no-racism.net Druckversion

Quellenangabe:
Das 'Spiel' mit der Angst ... und der Zusammenhang mit Rassismus (vom 04.10.2017),
URL: http://no-racism.net/article/5253/, besucht am 23.11.2024

[04. Oct 2017]

Das 'Spiel' mit der Angst ... und der Zusammenhang mit Rassismus

Armin Wolf kommt aufgeregt ins Bild zurück. Ein Beitrag in den Nachrichten wurde beendet. In Frankreich sei eben ein Auto in ein Restaurant gerast. Noch sei unklar, was dahinter stecke, doch die Redaktion bemühe sich, eine Liveschaltung zu einem_r Korrespondent_in vor Ort herzustellen. Nach dem nächsten Beitrag würden "wir", die Zuseher_innen, mehr erfahren.

Als dieser Beitrag vorbei ist, werden die Zuseher_innen einmal mehr auf die Folter gespannt. Es sei immer noch unklar, was sich hinter dieser Tat verbirgt, die nun etwas konkretisiert wird: In einem Vorort von Paris ist ein Auto mit voller Wucht in das Lokal gerast. Es wird mehr Geduld verlangt. Nach der Meldungsübersicht sei es aber so weit, dann würde die Liveschaltung mehr Klarheit schaffen. Ein Versprechen? Oder der Versuch, die Zuseher_innen am Fernsehgerät zu halten und nicht auf einen anderen Kanal zu schalten? Dann ist es endlich so weit, ein Korrespondent meldet sich via Telefon aus Paris. Er wisse noch nicht genau, was die Hintergründe seien, die Polizei könne noch nichts sagen, wie viele Tote und Verletzte es gab sei noch unklar, und überhaupt: es müsse noch abgewartet werden, bis die Hintergründe dieser Tat bewertet werden können. Die Kolleg_innen verabschieden sich, der Nachrichtensprecher betankt sich für die Informationen und geht dann zum nächsten Tagesordnungspunkt über, nicht ohne zu versprechen, dass die Zuseher_innen am laufenden gehalten werden - in den kommenden Nachrichtensendungen, das versteht sich von selbst. Doch was war der Informationsgehalt, der all dem Aufwand entspringt? Rein gar nichts. Es ist noch unklar, die Polizei kann noch nichts sagen, die Hintergründe sind noch nicht klar, wer warum in das Lokal raste, steht noch nicht fest, usw. "Wir" müssen abwarten. Wer bitte? Und warum?

Am nächsten Tag ist von all dem nichts zu hören, irgendwo in Teletext ist jedoch eine kurze Info, dass es sich um keinen Terroranschlag handelte. Viel Lärm um "nichts". Das wars. Das Spiel mit den Ängsten und der Bedrohung durch den Terror. Aber nur für dieses mal: Es hat den Anschein, als lasse sich dieses Spiel einfach nicht abdrehen und werde immer fortgesetzt. Denn es ist nicht das einzige Mal, dass solche Inszenierungen statt finden. Einmal zum Beispiel bevor ÖVP-Innenminister Sobotka ins Studio kommt und über sein "Sicherheitspaket" informiert. Diese Form der Berichterstattung bewegt, sie soll die Bedrohung greifbar machen, gegen die sich die umfassenden Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen richten. Die Bedrohung soll für die Menschen permanent sein, ein ständiges Fürchten erzeugen, ein Gefühl der Unsicherheit, das es von Politiker_innen und Medien zu bedienen gilt.


"Sorgen und Ängste" in Zeiten des Wahlkampfes


Insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes wird an "Sorgen und Ängste" appelliert, werden diese "Sorgen und Ängste" der Bevölkerung als Rechtfertigung für alles mögliche herangezogen. Dabei fragt sich: 1. Wessen Ängste hier gemeint sind, 2. um welche Ängste es geht und 3. warum gerade diese Ängste herangezogen werden.

Angst ist ein Gefühl, oft sehr irrational. Dann, wenn eine nicht greifbare, fiktive Bedrohung bei Menschen dieses Gefühl auslöst. Doch manchmal lieben Menschen die Angst, wenn einer_m die Gänsehaut in der Geisterbahn oder bei einem guten Horrorfilm über den Rücken rinnt. Es ist das Mitfiebern mit den Darsteller_innen, der Gedanke: Warum rennt sie, warum rennt er nicht davon, während das Grauen seine Finger ausstreckt. Doch das ist Fiktion, diese Angst entspringt der Filmwelt. Sobald der Film vorbei oder der Bildschirm abgeschaltet ist, kehren die Zuseher_innen zurück in die Realität und die Angst ist wieder verflogen.

Manchmal kann mensch sich wie in einem schlechten Film fühlen, der daher kommt wie eine Reality Show, bei der es kein Ende, kein Ausschalten gibt. Bedrohungen, die das reale Leben betreffen, können nicht einfach abgeschaltet werden. Vor allem dann, wenn über die permanente Berichterstattung über oder den permanenten Hinweise auf angebliche oder tatsächliche Bedrohungen das Unsicherheitsgefühl der Menschen gezielt angesprochen werden soll.

In der aufgeheizten Debatte um DEN Terrorismus - sowohl global, aber vor allem in Europa (auf das hier Bezug genommen wird) - geht es um eine bestimmte Form von Terror, der als DIE Bedrohung der Gesellschaften dargestellt wird, bezeichnet als "islamistischer Terror". Doch ist es tatsächlicher dieser Terror, der sich über ganz Europa verbreitet und der die größte Bedrohung von Freiheit und Sicherheit bedeutet? Ist es nicht viel eher der rechtsextreme und rassistische Terror, der Europa mehr und mehr erschüttert? Und sind es nicht eben jene Politiker_innen, die ständig vor der Bedrohung durch eine angebliche "Islamisierung" bzw. vor den Gefahren durch Migration warnen, die den rechten Terror verharmlosen und fast schon totschweigen? Ein Terror, der tagtäglich Opfer fordert und dessen Protagonist_innen oft an den Schalthebeln der Macht sitzen - oder diese anstreben! Um dort hin zu kommen, ist ihnen jedes Mittel recht. Und da dieser Weg in demokratischen Systemen meist über Wahlen führt, bedienen sie sich des Spieles mit der Angst, um die Menschen bzw. deren Meinungen zu manipulieren, um mehr Stimmen zu bekommen.

Diese Angstmache spielt nicht im luftleeren Raum, sie baut auf Gefühle der Menschen, die nicht naturgegeben sind. Es bedarf der Greifbarmachung der Bedrohung, wie im eingangs beschriebenen Beispiel, damit die Ängste ihre Wirkung entfalten können. Und es bedarf einer Greifbarmachung derjenigen, die als Ursache, als verantwortlich für diese Bedrohung gemacht werden können. Dies ist nichts neues, sondern ein altbewährter Mechanismus, dem sich die Herrschenden bedienen. Es bedarf des Dualismus von gut und böse, auf den von allen Religionen und Moralist_innen aufgebaut wird. Der eingebettet ist in Jahrtausende alte Erzählungen, mit denen die Welt erklärt wird. Mächtige Erzählungen. Dieses Wissen ist ein Werkzeug das eingesetzt wird, seit die großen Erzählungen geschrieben wurden. Und immer wieder greifen Religionen, Politik und viele Ideologien darauf zurück. Sie erklären die Welt damit und verwenden die Ängste vor den Anderen, um etwas Gemeinsames hervorzuheben und ein "Wir" zu konstruieren. Der Rückriff auf die großen Erzählungen funktioniert deshalb so gut, weil das Wissen darüber bereits vorhanden ist, weil darauf das Weltbild der Menschen aufbaut. Die Interpretation, die Auslegung dieser Erzählungen ist nicht immer die gleiche, sie hängt von Interessen ab. Den Interessen jener, die sich diese Erzählungen zu nutze machen.


"Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört"


Vielleicht fragen sich viele seit einiger Zeit, was dies alles mit dem Thema Rassismus zu tun hat. Zur Beantwortung dieser Frage sei der Blick auf die angebliche Bedrohung gerichtet und diese mit folgender Frage in Verbindung gebracht: Wer wird wovon, was wird von wem bedroht? An dieser Stelle sei angemerkt, dass es hier um jene Ängste und Bedrohungen geht, die dazu dienen, umfassenden Maßnahmen zur Abschottung und Überwachung Legitimation zu verleihen. Die berechtigten Ängste mit denen all jene leben müssen, auf deren Rücken all diese Maßnahmen ausgeführt werden, die tagtäglich mit diesen Bedrohungen umgehen müssen, sind real. Sie sind wohl realer und greifbarer als jene Ängste, auf die (angebliche) Bedrohungsszenarien aufbauen, von denen behauptet wird, sie würden das Leben, die Existenz, die Freiheit und die Sicherheit der Menschen in Europa bedrohen.

Der islamistische Terror ist dem rechten Terror sehr ähnlich, basiert auf der gleichen Art von Menschenfeindlichkeit, hat aber unterschiedliche Ausformungen. Doch wen trifft der islamistische Terror und wo sind die Menschen tatsächlich jeden Tag davon bedroht - und vor allem wer? Es wird immer darauf verwiesen, wie gefährlich dieser Terror für die Menschen in Europa sei, und ja, in den vergangenen Jahren kam es zu Anschlägen mit zahlreichen Toten. Doch steht dies in keinem Vergleich zu den Ausmaßen des Terrors des "Islamischen Staates" in Syrien und Irak, oder in Afghanistan und Pakistan. Während in Syrien und Irak viele Städte und Dörfer zerbombt sind, diese beiden Länder sich nach wie vor im (Bürger_innen)krieg befinden, kommt es in Afghanistan und Pakistan fast täglich zu terroristischen Anschlägen mit unzähligen Toten. Wenn Flüchtlinge und Migrant_innen sagen: "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört", hat dies einen realen Hintergrund. Auch wenn viele es bereits vergessen haben, dies ändert nichts daran, dass Europa, die USA oder auch Russland in die meisten Kriege auf dieser Welt verwickelt sind, dass es bei diesen Kriegen oft um regionalen Machteinfluss oder Rohstoffe, wie Öl geht.

Dies verdeutlicht, dass hinter den Spiel mit den Ängsten wesentlich mehr steckt, als reiner Populismus und der Wunsch, eine Wahl zu gewinnen.


Zukunftsängste - und ihr antiislamistischer Schleier


Spannen wir den Bogen etwas weiter und fragen uns, mit welchen Ängsten die Menschen leben? Welche Bedrohungen und Ängste beschäftigen die Menschen in ihrem Alltag? Sind es Existenzängste, die die Menschen plagen? Existenzängste im reichsten Kontinent der Welt! Einer der mit den Existenzängsten der Menschen spielt, ist Sebastian Kurz, der neue Obmann einer farblich-kosmetisch modernisierten Volkspartei, die plötzlich eine Bewegung sein soll. Er will damit den Wunsch nach Veränderung bedienen, den er in großen Teilen der Bevölkerung erkennt. Er ist nicht der erste, der mit derartigen Konzepten in der Politik - zumindest kurz-fristig - erfolgreich war.

Viele Menschen erkennen im Jungspund Kurz einen neuen Grasser, manche erinnert er gar an den jungen Haider, der nach seiner Machtübernahme die FPÖ mittels neuer Politikformen und alter Inhalte zu Erfolgen bei den Wahlen führte. Für diesen Weg griff Haider insbesondere mit dem Anti-Ausländer_innen-Volksbegehren im Jahr 1992 tief in die rassistische Mottenkiste und setzte vor allem auf Angstmache vor zu vielen Ausländer_innen. Haiders Nachfolger H.C. Strache setzte die rassistische Hetze seines Vorgängers fort. Und erweiterte sie in den letzten Jahren vor allem um Antiislamismus. Und nun gibt es eben Sebastian Kurz, der sein erstes großes politisches Ziel, die Machtübernahme innerhalb der ÖVP, mittlerweile erreichte. Karrieresüchtig und ideologisch flexibel strebt er nach noch mehr Macht und will Bundeskanzler werden. Und noch dazu einer, der mit wesentlich mehr Macht ausgestattet ist, als seine Vorgänger. Als Mittel zum Erfolg setzt er voll und ganz auf Rassismus und Antiislamismus, die er mit Angstmache untermauert: Eine Milliarde Menschen in Afrika stehe in den Startlöchern, um nach Europa zu kommen. Und er sei derjenige, der dies verhindern könne.

Kurz vertritt die Meinung, Migration lasse sich beliebig steuern. Es müssten nur die jeweiligen "Push- und Pull-Faktoren" erkannt und entsprechend geändert werden. Zu seinen Pull-Faktoren zählt vor allem das Sozialsystem in Österreich, wegen dessen sich sowohl innerhalb der EU, als auch in Afrika usw. Menschen zur Migration entscheiden würden. In Verbindung mit der von der ÖVP propagierten Leistungsgesellschaft kommt dazu noch eine weitere implizierte Zuschreibung: Die Menschen würden nicht arbeiten wollen, sondern sich lediglich ein gutes Leben auf Kosten der österreichischen (Mehrheits-) Gesellschaft wünschen.


Gespaltene Gesellschaft


Diese Vorstellung basiert auf einer rein ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung, die globale Wirtschafts- und Ungleichheitsverhältnisse ausblendet. Ebenfalls wird ausgeblendet, dass Menschen mit unterschiedlichen Privilegien ausgestattet sind. Schon allein die Vorstellung, Menschen würden sich aus Afrika auf den Weg machen, damit sie in Österreich Sozialleistungen erhalten, ist völliger Unsinn. Sicher haben viele Migrant_innen und auch Flüchtlinge ein ökonomisches Motiv, doch ist dieses meist die Suche nach Erwerbsarbeit. Dass Menschen einer aussichtslosen Situation entfliehen, weil sie keine Perspektive im Leben sehen, ist ein Motiv für die Entscheidung, mit der Hoffnung, anderswo ein besseres Leben zu finden. Die Gründe sind sehr vielfältig - sie auf reine "Wirtschaftsmigration" zu reduzieren ist verkürzt und nicht der Lebensrealität von Geflüchteten und Migrant_innen vereinbar. Es reicht aber für einfache Erklärungen, mit denen der Wohlstand in Europa abgesichert werden soll. Verschleiert werden dadurch die ökonomischen Differenzen sowohl in den Herkunfts- als auch in den Zielländern.

Dies ist jedoch gewollt und Teil sowohl des Push- und Pull-Modells als auch des Konzepts des Migrationsmanagements. Beide Konzepte zielen auf die Steuerung von Migration zur Aufrechterhaltung globaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Wenn Kurz meint, dass die Errichtung von "Registrierzentren" in Nordafrika die Menschen nicht davon abhalten kann, dann hat er wohl recht, seine Erklärung ist aber falsch. Denn er argumentiert, dass diese "Registrierzentren" eine "Sogwirkung" hätten und "eine Milliarde Menschen in Afrika" (!) dazu verleiten würden, sich auf den Weg zu machen Richtung Europa. Dies dient der reinen Angstmache und derartige "Bedrohungsszenarien" wurden immer wieder von rechten - und teilweise auch linken oder liberalen - Politiker_innen in die Welt gesetzt, um damit eine restriktive Einwanderungspolitik zu legitimieren. Dadurch werden Menschen nicht mehr als Individuen wahrgenommen, sondern auf ihren ökonomischen Nutzen für die privilegierte Bevölkerung bzw. die Dominanzgesellschaft reduziert. In diesem Denkmodell bedingt die forcierte Zuwanderung ausgewählter Migrant_innen - zum Nutzen der Wirtschaft - die konsequente Abschottung und Abschiebung der zu ‚Unerwünschten‘ erklärten Menschen. Um für diese Maßnahmen die notwendige Zustimmung der Öffentlichkeit zu erhalten, werden Feindbilder und "Sündenböcke" geschaffen und Menschen zur Bedrohung des allgemeinen Wohlstandes erklärt. Und genau diese Politik führt zu einer Spaltung der Gesellschaft: In jene, die dieser Politik zustimmen auf der einen Seite und auf der anderen Seite jene, die dadurch ausgeschlossen werden und die, die dieser Spaltung der Gesellschaft nicht zustimmen. Doch genau diese Spaltung der Gesellschaft, die rund um die Wahl des Bundespräsidenten sichtbar wurde, wird nun negiert. Dabei bedient sich die Politik die FPÖ ebenso wie der Politik der ÖVP unter Sebastian Kurz dem rechtsextremen Konzept der "Volksgemeinschaft", auf das weiter unten näher eingegangen wird.


Geschürte Angst


Kurz schürt die Angst vor dem Fremden und lenkt damit von den eigentlichen Problemen in Österreich ab: Der sozialen Ungleichheit, die sich durch die von ihm vorgelegten Wirtschaftskonzepte und geplanten sozialen Einschnitte massiv verstärken wird. Damit betreibt er ein Spiel mit dem Feuer, das wenn einmal entfacht, nur schwer zu löschen sein wird. Er treibt eine gesellschaftliche Spaltung voran, und leugnet diese gleichzeitig, indem er die "völkische Einheit" beschwört, jedoch ohne diese beim Namen zu nennen. Der Mechanismus, den er dabei benutzt ist wohlbekannt und der einzige "Inhalt", den er massiv vertritt: Die Migrant_innen seien an allem schuld, die "Zuwanderung ins Sozialsystem", die er stoppen wolle, das größte Problem. Damit kanalisiert er die "Sorgen und Ängste" der Bevölkerung und findet einen Sündenbock für alle Missstände in diesem Land. Entweder die Migrant_innen und Flüchtlinge selbst, oder jene, die dafür verantwortlich seien, dass diese unkontrolliert ins Land kommen: Fluchthelfer_innen ebenso, wie die Vertreter_innen der von ihm kritisierten Willkommenskultur. Und genau dieses Problem, die "unkontrollierte" Zuwanderung, will er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln stoppen.

Kurz verweist gerne auf seine tollen Leistungen. Insbesondere der ständiger Verweis auf die angeblich von ihm geschlossene Balkanroute und das Vorhaben, dies mit der Mittelmeerroute ebenso zu tun, soll ihn als Garant für seine große Aufgabe ausweisen: Den "Stopp der illegalen Migration" nach Europa bzw. Österreich. Er beschränkt sich jedoch keineswegs auf den Stopp der Migration aus Drittstaaten, sondern will auch die Zuwanderung von EU-Bürger_innen, insbesondere aus den ärmeren Staaten im Osten, einschränken. Die Mobilität sei ihm wichtig, denn es soll weiter möglich sein, in anderen EU-Staaten zu arbeiten und zu studieren, doch dass Menschen nach Österreich migrieren, weil es hier ein besseres Sozialsystem gäbe, das will er stoppen. Er nennt diese Politik den "Weg zu neuer Gerechtigkeit". Und setzt dabei auf Eigenverantwortung und eine Gesellschaft, in der jene profitieren sollen, die etwas leisten. Welche Leistungen er damit meint, das wird nicht so klar. Er erwähnt zwar immer, dass er die Lohnnebenkosten bei kleinen und mittleren Einkommen reduzieren will, doch stellt sich die Frage, wer davon mehr profitiert: Die Unternehmer_innen, Wirtschaftsbosse und Konzerne, oder die Arbeitnehmer_innen selbst, von denen gleichzeitig mehr "Eigenverantwortung" abverlangt wird. Die Verbindung von Eigenverantwortung mit einer populistischen Haltung zum Thema Migration macht deutlich, dass sich bei Kurz rechtsextreme mit neoliberalen Ansätze vermischen.

Kurz betreibt ein übles Spiel mit den "Sorgen und Ängsten" der Menschen, in dem er soziale Probleme wie die Bedrohung von Arbeitsplätzen auf Migration reduziert. Er schiebt den Anderen die Schuld für die "Missstände im Land" in die Schuhe und unterstellt diesen Anderen noch dazu ein Eigeninteresse, das jenem der österreichischen Gesellschaft entgegen gestellt sei. Damit kommen wir langsam aber sicher zur Beantwortung der drei weiter oben gestellten Fragen und entfernen uns wieder von der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Kurz-sichtigen Argumenten des neuen ÖVP-Obmannes und begeben uns auf die Ebene des allgemeinen Diskurses, der von vielen Seiten und in allen Ländern der EU insbesondere seit der Migrationsbewegung von 2015 und 2016 verstärkt geführt wird.


Wessen Ängste sind hier gemeint?


Der ständige Verweis auf die "Sorgen und Ängste der Menschen", die ernst genommen werden sollten, meint die Ängste der Menschen, die zum "Wir" gezählt werden. Die Europäer_innen, die "echten", die Österreicher_innen, die "echten", die "Volksgemeinschaft", wie es die Nazis seit Jahrzehnten nennen. Die zunehmende Argumentation fast aller politischer Parteien trägt ihre Wurzeln vor allem im Erstarken des Rechtsextremismus und der Übernahme rechtsextremer Positionen, eine Entwicklung, die seit Jahrzehnten zu beobachten ist. Die Südenbockpolitik wird zur Konstruktion der "Volksgemeinschaft" benötigt, die sich vor allem über die Abgrenzung zum Fremden definiert. Das Konzept des "Volkes" bzw. der damit verbundenen "Gemeinschaft" argumentiert mit einer "völkisch-kulturellen Identität und traditionellen Lebenszusammenhängen. Hieraus resultiert die vergleichsweise Nichtigkeit des einzelnen, der sein Denken und Handeln zuallererst an den natürlichen und als solche für jedermann erkennbaren Bedürfnissen des Volkes zu orientieren habe. Nicht so sehr Rechte, sondern vor allem Pflichten definieren seine Position in der Gemeinschaft." (Willibald Holzer: "Rechtsextremismus Konturen, Definitionsmerkmale und Erklärungsansätze" in DÖW: Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus, Wien 1993)

In der derzeit in Österreich geführten Debatte wird immer wieder auf die EU und die mit dieser in Verbindung gebrachten Probleme verwiesen. In Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit bedeutet dies: Die Armen sollen in den ärmeren Ländern (der EU) bleiben, soweit sie nicht als Arbeitskräfte benötigt werden. So soll den Konzepten von FPÖVP zufolge Kindergeld an im Ausland lebende Kinder entweder komplett gestrichen oder an das dortige Lohnniveau angepasst werden. Wird die Argumentation umgedreht und beispielsweise auf in der Schweiz lebenden Kinder von Leuten, die in Österreich Kinderbeihilfe beziehen, angewendet, würde das Kurz-sichtige Konzept Finanzminister und Steuerzahler_innen teuer kommen. Doch um die dreht es sich in den aktuellen Debatten nicht, denn diese ist längst Teil des ausgrenzenden Kanons geworden, in dem es kaum Widerspruch gibt. In den Kommentaren zum Fernsehduell zwischen Ulrike Lunacek und Sebastian Kurz auf Puls 4 wurde argumentiert, dass dieser gepunktet hätte, weil er "näher am Volk" sei, bzw. weil er es geschafft hätte, die Menschen "hineinzuholen" - eben und vor allem über den permanenten Verweis auf die Anderen, die er für soziale Probleme verantwortlich macht. Somit wird wiederum deutlicher, wessen "Sorgen und Ängste" gemeint sind.

Langsam aber sicher sollte der Zusammenhang mit Rassismus deutlicher werden. Denn dieser ist eng verbunden mit der Kategorisierung und Aufteilung von Menschen. Rassismus ist ein Instrument, mit dem Menschen auf Plätze verwiesen und mit unterschiedlichen Rechten versehen werden. Dass es keine "Menschenrassen" gibt, dass diese Einteilung Nonsens ist, sollte mittlerweile klar sein, der Rassismus bedient sich jedoch nach wie vor dieser Vorstellung und der damit verbundenen Stereotypisierung der Anderen - in Abgrenzung zum Eigenen, das sich über die Zuschreibung von (meist negativen) Eigenschaften von eben diesen frei spricht. Dies zeigt sich sehr deutlich über die Debatte rund um sexuelle Übergriffe, die vor allem Asylwerbern zugeschrieben werden. Dass sexuelle Übergriffe nach wie vor meist im familiären Umfeld statt finden, in der Mehrheitsgesellschaft ebenso wie unter Migrant_innen, wird nur ganz selten erwähnt.


Das weiße Herrentum


Und hier ist die "Angst vor dem Fremden" wieder zentral: Die ÖVP erkennt in ihrem Programm zwar, dass "Gewalt gegen Frauen und Kinder (...) ein mit Angst und Scham besetztes Tabu-Thema (ist). Die überwiegende Mehrheit der Gewaltakte gegen sie findet innerhalb der eigenen vier Wände statt." Die Lösungsvorschläge deuten aber darauf hin, dass einmal mehr gesellschaftliche Probleme instrumentalisiert werden. Durch den permanenten Hinweis auf sexuelle Übergriffe durch "Asylwerber", vor allem in Folge der Migrationsbewegungen von 2015 und 2016, wird vom eigentlichen Problem abgelenkt. Als wären alle weißen Männer in diesem Land von heute auf morgen geläutert. Als hätten sie über Nacht ihre männlichen Privilegien verloren. Die Konstruktion des "Wir" bedient sich der (negativen) Zuschreibung der Anderen: Diese werden als "rückständig" dargestellt und würden sich gegen die Emanzipation von Frauen richten. Die Zusammensetzung aus jung, männlich und muslimisch macht aus Flüchtlingen eine Bedrohung für die Sicherheit und ruft nach Maßnahmen zum "Schutz". Sei es nun der Schutz "unserer" Grenzen, der Schutz "unserer" Werte oder der Schutz "unserer" Frauen. Plötzlich entsteht etwas gemeinsames, dass die Unterschiede in der eigenen Gesellschaft verschwimmen lässt. Es zählt nicht mehr die Unterscheidung zwischen arm und reich, zwischen Mann und Frau oder gar zwischen homo und hetero bzw. jüdisch und christlich, was zählt ist das "Wir", dass sich von "denen" bedroht fühlt. Und diese Bedrohung ist eng verbunden mit irrationalen Ängsten. Damit sei nicht gemeint, dass die Gefahr von sexuellen Übergriffen keine Bedrohung für Frauen und Mädchen darstellt, sondern der Umstand, dass durch die Angst vor Übergriffen durch Asylwerber_innen die Bedrohung in den eigenen vier Wänden verharmlost wird. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn vom Schutz "unserer" Frauen geredet wird: Dadurch werden das Bild vom Mann, der "seine" Frau(en) beschützen muss, reproduziert und die Geschlechterverhältnisse zementiert.

Fremdzuschreibungen im Zusammenhang mit Sexismus dienen insbesondere als Abgrenzung zum Islam, wie z.B. der FPÖ Slogan: "Daham statt Islam" in Verbindung mit Bekleidungsvorschriften zeigt (siehe "Geschichten der Bekleidung" in :: Über Zäune springen, Grenzen überwinden! (30. Aug 2016)). Der Islam wird als antiemanzipatorische Religion gesehen, die nicht mit der jüdisch-christlich geprägten Kultur in Österreich (bzw. Europa) vereinbar sei. Auch diesem Argument liegen unter anderen rechtsextreme Ansätze zugrunde (mehr dazu u.a. im Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus.) Über die Abgrenzung vom Fremden wird das Eigene konstruiert. Und um eben dieses Eigene, das "Volk" und dessen "Sorgen und Ängste" dreht sich die ganze Debatte. Deshalb verwundert es auch nicht, dass Angela Merkel am Abend der Deutschen Bundestagswahlen eben diese "Sorgen und Ängste" für das starke Abschneiden der rechtsextremen AfD bei gleichzeitigen Verlusten für ihre eigene Partei verantwortlich machte. Um die Wähler_innen von der AfD zurück zu holen, werde ihre Partei in Zukunft diese "Sorgen und Ängste" noch mehr berücksichtigen.

Nachdem nachgegangen wurde, an wessen "Ängste" die Politiker_innen appellieren, stellt sich die Frage, um welche "Sorgen und Ängste" sich der ganze Diskurs eigentlich dreht.


Um welche Ängste geht es?


Es geht um Existenzängste ebenso wie um ideologisch geschürte Ängste und die angebliche Bedrohung des "eigenen Volkes". Durch die Bedrohung durch die Anderen wird dieses erst zum Gemeinsamen, verschwinden die gesellschaftlichen Unterschiede, denn jede_r die_der "dazugehört" hat einen (zugewiesenen) Platz in der Gesellschaft. Und dieser sei bedroht durch Zuwanderung, verbunden mit fehlender Integration und der Bildung von "Parallelgesellschaften". Oder durch den wegen (unkontrollierter) Zuwanderung bedrohten Arbeitsplatz bzw. der "Überforderung des Sozialsystems" aufgrund "ausufernder Sozialausgaben". Viele Menschen haben Angst, Privilegien zu verlieren (während gleichzeitig das Privileg von Luxuspensionen in Frage gestellt wird). Doch viele Menschen, die Ängste plagen, zählen nicht zu den Privilegierten in Österreich, viele haben selbst sog. Migrationshintergrund. Es gibt Unsicherheiten in ganz vielen Aspekten, die alle aufzuzählen den Rahmen hier bei weitem sprengen würde.

Doch ein Punkt ist sicher von Bedeutung: Viele Menschen haben davor Angst, sich den realen Problemen zu stellen. Oder sie sind unzufrieden und sehen keinen Ausweg und keine Alternative. Und vielleicht ist es gerade diese Perspektivlosigkeit, die entweder zugänglich macht für rechten Populismus, oder die Menschen dazu veranlasst - sei es nun aus Protest oder auch nicht - rechte Parteien zu wählen. Denn diese versprechen ihnen eine Veränderung, die sie von den etablierten Parteien nicht mehr erwarten. Und eben diese angebliche Unzufriedenheit gepaart mit dem Wunsch der Veränderung macht sich die "neue" Volkspartei zu nutze. Selbst eine etablierte Partei, die seit Jahrzehnten ununterbrochen in der Regierung sitzt, gibt sie nun vor, eine Bewegung zu sein, die sich von den alten Parteistrukturen loslöst. Sie redet von einen neuen Stil, verpasst sich einen neuen Anstrich und ein jugendliches Image, das die Fähigkeit der Veränderung verspricht. Dabei wird voll auf rechten Populismus und Angstmache gesetzt. Als DIE Lösung wird der Stopp der "unkontrollierten" Zuwanderung bzw. der "illegalen" Migration angeboten, als ob damit alle Probleme zu lösen seien.

Ob sich Menschen manipulieren lassen und auf rechte Populist_innen hereinfallen, dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Vor allem jene, die sich als "unanfällig" für rassistische Hetze begreifen, unterstellen gerne den "weniger gebildeten" eine rassistische Haltung. Doch stellt sich die Frage, was die Aussage durch die politischen Mitwerber_innen, die Wähler_innen der FPÖ seien entweder Rassist_innen oder würden diese nur aus Protest wählen, bezwecken soll(te)? Soll(te) dies vom eigenen Rassismus freisprechen? Und warum wird jetzt eben mit rassistischen Argumenten um eben diese Wähler_innen geworben? Geben sie damit Strache recht, der sagt, die anderen würden die Konzepte der FPÖ kopieren?

Was unterscheidet die Parteien wirklich? So gut wie alle bedienen sich rassistischer Argumentationen, doch die ÖVP treibt es derzeit auf die Spitze. Der Rechtspopulismus, mit dem in den vergangenen Jahren und speziell im laufenden Wahlkampf gearbeitet wird, soll die Volkspartei wieder an die Spitze bringen, verbunden mit einem klaren Führungsanspruch. Der permanente Verweis auf das Thema Migration - in jedem Zusammenhang - hat eine ähnliche Funktion, wie die unzähligen Medienberichte, die voll sind mit Zuschreibungen und Vorurteilen: Die Wiederholung, das immer wiederkehrende Reden über die "bösen Ausländer_innen" bzw. Flüchtlinge zeigt Wirkung. Um so größer wird die Bedeutung der ideologisch geprägten Ängste. Während die religiösen Werte des Christentums mehr und mehr verloren gingen, sei die Gesellschaft durch eine angeblich "Islamisierung" bedroht. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Es drohe der oft beschworene "Untergang des Abendlandes".

Verstärkt werden diese ideologisch geprägten Ängste mit dem sehr einseitigen Blick auf Terrorismus: Überall in Europa brennen Unterkünfte von Geflüchteten, der Terror gegen Migrant_innen und deren Unterstützer_innen sowie gegen Andersdenkende nimmt massiv zu. Dies wird jedoch ständig verharmlost. Gleichzeitig wird jede nur irgendwie mit "islamistischen Terror" in Verbindung zu bringende Tat medial groß aufbereitet. Selbst dann wenn gar kein Zusammenhang besteht, wie in den eingangs geschilderten Fernsehnachrichten. Ständiges Wiederholen lässt die vermeintliche Einsicht entstehen, "wir" müssten mit der Bedrohung durch den (islamistischen) Terror leben, wie zuletzt, als in der Londoner Metro eine Brandbombe mehrere Menschen verletzte. Gleichzeitig wird Menschen, die vor der unmittelbaren Bedrohung durch den "Islamischen Staat" aus Ländern wie Afghanistan oder Pakistan fliehen, Asyl verweigert und viele werden in ebendiese unsicheren Länder abgeschoben (mehr dazu :: hier). Dies verdeutlicht einmal mehr, um wessen und welche Ängste es sich hier dreht.

In Europa wird nicht die Angst vor einer Entwicklung der Gesellschaften in eine autoritär-faschistoide Richtung mit allen ihren Begleiterscheinungen in den Blick gerückt (siehe :: Wegbereiter_ innen des Faschismus), sondern die Bedrohung von Außen. Wie bei der Konstruktion des Eigenen über die Abgrenzung vom Fremden dient dies dazu, alles Böse den Anderen zuzuschreiben. Das sich Abfinden mit dieser Bedrohung und die Einsicht, dass "wir" damit leben müssen, bedeutet auch, mit Überwachung und ständiger Polizeipräsenz leben zu müssen, mit einer Einschränkung der individuellen Freiheiten. Ein Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa kann durchaus dienlich sein: Die Überwachung der Gesellschaft, die Polizeipräsenz (vor allem in Großstädten) und der gesellschaftliche Rechtsruck sind weit mehr bedrohlich für die Sicherheit, den Frieden und die Freiheit in Europa, als die Gefahr durch den "Islamischen Staat". Warum wird der rechte Terror ausgeblendet oder verharmlost und entpolitisiert, als handle es sich hierbei immer nur um Einzeltäter_innen? Denn es ist gerade der faschistoide, der rassistische und insbesondere gegen Flüchtlinge und Muslim_innen, deren Unterstützer_innen sowie gegen Andersdenkende gerichtete Terror, der eine massive Bedrohung für eine freie Gesellschaft darstellt.

Und welche_r es nicht bemerkt hat: Wir befinden uns bereits mitten in der Auseinandersetzung mit der dritten der eingangs gestellten Fragen:


Warum werden gerade diese Ängste herangezogen?


Wobei wir wieder beim Sündenbockdenken angelangt sind, ebenfalls zentraler Teil rechtsextremer und faschistoider Konzepte. Im folgenden wird ein Punkt herausgegriffen, um ihre Funktion von "Sündenböcken" verständlich zu machen.

Bei der Begründung des Zuganges zu Sozialleistungen weist die ÖVP in ihrem Parteiprogramm dezidiert auf die Lohnunterschiede zwischen Österreich und Rumänien hin. Ob dies ein Zufall ist? Bei Betrachtung der Personenfreizügigkeit in der EU und ihren Einschränkungen, wird mensch sehr bald auf Rumänien stoßen. Denn Rumänien ist einerseits ein Land mit einem niedrigen Lohnniveau und wird andererseits nach wie vor mit Sinti und Roma in Verbindung gebracht.

"Der Rassismus gegen Roma ist in Europa allgegenwärtig. In den vergangen Jahren wurde vor allem die Ausgrenzung in den osteuropäischen Ländern immer wieder thematisiert, doch hat diese Ausgrenzung in ganz Europa eine lange und grausame Geschichte. Ein Teil dieser Geschichte ist die rassistische Zuschreibung, die Menschen als Roma definiert und sie gleichzeitig mit zahlreichen Stereotypen belegt", ist in einem Artikel aus dem Jahr 2008 rund um die "Rassistische Diskriminierung in Europa und die Erfassung von Roma" (no-racism.net/article/2629) in Italien zu lesen. Diese Stereotype sind wohl vielen bekannt, denn auch in Österreich sind Roma mit diskriminierenden Zuschreibungen behaftet. Eine davon ist der Mythos, Roma würden nicht arbeiten wollen. Hier vermischt sich die Vorstellung einer "Leistungsgesellschaft" mit rassistischen Mythen. Und genau darum dreht es sich auch im "neuen Weg" der ÖVP: Der ständige Verweis auf die "Zuwanderung ins Sozialsystem" ist kein Zufall. Zum Vorhaben, Sozialleistungen erst jenen zukommen zu lassen, die bereits über einen längeren Zeitraum ins System eingezahlt haben, ist im Programm von Kurz auf Seite 68 zu lesen: "Wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass unser Wohlfahrts- und Sozialstaat hart erarbeitet werden muss. All jene, die fleißig arbeiten und ihre Steuern zahlen, erhalten unser System aufrecht. Diese Solidarität funktioniert aber nur, wenn das System auch gerecht ist und nicht ausgenützt wird. Weder innerhalb Österreichs noch innerhalb Europas." Die Mindestsicherung für Flüchtlinge, aber ebenso die Sozialleistungen für Menschen aus "ärmeren" EU-Ländern zu kürzen bedeutet, die Einkommensunterschiede in den jeweiligen Ländern zu akzeptieren, anstatt auf eine Änderung hinzuarbeiten. Die Rede von der Entwicklungszusammenarbeit, die Menschen von der Migration abhalten soll, ist ein Hohn. Notwendig wäre die Beendigung der globalen, kapitalistischen und kolonialistischen Ausbeutung. Doch daran haben die Politiker_ innen, die die Interessen der (Export- wie Import-)Wirtschaft vertreten, kein Interesse. Wie es aussieht, nicht einmal innerhalb der EU.

Ein weiterer Punkt, der die Personenfreizügigkeit betrifft, verdeutlichten die Ereignisse im Jahr 2010 in Frankreich (no-racism.net/article/3502). Obwohl Bürger_innen der EU und somit über das Recht der Personenfreizügigkeit verfügend, kam es zu Räumungen von Romasiedlungen in und Abschiebung von Roma aus Frankreich. Überall in Europa gab es Proteste gegen dieses Vorgehen, was den damaligen Präsidenten Sarkozy aber kalt ließ. Er rechtfertigte die Räumung der "illegalen" Roma-Lager damit, dass diese ein Hort von "Menschenhandel und Kriminalität" seien.

"Dass es sich dabei um EU Bürger_innen handelt, für die das Prinzip der Freizügigkeit gilt, führte in der Folge dazu, dass Frankreich ankündigte, die Gesetze zu ändern, um Menschen, denen unterstellt wird, das Recht der Freizügigkeit 'widerrechtlich' in Anspruch zu nehmen, in Zukunft einfacher des Landes verweisen zu können. Auch hier bedienen sich die Schreibtischtäter_innen rassistischer Argumente und geben vor, dass der Kampf gegen Kriminalität und Verbrechen dieses Vorgehen rechtfertigen würde. Alles im Sinne der 'nationalen Sicherheit', die Sarkozy bei seiner Anti-Kriminalität-Kampagne immer wieder beschwört."

Dies alles erinnert sehr an die aktuellen Auseinandersetzungen im österreichischen Wahlkampf. Immer wird auf Ängste gesetzt, verbunden mit klaren politischen und wirtschaftlichen Interessen.

Doch immer dann, wenn Politiker_innen die Freiheit einschränken wollen, regt sich auch Widerstand. So wurde bei einer Kundgebung im September 2010 vor dem Haus der Europäischen Union in Wien "gefordert, dass Roma_Romnia in allen Ländern wie Staatsbürger_innen behandelt werden." Eine Forderung, die nicht vergessen werden sollte. Denn allen Menschen sollte klar sein: Wenn erst mal die Rechte und Freiheiten einer Gruppe beschnitten und eingeengt werden, dann ist der Weg zur Begrenzung der Freiheiten weiterer Gruppen nicht weit.