden, wird zunehmend nicht als soziales Phänomen gesehen, sondern als moralisches. Kriminalität erscheint so als blinder Akt des Bösen von moralisch verkommenen Akteur*innen und wird auf diese Weise individualisiert. Dementsprechend geht es auch nicht um die Bekämpfung von Armut, Benachteiligung und Ausschluss, sondern um sicherheitspolitische Techniken der sozialen Kontrolle und Überwachung, des Strafens und Ausschließens. Dies korrespondiert mit dem neoliberalen Rückbau sozialer Sicherungssysteme, was einerseits zur Verschärfung sozialer Ungleichheit führt und andererseits zu einer Verunsicherung breiter Schichten. Diese als unspezifischen Bedrohung wahrgenommen Entwicklung wird wiederum mit einer sicherheitspolitischen Verwaltung des bestehenden Elends beantwortet. Die verbreiteten Vorurteile gegen vermeintliche „Schmarotzer“ haben nichts mit deren realem Verhalten zu tun. Viel dagegen mit der Angst, selbst sozial abzusteigen. Und diese gesellschaftlich produzierte Angst ist Nährboden für autoritäres Verhalten. Wer Schwächere ausgrenzt, stellt sich selbst auf die Seite der Macht. Das ist ein zentrales Element sozialchauvinistischer Ideologie. Benachteiligte erscheinen in dieser die Gesellschaft durchziehenden Perspektive nicht mehr als Mitmenschen, denen Solidarität und Unterstützung entgegengebracht werden sollte, sondern als potentielle Täter*innen. Neben dieser Individualisierung von Kriminalität, die den Zusammenhang von Armut, Benachteiligung und Kriminalität übersieht, werden soziale Verhältnisse zunehmend kulturalisiert. In der mit der Kulturalisierung einhergehenden Naturalisierung und Verewigung sozialen Verhaltens – dem „wir” oder „die sind halt so” – liegt auch eine kapitalistische Funktion. Soziale Konflikte werden in kulturelle umgedeutet. Die als Kulturen gegenübergestellten und als solche „respektierten” gesellschaftlichen Widersprüche sind damit nicht mehr bekämpfbar, sondern werden als kulturelle Eigenheiten angesehen. Die Andersartigkeit von Menschen ist nach dieser Logik dann nicht mehr eine Folge ihrer sozialer Situation, sondern ihres kulturellen Hintergrunds. Rassismus wurde zum dominierenden Modus der Wahrnehmung der sozialen Welt, zur spontanen Wahrnehmung der Welt als Gegensatz zwischen In- und Ausländer*innen. Diese Ressentiments und Affekte werden durch die extreme Rechte, aber schon lange nicht mehr nur dort, mit einem stabilen diskursiven Rahmen und gesellschaftlicher Legitimität versehen. Rassistische Kategorien ersetzen die sozialen. Diese Wahrnehmung des Sozialen wird zunehmend ein großes Hindernis für eine andere, emanzipatorische Betrachtung der Welt.


Die Zukunft neu erfinden – gegen die organisierte Traurigkeit des Kapitalismus

Mit jeder Generation werden mehr Menschen überzählig und nutzlos für die Welt. Von links bis rechts mangelt es nicht an Lügner*innen, die versprechen, „Vollbeschäftigung“ wieder herstellen zu können. Die Lohnarbeit, zu der die Menschen historisch im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus erst einmal durch Prügel diszipliniert werden mussten, war und ist die Form der Aufrechterhaltung einer bestimmten Ordnung. Die Gewalt, die ihr eingeschrieben ist, ist jene Gewalt, die wir angesichts des kaputten Körpers der Fließbandarbeiterin oder des Burnouts des Angestellten, der unter extremen Druck seines Chefs steht, wahrnehmen können. Sie wird jedoch leicht vergessen oder verdrängt, stiftet sie doch den Sinn der Existenz. Das alles wurde verbunden mit dem Glücksversprechen, durch harte Arbeit irgendwann die eigenen Wünsche erfüllen zu können. Dass dies eine Lüge ist, ist zwar offensichtlich, aber angesichts der scheinbaren Unveränderbarkeit der bestehenden Verhältnisse wehren viele diese Tatsache ab und hassen all jene, denen vermeintlich das Glück oder ein Leben ohne Arbeit gestattet ist. Durch die zunehmende Überflüssigmachung eines immer größeren Teils der Menschheit ist die Lohn- und Arbeitsdisziplin für die Bevölkerungskontrolle nicht mehr ausreichend. Das Sicherheitsdenken und der Kontrollwahn ist der Fluchtpunkt jener Gesellschaft, die den Zwang zu Arbeit als die einzige Form sozialer Teilhabe kennt, jedoch immer mehr Menschen vom „Genuss“ ausgebeutet zu werden ausschließt. Auch der aufgeklärtesten Liberalen ist klar: Nur für eine perfekt kontrollierte Bevölkerung kann erwogen werden, ein Grundeinkommen anzubieten. Doch nicht das ist wesentlich. Vor allem muss die Herrschaft der Ökonomie über die Auslöschung der Lohnarbeit hinaus beibehalten werden. Das geschieht einerseits durch die immer stärkere Verdichtung der Lohnarbeit, die bis ins Unerträgliche gesteigert wird. Die Zunahme von psychischen Erkrankungen spreche Bände darüber, dass die Despotie der Fabrik sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausdehnt. Immer mehr soll in die Verwertbarkeit gezogen werden, überall lässt sich noch etwas „dazuverdienen“. Uber, Deliveroo, Foodora und Konsorten geben das Prinzip vor: Jeder Fahrerin steht es frei, sich selbst auszubeuten so viel sie will, im Wissen, dass sie rund 50 Stunden die Woche fahren muss, wenn sie den Gegenwert eines Mindestlohns verdienen will. Was vor AirBnB ein ungenütztes Zimmer oder ein Gästezimmer war, ist jetzt eine entgangene Einkommensquelle – die Inwertsetzung der „Share Economy“ kennt keine Grenzen. Wenn die Bestimmung eines zunehmenden Teils der Gesellschaft ist, aus der Lohnarbeit ausgeschlossen zu sein, dann nicht, um sich damit zu vergnügen, morgens Pokémon zu jagen und nachmittags zu fischen. Vielmehr soll der Gedanke an ein von Lohnarbeit befreites Leben austrieben werden, steht er doch für die Möglichkeit einer ganz anderen, befreiten Gesellschaft. Einer Gesellschaft ohne Zwang und Konkurrenz, in der genug für alle da ist und alle am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben können. Dieser Gedanke ist für die Herrschaft des Kapitals gefährlich, im Gegensatz zum nicht enden wollenden Ruf nach Vollbeschäftigung, der auf eine unwiederbringliche Vergangenheit fixiert ist. Diese Vergangenheit ist, wenn überhaupt, dann nur über jene gesellschaftlichen Ausschlüsse zu haben, die schon in den 50er und 60er Jahre das „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus ermöglichten. Doch dieser rückwärtsgewandte Blick, der die reaktionären Kräfte jeglicher Couleur beflügelt, scheint den meisten Menschen vorstellbarer zu sein, als ein solidarischer Entwurf der Zukunft. Der Gedanke „des Glücks ohne Macht, des Lohns ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein“ scheint unter den Beherrschten verpönt. Verpönt sind diese Züge aber auch „von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhassten machen.“ (Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung)

Der Gedanke ist deshalb so verhasst, weil sich das System gegenüber den Menschen, die es durch ihre eigene Praxis hervorgebracht haben, verknöchert und versteinert hat. Gewiss sind die gesellschaftlichen Strukturen Resultat menschlichen Handelns. Doch sie sind Praxis in einem anderen Aggregatzustand. Sie haben sich gegenüber den Menschen, die sie hervorgebracht haben, verselbstständigt und geben ihnen vor, wie sie sich zu verhalten haben – bei Strafe des ökonomischen Untergangs. Das ist das große Problem, das auch das Bewusstsein der vergesellschafteten Subjekte bestimmt und beschädigt. Einer emanzipatorischen Linken muss es darum gehen, dieses Bewusstsein zu verändern, aus diesen Strukturen auszubrechen, und damit eine andere Form der gesellschaftlichen Praxis zu entwickeln. Einer Praxis, die die Mittel gesellschaftlicher Produktion für die Befriedigung der vielfältigen menschlichen Bedürfnisse einsetzt, und nicht dem Diktat der Verwertung und des Profits unterwirft. Hier lässt sich auch an gegenwärtige Entwicklungen anknüpfen: In naher Zukunft könnten bis zu 80% der jetzigen Lohnarbeiten durch Maschinen ersetzt werden. Die Automatisierung und Digitalisierung der Produktion bietet somit den Horizont eines politischen Projekts gegen die Lohnarbeit. Und damit die Perspektive auf eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Produktion vom Zwang zum Tausch befreit ist. In der die kapitalistische Messart und ihre menschenverachtende Rechenweise abgeschafft ist.

„Der einzige Gradmesser für den krisenhaften Zustand des Kapitals, ist der Organisationsgrad der Kräfte, die es zerstören wollen“. Lenin? Nein, das Unsichtbare Komitee. Um diese gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen, ist es notwendig sich zu organisieren. Damit ist nicht gemeint, dass alle der gleichen Partei beitreten sollten. Es geht vielmehr darum, eine Form der Organisierung zu finden, die mit den staatlichen Logiken bricht und die das Potential hat, die Welt aus den Angeln zu heben. Lasst uns zur endgültigen Krise des Kapitals werden, zur wirklichen Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt. Es sind Utopien, die die Trostlosigkeit der bestehenden Verhältnisse als solche entblößen, verglichen mit dem, was in der Zukunft möglich ist und mit dem zukünftigen Versprechen einer Welt die ganz anders ist. Was wir versuchen müssen, ist ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen die Arbeit zu etablieren: von antirassistischen Kämpfen gegen das Grenzregime, gegen Ausbeutungsverhältnisse und Entrechtung, über feministische Kämpfe gegen die Ausschlüsse der Lohnarbeit und Kämpfe um die und in der Reproduktions- und Carearbeit bis hin zu Arbeitslosen- und Gewerkschaftsinitiativen. Es muss der Versuch unternommen werden Gegenhegemonie aufzubauen, um die Kräfteverhältnisse zu verschieben. Dazu braucht es auch strategische Interventionspunkte und eine globale Perspektive, denn der Gegner – der komplexe, abstrakte, globale Kapitalismus – kann nur durch eine komplexe, abstrakte und globale Antwort herausgefordert werden. Es geht um nichts weniger als die Zukunft und somit die Veränderung der Gegenwart. Es geht um einen neuen Universalismus und eine emanzipatorische Moderne, die Freiheit und Gleichheit einzulösen vermag. Die überschießenden Potentiale der Digitalisierung und Automatisierung müssen für die Linke ein zentraler Ansatzpunkt sein, eine Gesellschaft ohne Arbeit und damit ein Ende der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise denkbar zu machen. Statt dem Slogan „Vollbeschäftigung“ sollte endlich die Forderung „Niemand soll mehr arbeiten müssen“ stehen.


Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Salzburg treffen, wollen wir als Bündnis der Vielen gemeinsam auf die Straße gehen. Unsere unterschiedlichen Kämpfe haben einen gemeinsamen Nenner: Ein gutes Leben für alle ist nur jenseits des Kapitalismus zu haben!