Quellenangabe:
Erinnerung an die Toten staatlicher Gewalt: Die 20. Todestage im Mai 2020 (vom 24.10.2019),
URL: http://no-racism.net/article/5563/,
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[24. Oct 2019]
Ein Jahr nach dem Tod von Marcus Omofuma, im Mai 2000, starben fünf Menschen im Gewahrsam der österreichischen Behörden. Diese hüllen sich dazu meist in Schweigen. Umso wichtiger ist es, die Toten in Erinnerung zu halten.
In modernen Rechtsstaaten hat die Exekutive das Monopol zur Ausübung von manifester, von der Rechtsordnung legitimierter Gewalt. Ausgenommen von diesem Monopol sind theoretisch nur echte Notwehrsituationen, in denen alle Menschen Gewalt zur Selbstverteidigung anwenden dürfen. Der tatsächliche Umgang mit manifester Gewalt ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden.
Im Alltag wird manifeste Gewalt zum Verweis einer Person auf den ihr vorgegebenen sozialen Platz bis zu einem gewissen Grad mehr oder weniger geduldet. Diese Gewalt trifft in unserer Gesellschaft vor allem Kinder, deren Disziplinierung vor allem durch Eltern geduldet wird. Auch die Gewalt von Männern gegenüber Frauen insbesondere in Form von sexuellen Übergriffen wird in unserer Gesellschaft wenn nicht offen geduldet, so doch allgemein verharmlost.
Ebenso im Rahmen einer gewissen Bandbreite von der Allgemeinheit geduldet wird Gewalt seitens der Exekutive, auch wenn sie sich in einem rechtlichen Graubereich bewegt oder von der Rechtsordnung definitiv gar nicht mehr legitimiert ist. Dies ist teils der Obrigkeitshörigkeit der Allgemeinheit geschuldet. Außerdem wird in der Populärkultur, vor allem in Film und Fernsehen, der Heldenmythos vom einsamen Gesetzeshüter beschworen, der hart durchgreift und sich dabei über alle Regeln hinwegsetzt. Gewalt bis hin zur Folter gilt gemeinhin als probates Mittel zur einfachen Lösung von Problemen und schnellen Beseitigung von Bösewichten. Das wünschen sich die Menschen von der Exekutive, damit sie ruhig schlafen können. Wer die Ordnung stört, fordert die Konfrontation mit organisierter staatlicher Gewalt quasi heraus und darf sich nicht wundern, wenn die Polizei hart durchgreift. Solange die Polizei ein Gespür dafür hat, wen sie hart angreifen darf und wen nicht, ist Polizeigewalt für die Allgemeinheit kein großes Problem, auch wenn sie den gesetzlichen Rahmen weit überschreitet. Zugunsten von Ruhe und Ordnung wird Polizeigewalt gedeckt und verheimlicht. Die Allgemeinheit schaut in solchen Fällen am liebsten nicht hin.
Es ist kein Geheimnis, dass Menschen von der Polizei misshandelt und gefoltert werden. Unbewaffnete Menschen werden von Polizist*innen erschossen oder auf andere Weise umgebracht. Das betrifft allerdings nicht irgendwelche Menschen. Es betrifft fast ausschließlich Randgruppen und Minderheiten, bevorzugt vermeintliche Verbrecher*innen, vermeintlich nicht Hierhergehörige (rassistisch Diskriminierte) und hie und da auch vermeintliche staatsfeindliche Elemente. Besonders gefährdet sind Personen, bei denen mehrere dieser Merkmale zusammentreffen. Polizist*innen vergreifen sich hingegen nur äußerst selten an einem honorigen Mitglied der Gesellschaft. Sie verüben manifeste Gewalt dort, wo Regelungen allein womöglich nicht genügen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Besonders kritisch und gewaltanfällig sind Situationen, in denen sich Menschen gegen die Ordnung auflehnen und die ihnen aufoktroierten Regelungen missachten. In solchen Situationen wird manifeste Gewalt seitens der Exekutive von der Allgemeinheit gutgeheißen, soweit sie dazu dient, die Ordnung zu sichern. Entsprechende Vorfälle dringen nur selten an die Öffentlichkeit, weil auch die Medien in diesem unausgesprochenen Konsens mitspielen.
Daher führen Fälle von manifester Polizeigewalt nur äußerst selten zu einem Aufschrei in der Gesellschaft oder gar zu Konsequenzen für die vom Staat bezahlten Gewalttäter*innen.
Die Ermordung von Marcus Omofuma war eine solche Ausnahme. Sie erregte internationales Interesse, weil die Gewalttat seitens österreichischer Polizisten auf dem Flug von Wien nach Sofia passierte und der bulgarische Amtsarzt die Tat nicht vertuschen wollte, sondern für die vorübergehende Festnahme der Polizisten sorgte. Außerdem hat das langsame Ersticken von Marcus Omofuma und sein verzweifelter Widerstand viele Fluggäste traumatisiert. Normalerweise passieren solche Gewalttaten nicht unmittelbar vor den Augen von Menschen, die nur in den Urlaub fliegen wollen. Sie passieren üblicherweise in Wachstuben, in Polizeigefängnissen, in Verhörzimmern. Die Menschen im Flugzeug hatten nicht die Chance wegzusehen, wie es sonst üblich ist. Aufgrund dieser Umstände haben die Polizisten, die mit ihrer Brutalität die Ordnung aufrecht erhalten wollten, die Ordnung auf anderer Ebene schwer verletzt. Daher haben auch die Mainstreammedien nicht wie üblich den Mantel des Schweigens über diesen Fall gebreitet. Letztlich kam es Jahre später sogar zu einem Prozess gegen die Polizisten, die jedoch vom Gericht in Korneuburg trotz erdrückender Beweise nicht des Mordes schuldig gesprochen wurden.
Anhand der Tötung von Marcus Omofuma konnte die Kritik an der systematischen Polizeigewalt im Bereich des Schubhaft- und Abschiebesystems erstmals vom linken Rand der Zivilgesellschaft in den Mainstream eindringen und ein kollektives Unbehagen artikulieren. Der Tod von Marcus Omofuma geriet anders als der von vielen anderen nicht in Vergessenheit. Rund um den 1. Mai 2019 wurde dem Todestag von Marcus Omofuma gedacht, der sich zum 20. Mal jährte. Dass Marcus Omofuma nur eine*r von vielen Toten in den Händen der Behörden ist, ist bekannt. Dennoch bleibt er uns nicht umsonst als prominentester Fall im Gedächtnis, während viele andere in Vergessenheit geraten. Im Mai 2000, nur ein Jahr nach dem Tod von Marcus Omofuma, starben mindestens fünf Menschen im Gewahrsam der österreichischen Behörden. Wie viele Menschen seither Todesopfer rassistischer Polizeigewalt wurden, ist nicht bekannt.
Die Behörden hüllen sich wie so oft in Schweigen. Umso wichtiger ist es, die Toten in Erinnerung zu halten. Im Mai 2020 gibt es dazu mehrere Gelegenheiten. Da gibt es gleich fünf 20. Todestage.
Ein junger Mann, dessen Namen nie an die Öffentlichkeit drang, erstickte in "Bauchlage" - bei einem Polizeieinsatz in Wien. Zuvor schrie er laut Augenzeug*innen: "Ich kriege keine Luft". Der Mann war einer Funkstreifenbesatzung verdächtig vorgekommen, als er bei einem Bankomaten stand. Als er die Polizisten bemerkte, lief der 24jährige davon. Doch er war zu langsam und wurde erwischt, was ihm zum Verhängnis wurde. Er starb unter dem Gewicht der ihn "fixierenden" Polizisten. Der damalige Polizeichef Max Edelbacher stärkte seinen Beamten den Rücken und beschwichtigte: "Alles rechtlich gedeckt".
Auch drei Jahre später hatte sich an der Praxis bei Fixierungen noch nichts geändert. Am 15. Juli 2003 wurde Seibane Wague von zehn Polizist*innen und Sanitätern des Roten Kreuzes durch eine solche Fixierung umgebracht. Ebenfalls Tod durch Ersticken, obwohl ein Amtsarzt anwesend war. Die Beamten rechtfertigten ihr Vorgehen mit fehlender Ausbildung. Der Tod von Seibane Wague gelangte vor allem deshalb an die Öffentlichkeit, weil an Anrainer die Szene von seinem Fenster aus gefilmt hat und dieser Amateurfilm im Internet veröffentlicht wurde.
Richard Ibekwe wurde im Rahmen einer Razzia am 29. April 2000 wegen Verdacht auf Drogenhandel verhaftet und im Jugendgefängnis Rüdengasse inhaftiert. Laut Berichten von Augenzeug*innen wurde er bei der Festnahme von der Polizei schwer misshandelt. Er stand unter Verdacht, Drogenkügelchen verschluckt zu haben. Der Verhaftete befand sich trotz des gesundheitlichen Risikos nicht unter ärztlicher Aufsicht. Laut offiziellen Angaben starb Richard Ibekwe nach vier Tagen in Haft in den Morgenstunden des 3. Mai 2000 an einer Opiatvergiftung. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Wichtig ist zu erwähnen, dass die Polizei zuerst versuchte, den Tod von Richard Ibekwe geheim zu halten. Später behauptete sie, alles zu tun, um die Umstände seines Todes aufzuklären. Trotzdem dauerte es eine Woche, bis die Informationen über einen weiteren, laut Behörden ähnlich gelagerten Todesfall in Polizeihaft an die Öffentlichkeit drangen.
Lubomir, ein 40jähriger Mann aus der Slowakei, starb am 4. Mai 2000 in einer Zelle des Polizeikommissariats Wien-Landstraße, was erst am 12. Mai bekannt wurde. Die Polizei behauptet, er wäre durch das Verschlucken von Drogen gestorben, ohne Beweise dafür vorlegen zu können.
Sowohl der Todesfall von Richard Ibekwe als auf von Lubomir sind mittlerweile bei den Akten gelandet. Aufgeklärt wurden sie nie.
Das fünfjährige Flüchtlingskind Hamid S. starb am 17. Mai 2000 aufgrund von mangelnder medizinischer Versorgung. Es befand sich mit seiner Familie in einer Art lockerem Hausarrest in der Pension Wolfram in Gols. Das schwerkranke Kind musste von den Eltern zu einer Ärztin getragen werden, da sich die Wirtin der Pension weigerte, es mit dem Auto zu führen. Am nächsten Tag kam die Rettung trotz Notruf nicht. Das Kind wurde erneut zur Ärztin gebracht, die es sofort mit der Rettung ins Spital schickte, wo das Kind vor dem Abtransport in die Intensivstation nach Wien verstarb.
In der Nacht von 19. auf den 20. Mai 2000 wurde Imre Bartos von einem - angeblich zu diesem Zeitpunkt als ziviler Drogenfahnder aktiven - Polizisten mit dessen Privatwaffe erschossen. Im Juni 2002 fand ein Prozess gegen den Todesschützen statt. Er wurde freigesprochen. Der unbewaffnete Bartos soll in seinem parkenden Auto sitzend, mit den Händen am Lenkrad, durch einen "irrtümlich gelösten Schuss" gestorben sein.
Fast sechs Jahre nach der Erschießung entschied der Verwaltungsgerichtshof (VwGH), dass der im Mai 2000 durch einen Beamten der Wiener Polizei "irrtümlich" auf Imre B. abgegebene tödliche Schuss rechtswidrig war. Für den Todesschützen, der einer für ihre Brutalität und ihren Rassismus bekannten Polizeieinheit angehört, hatte dieses Urteil jedoch keine Konsequenzen. Er wird weiterhin bewaffnet auf die Bevölkerung losgelassen.
Als Reaktion auf diese Serie von tödlich endenden Polizeiübergriffen kam es am 20. Mai 2000 zu einer spontanen Demonstration gegen Polizeigewalt. Etwa 100 Leute versammelten sich am Heldenplatz und bewegten sich dann Richtung Innenstadt. Die Polizei setzte von Anfang an auf Eskalation: Helme und Schlagstöcke waren parat, in der Luft kreisten Hubschrauber. Unter den Worten des Einsatzleiters: "Heute wird's noch lustig" und dem demonstrativen Händereiben von WEGA-Beamten wurden die Demonstrant*innen nach wenigen Metern am Michaelerplatz geprügelt und 24 Personen eingekesselt. Die Eingekesselten wurden zur Aufnahme der Personendaten einzeln mit Gewalt aus dem Kessel gezerrt, wobei immer wieder auf sie und auch auf die ringsum solidarisch wartenden und protestierenden übrigen Demonstrant*innen eingedroschen wurde. Die Aktion dauerte 3 1/2 Stunden. Mehrere Krankenwägen wurden schon vor dem Prügeleinsatz geordert, später waren rund herum Blutspuren von Demonstrant*innen zu sehen, mindestens vier Menschen wurden schwerer verletzt. Die Repression wurde vor Gericht fortgesetzt und eine Person unter fadenscheiniger Begründung zu einer mehrmonatigen unbedingten Haftstrafe verurteilt. Für die Beamt*innen hatten weder der Prügeleinsatz vom 20. Mai noch die oben genannten Todesfälle Konsequenzen. In den meisten Fällen kam es zu keinen Anklagen.
Gewalttätiges Vorgehen der Polizei hat nur selten Folgen für die Beamt*innen, weil die Gewalt und deren Deckung letztlich dazu dient, die rassistische und menschenverachtende Ordnung aufrecht zu erhalten, gegen die sich manche wehren. Falls von Seiten der Staatsanwaltschaft überhaupt einmal Anklage erhoben wird, kommt es meist zu lächerlichen und in der Regel lediglich bedingten Strafen. Die Politik wiederum beschließt immer repressivere Gesetze, durch die die Befugnisse der Polizei ausgeweitet werden. Im Einklang mit der rassistischen Hetze von weiten Teilen der Medien entsteht so ein Klima der Akzeptanz, das rassistisches Morden immer leichter macht und immer besser legitimiert.
Eine unvollständige Dokumentation von Todesfällen bei Deportationen und in Polizeigewahrsam findet sich unter: http://no-racism.net/racismkills