Rassismus
Rassismus lässt sich als Macht-Ideologie-Komplex begreifen,
der einerseits in einer historisch gewachsenen, gesellschaftlich
systematischen Machtasymmetrie zwischen einer als fremd
bzw. andersartig explizit definierten Gruppe und einer "normalen"
d.h. meist nur implizit über diese Abgrenzung zu den "anderen"
definierten hegemonialen Gruppe besteht und andererseits begleitet wird durch
eine Ideologie bzw. durch Diskurse, welche die Schlechterstellung,
Unterdrückung, Ausbeutung, Beraubung, Bedrohung, Vertreibung, Verfolgung
und Tötung von Gruppen legitimieren, denen aufgrund der behaupteten oder
implizierten Ungleichheit (meist in Kombination mit einer behaupteten besonderen
Gefährlichkeit) das Recht auf Selbstbestimmung, Erhaltung oder Schaffung
von ökonomischen Lebensgrundlagen, auf körperliche Unversehrtheit
bis hin zum Recht auf Leben abgesprochen wird und der sich dann auch im dieser
Ideologie entsprechenden Handeln manifestiert. Legitimiert werden aber nicht
nur systematische Benachteiligungen der "Anderen", sondern auch die
Aufrechterhaltung bzw. Schaffung von Privilegien der hegemonialen Gruppe. Rassistische
Strukturen bilden neben Sexismus, Behinderung, Antisemitismus,
Homophobie, Alter und Krankheit eine der markantesten systematischen Asymmetrien
in unserer Gesellschaft. Rassismen werden von der hegemonialen Gruppe ständig
reproduziert; und zwar hauptsächlich als unbegriffene Normalität.
Rassismus funktioniert nur in Gruppenzusammenhängen, der individuelle Beschluss
neue Rassismen zu definieren greift nicht. Strukturelle Rassismen wirken sich
aber natürlich auf individuelles Handeln aus, auf Handeln gegenüber
durch Rassismus ausgegrenzten Gruppen und gegenüber einzelnen Mitgliedern
dieser Gruppen.
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Macht-Ideologie-Komplex
Rassismus ist nicht nur Diskurs. Es gibt viele institutionelle Verankerungen
und manifeste Ausprägungen von Rassismen in Gesetzen, in Grenzen, in Gefängnissen,
in der Verteilung des Eigentums, etc.
historisch gewachsen
Wir gehen davon aus, dass gesellschaftliche Strukturen aus den Handlungen der
vergangenen Generationen resultieren. Die Strukturen prägen das gegenwärtige
Handeln, geben ihm seine Spielräume, Grenzen, Ausrichtungen, Motivationen,
etc. Das gegenwärtige Handeln schafft wiederum Strukturen. Auch Rassismen
sind strukturell verankert und werden in Handlungen reproduziert, womit sie
in Strukturen für das kommende Handeln münden. Rassismen sind historisch
flexibel, sie verändern sich und passen sich ihren sozialen Kontexten an.
Es gibt dementsprechend keine überhistorische Definition von Rassismen.
Rassismen sind immer im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. So ist Rassismus
in Österreich mit seiner kollektiv verdrängten jüngeren Geschichte
der NS-Pogrome und des industriellen Massenmords etwas anderes als Rassismus
in den USA mit seiner Geschichte des Völkermords an den UreinwohnerInnen
und der Sklaverei. Jede kapitalistische Gesellschaft entwickelt ihre spezifischen
Rassismen entlang ihrer geschichtlichen Besonderheiten. So hat sich aber auch
das Rassimsusverständnis in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Der sogenannte
"Neorassismus" stellt zunehmend ab auf kulturelle – unvereinbare
- Gruppenunterschiede von "Einwanderer"- und "Auswanderergesellschaften"
(Stichwort Überfremdungsgesellschaft) und hat durch das teilweise oder
auch nur vermeintliche Abgehen von biologistischen Kriterien wesentlich bessere
Chancen auf gesellschaftliche Akzeptanz.
gesellschaftlich systematisch
werden beständig von sehr vielen Menschen reproduziert, insbesondere von
den hegemonialen Kräften und vom gesellschaftlichen Mainstream. Erst durch
dieses wiederholte massenhafte Auftreten werden Rassismen zu einem besonderen
Phänomen, das u.a. mit statistischen Mitteln in der Gesellschaft fassbar
wird. Eine gesellschaftlich systematisch diskriminierte Gruppe wird als solche
erst durch die gesellschaftlich systematische Diskriminierung konstituiert.
Die massenhafte Verbreitung von biologistisch-rassistischen Diskursen schafft
eine Differenzierung der Menschen in "Rassen", die es laut Genforschung
zwar nicht gibt, die aber sehr wohl als seit Jahrhunderten tradierte hegemoniale
Konstrukte sozial wirksam werden. Genauso erfindet kulturalistischer Rassismus
Kulturen als soziale Gruppen mit quasinatürlichen und unveränderbaren
Grenzen gegenüber anderen sozialen Gruppen, aber erst durch die massenhafte
Verbreitung solcher Konstrukte werden soziale Realitäten nachhaltig geprägt.
Neben Rassismus bilden Sexismus, Behinderung, Antisemitismus, Homophobie, Alter
und Krankheit die markantesten gesellschaftlich systematischen Diskriminierungsformen
in unserer Gesellschaft.
Machtasymmetrie
Wir gehen davon aus, dass sich Macht in Verhältnissen zwischen Subjekten
konstituiert. Macht kann entweder relativ symmetrisch verteilt sein, oder stärker
asymmetrisch. Macht wird fassbar in der Frage: Wer kann wen dazu bringen, in
einer bestimmten Weise zu handeln. Je ausgeprägter die Machtasymmetrie,
desto ausgelieferter ist der unterlegene Teil, weil sich die Handlungschancen,
Ressourcen, Kontakte, Zugänge, etc. beim überlegenen Teil konzentrieren
und dem unterlegenen Teil keine Alternativen und Ausweichmöglichkeiten
offenstehen. Extreme Formen der Machtasymmetrie münden in Herrschaftsverhältnisse.
Gesellschaftlich systematische Machtasymmetrien betreffen ganze Gruppen, die
historisch gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft in eine Position
der Unterlegenheit geraten sind.
als fremd bzw. andersartig explizit definiert
Rassismen sind gekennzeichnet durch einschließenden Ausschluss der diskriminierten
Gruppen. Historisch haben sich Rassismen ausgehend von der reconquista in Spanien
und der kolonialistischen Ausbreitung Europas in der Welt ab der frühen
Neuzeit entwickelt. Im Gegensatz zu davorliegenden Eroberungen und Kämpfen
um geostrategische Einflusssphären wurde in dieser Zeit erstmals die Idee
eines "reinen Blutes" zur Legitimation von Gewaltanwendung und Genozid
herangezogen. Den Angegriffenen bzw. Eroberten wurde die Qualität des Menschseins
abgestritten. Sie wurden zu Untermenschen erklärt, weil sie der Expansion
entweder im Weg waren oder ihr als Untermenschen besser dienlich gemacht werden
konnten. Die neue Qualität im Rahmen des sich unter den beginnenden kapitalistischen
Wirtschaftsformen ausbreitenden Kolonialismus war, dass die Eroberungen vorwiegend
das Ziel der Verwertung und Beraubung verfolgten. Es folgten Jahrhunderte der
Sklaverei bzw. des Genozids an jenen Bevölkerungsteilen, die sich nicht
als SklavInnen verwerten ließen. Seit damals hat sich ein ökonomisches
Gefälle zwischen armen (ausgebeuteten/beraubten) Weltregionen und reichen
(ausbeutenden/räuberischen) Weltregionen herausgebildet. Der Einschluss
neuer Bevölkerungsgruppen passiert heute nicht mehr durch Eroberungen.
Der Rassismus im postkolonialen Europa enthält zwar immer noch diskursive
Elemente der biologistischen Konstruktion vom Untermenschen, wird aber von neuen
Formen überlagert, die sich den ökonomischen und politischen Strukturen
anpassen. Die reichen und politisch stabileren Regionen saugen tendenziell mittellose
Arbeitssuchende ebenso wie Flüchtlinge an. Diese "Fremden", vulgo
"Ausländer", MigrantInnen, Flüchtlinge und Folgegenerationen
werden von der über Jahrhunderte rassistisch konditionierten Mehrheitsbevölkerung
anhand verschiedenster Indizien (Hautfarbe, Haarfarbe, Name, Aussprache, Kleidung,
Habitus, etc.) als fremd/andersartig wahrgenommen. Damit wird eine soziale Grenzziehung
reproduziert, an die sich der rassistische Ausschluss der in die Wohlstandsräume
einsickernden Menschen anschließt. Die "Fremden" gehören
nicht dazu, haben natürlich nicht dieselben Rechte, es wird von den Mitgliedern
der rassistisch privilegierten Gruppen nicht oder anders mit ihnen kommuniziert
oder gar kooperiert, etc. Die Definitionsmacht, wer wo ab wann dazugehört,
liegt bei den Privilegierten bzw. deren Gruppennormen. In Österreich sind
diese Gruppennormen stark von der verdrängten NS-Vergangenheit geprägt.
Die Initiation der Volksgemeinschaft durch den industriellen Massenmord an allen
"Andersartigen" ist aufgrund des Bruchs mit jeglicher Menschlichkeit
extrem tabuisiert, wirkt aber dadurch umso stärker. Die Geschichte der
Deutschwerdung des österreichischen Staates setzt sich gegen die seit jeher
in diesem Territorium ansässigen ethnischen Minderheiten ebenso bis heute
fort wie gegenüber den historisch rezenter Eingewanderten samt hier geborenen
und aufgewachsenen Folgegenerationen.
Schlechterstellung/Diskriminierung
Diskriminierung bedeutet Schlechterstellung. Mit jeder sozialen Handlung werden
Vor- und (als Kehrseite unweigerlich) Nachteile im gesellschaftlichen Relationengefüge
verteilt, z.B. im Rahmen von Tauschgeschäften oder Kooperationen, bei Vermittlung
von Erwerbsquellen, Informationen, Kenntnissen und Kontakten, etc.. Effektive
Schlechterstellung kann aber (bewusst oder unbewusst) nur auf der Basis einer
einigermaßen ausgeprägten Machtasymmetrie passieren. Politisch problematisch
ist Diskriminierung dann, wenn sie zur gesellschaftlich systematischen Diskriminierung
bestimmter Gruppen wird. Die gesellschaftliche Verdichtung von Schlechterstellungen
gegenüber bestimmten Personengruppen kann soweit führen, dass diesen
Personengruppen der Zugang zu sonst allgemein zugänglichen sozialen Ressourcen
verwehrt wird, sodass sie in ihren Handlungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt
werden. Die resultierende Konzentration von schlechtergestellten Personen in
den verbleibenden Handlungsbereichen führt ebenso wie die anhaltende Schlechterstellung
zur sozialen Konstituierung der systematisch Diskriminierten als Gruppe. Durch
die systematische Schlechterstellung wird ein gesellschaftliches Gefälle,
eine Machtasymmetrie, reproduziert, die sich historisch fortsetzt, von Generation
zu Generation übertragen wird, wenn es nicht zu gesellschaftlich breit
angelegten anti-diskriminatorischen Bewegungen kommt.
Auch wenn Diskriminierung an sich ein Ergebnis systematischer Benachteiligungen
bestimmter Gruppen ist, darf die Existenz alltäglicher individueller Diskriminierung
nicht aus den Augen verloren werden. Einzelne Angehörige diskriminierter
Gruppen sind nicht nur als Teil einer diskriminierten Gruppe Betroffene von
Diskriminierung, sondern werden auch als Individuen von anderen Individuen diskriminiert,
weil sie Teil einer bestimmten Gruppe sind. Eine diskriminierende Stellenausschreibung
stellt z.B. eine Diskriminierung der gesamten durch die Formulierung dieser
Anzeige ausgeschlossenen Gruppe ebenso dar wie eine Diskriminierung einer betroffenen
Einzelperson.
Ideologie/Gleichheit/Ungleichheit
Die gesellschaftlich systematische Schlechterstellung bestimmter Gruppen besteht
aber nicht nur in realen sozialen Machtasymmetrien. Die sozialen Unterschiede
werden auch in der einen oder anderen Form legitimiert, d.h. ideologisch begleitet.
Seit Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wurde die Gleichheit immer
einer politischen Instanz, nämlich dem Nationalstaat und einer ökonomischen
Instanz, nämlich der Eigentumsregelung unterworfen. Nur in diesem Rahmen
wurden Freiheiten und Gleichheiten definiert und wurden Unfreiheiten und Ungleichheiten
geduldet. Allerdings hängen systematische Diskriminierungen nicht nur an
diesen beiden Rahmenbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft. Die offizielle
Ideologie hält umgekehrt die Gleichheit als ideologischen Wert hoch und
deklariert Diskriminierung als Unwert. Daher bedarf die sozial sichtbare Schlechterstellung
bestimmter Gruppen stets einer besonderen (mehr oder weniger (un)verschämten)
Begründung, welche den Grund der Ungleichheit den Diskriminierten zuschreiben.
Biologismen/Kulturalismen
Die ideologischen Rechtfertigungen basieren zumeist auf Biologismen (geringere
Intelligenz, "unwertes Leben", psychologisch grundgelegte Angst vor
dem Fremden, krankhafte Abartigkeit von Homosexualität, "natürliche"
Bindung an Kinder- und Altenpflege, "natürlicher" Masochismus
der Frau, Definition, was als krank oder behindert oder unreif oder senil gilt,
etc) oder Kulturalismen (Inkompatibilität bzw. Erhaltung der Verschiedenheit
der Kulturen, gefährliche feindliche oder unterdrückerische Werthaltungen,
Fanatismus, Fundamentalismus). Indem den systematisch schlechtergestellten Gruppen
die Gleichheit ideologisch abgesprochen wird bzw. eine unüberbrückbare
Differenz statuiert wird, wird deren Sonderbehandlung möglich bzw. wird
der Verzicht auf die Berücksichtigung von besonderen Bedürfnissen
möglich.
Strukturelle Diskriminierung
Die Schlechterstellungen kristallisieren sich nicht zuletzt in gesetzlichen
Regelungen, die entweder Sondernormen für bestimmte Gruppen statuieren
(z.B. Ausländerbeschäftigungsgesetz) oder umgekehrt auf besondere
Bedürfnisse bestimmter Gruppen nicht eingehen (z.B. mangelnde Rücksichtnahme
auf Rollstuhlgerechtigkeit in den Bauordnungen). Diese Kristallisationen sind
die wesentlichen Angelpunkte für das systematische Moment an bestimmten
Diskriminierungen. Die Gesetze sorgen dafür, dass die Diskriminierungen
ständig reproduziert werden. Die gesellschaftlich systematische Diskriminierungen
konstituieren sich stets im Rahmen eines Macht-Ideologie-Komplexes. Aufgrund
der systematisch ohnmächtigeren Stellung der diskriminierten Gruppen in
der Gesellschaft lässt sich die historisch gewachsene Schlechterstellung
nicht leicht umkehren. Im Gegenteil. Die systematischen Diskriminierungen kristallisieren
in sozialen Ausbeutungszusammenhängen, in Marginalisierungen, in politischem
Ausschluss, etc. Diese historischen Kristallisationen sind schwer aufzubrechen.
Je nach Diskriminierungsform würde ein solcher Aufbruch das bürgerliche
Gesellschaftssystem in seinen Grundfesten mehr oder weniger erschüttern.
So rüttelt der Antirassismus hierzulande z.B. am Nationalstaat und der
darin verankerten Besserstellung der BürgerInnen, Antisexismus rüttelt
weltweit an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der damit einhergehenden
Besserstellung der Männer, das Engagement gegen Behinderung rüttelt
an der gesamten Architektur und Infrastruktur, am Bildungs- und Gesundheitswesen,
etc..
Sachliche Rechtfertigung
Manche Definitionen verwenden ebenso wie die juridischen Instanzen das Kriterium
der "sachlichen Rechtfertigung", um den Gleichheitssatz auszulegen
und Diskriminierung von Nicht-Diskriminierung zu unterscheiden. Es erscheint
allerdings aus einer antirassistischen Perspektive nicht stringent, die sachliche
Rechtfertigung zum zentralen Maßstab für Diskriminierung oder nicht
Diskriminierung zu erheben, denn wer definiert, was in einer bestimmten Situation
sachlich gerechtfertigt ist? Die Figur der sachlichen Rechtfertigung kommt aus
dem Juristischen. Die Bandbreite der Definition, was sachlich gerechtfertigt
ist, schwankt zwischen den Stammtischargumenten (worst case) und (best case)
den aus der französischen Revolution stammenden Werten der bürgerlichen
Gesellschaft Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit (historisch gab’s
halt nur männliche Geschwister). Selbst diese ideologisch hochgehaltenen
Werte wurden aber seit ihrer Entstehung immer einer politischen Instanz, nämlich
dem Nationalstaat als menschenrechtlichem Bockzumgärtner und einer ökonomischen
Instanz, nämlich der Eigentumsregelung unterworfen. Nur in diesem Rahmen
wurden Freiheiten und Gleichheiten definiert und wurden Unfreiheiten und Ungleichheiten
geduldet. Nie wurde die Definitionsmacht, was als gerechtfertigt gelten soll,
abgegeben an die Diskriminierten. Die Figur der sachlichen Rechtfertigung ist
nicht neutral sondern historisch besetzt. Die Definitionsmacht lag immer bei
den Privilegierten. Eine sachliche Rechtfertigung kann in konkreten Fällen,
wo mehrere Rechte oder Interessen miteinander kollidieren und Ungleichbehandlungen
zur Gewährleistung anderer Schutzinteressen notwendig sind, durchaus ihre
Berechtigung haben – solange sie auf konkrete Fälle beschränkt
bleibt. Die sachliche Rechtfertigung in eine Definition von Diskriminierung
als Hauptkriterium hineinzunehmen, wäre aber in sich diskriminierend
redaktionelle Verantwortung für diese Seite des thematischen
Netzwerks Antirassismus: Andreas Görg <andreas at no-racism.net>
und Katrin Wladasch <katrin.wladasch at zara.or.at>.