Quellenangabe:
Mehr Sicherheit um jeden Preis (vom 30.08.2010),
URL: http://no-racism.net/article/3481/,
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[30. Aug 2010]
Das Stockholmer Programm der Europäischen Union. Artikel von Christine Wicht.
"Flüchtlingsbekämpfung" wurde bekanntlich nicht zum Unwort des Jahres 2009 gewählt, gelangte aber zumindest auf den zweiten Platz der "sprachlichen Missgriffe". Dabei war es niemand geringeres als Bundeskanzlerin Angela Merkel, die mit dieser Wortschöpfung zu Beginn des letzten Jahres den deutschen Beitrag an Europas Grenzen würdigte.
Im ersten Moment mag die menschenfeindliche Vokabel wie ein Lapsus wirken; immerhin könnte sie dem Jargon der extremen Rechten entstammen. Tatsächlich aber steht sie für die programmatischen Zukunftsstrategien der europäischen Migrations-, Justiz- und Innenpolitik und für die zunehmend härtere Gangart der EU-Staaten bei ihrer Abschottung nach außen und der Überwachung nach innen.
Mit dem im Dezember 2009 auf der Stockholmer Sicherheitskonferenz beschlossenen Maßnahmenkatalog strebt die EU die Einrichtung einer einheitlichen europäischen Sicherheitsarchitektur und einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger[_innen]" an. Diese "Sicherheits- und Rechts-Agenda" für die Jahre 2010 bis 2014 ist zwar bislang lediglich eine Absichtserklärung, die in Richtlinien oder Gesetze umgesetzt werden muss, um rechtswirksam zu werden, hat aber in der gegenwärtigen politischen Großwetterlage gute Chancen, implementiert zu werden.
Gemäß dem "Prinzip der Verfügbarkeit" soll der Informationsaustausch zwischen den nationalen Sicherheitsbehörden erheblich vereinfacht werden. Nationale Datenbanken sollen innerhalb der EU zentral vernetzt und den Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten frei zugänglich gemacht werden.
Diese weitreichenden Beschlüsse der Europäischen Union sind in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbeachtet geblieben, da sich die Medien auf den zeitgleich stattfindenden Umweltgipfel in Kopenhagen konzentrierten. Mit fatalen Folgen: Schließlich wissen die EU-Bürger_innen nicht, welche Informationen im Zuge der Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung gespeichert werden, wer genau Zugriff auf diese Daten erhält und nach welcher Zeitspanne deren Löschung vorgesehen ist.
Unter anderem legt das Mehrjahresprogramm die flüchtlingspolitische Agenda der EU für die nächsten fünf Jahre fest. Damit wird der bereits zuvor eingeschlagene politische Kurs der Einmauerung, Überwachung und Kontrolle erheblich verschärft - mit nicht selten tödlichen Konsequenzen.
Seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt die Europäische Union kontinuierlich die militarisierten Kontrollen an ihren Außengrenzen. Mit dem Stockholmer Programm plant sie nun den Ausbau des Europäischen Grenzüberwachungssystems ("Eurosur"). Mit Hilfe von Satelliten, Überwachungskameras in Flugzeugen und Drohnen soll Eurosur die europäischen Grenzen sichern und die gesammelten Daten innerhalb der EU weiterleiten. Auch die europäische Grenzschutzagentur "Frontex", spezialisiert auf militärische Flüchtlingsabwehr in der Mittelmeer-Region, soll ausgebaut werden, um in einem "lückenlosen" Überwachungsnetz illegalisierte Flüchtlinge aufzuspüren.
Dennoch wird auch in den nächsten Jahren eine wachsende Zahl von Flüchtlingen die lebensgefährliche Überwindung der EU-Grenzen auf sich nehmen. Die katastrophale Situation in ihren Heimatländern und die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa lässt sie jedes Risiko in Kauf nehmen. Dessen ungeachtet sucht man im Stockholmer Programm vergeblich nach Lösungen, welche die Fluchtgründe bekämpfen. Stattdessen nimmt mensch - ganz im Geiste der "Flüchtlingsbekämpfung" - steigende Opferzahlen bei der Abwehr- und Festungspolitik bereitwillig in Kauf: Jahr für Jahr ertrinken hunderte, wenn nicht tausende Migrant_innen bei dem Versuch, die europäischen Grenzen unbemerkt auf dem Seeweg zu überwinden.
Damit die Flüchtlinge bereits vor den europäischen Grenzen abgefangen werden, finanziert die EU seit einigen Jahren Abschiebelager in Drittstaaten und trifft mit angrenzenden "Pufferstaaten" Vereinbarungen über die Rückführung von Migrant_innen. Bereits 2004 wurde das Konzept der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) entwickelt, welches Visa- und Handelserleichterungen sowie spezielle Förderprogramme für die Nachbarstaaten der EU vorsieht. Im Gegenzug verlangt die Europäische Union von ihren Anrainer_innen eine verlässliche Grenzsicherung und die Einhaltung von Rückübernahmeabkommen.[1] So wird beispielsweise die :: Ukraine im Zeitraum von 2007 bis 2010 mit 494 Mio. Euro gefördert, wovon 30 Mio. Euro ganz gezielt zur Etablierung von neuen Internierungslagern für Flüchtlinge bereitgestellt werden.[2]
Um die Flüchtlingsabwehr an den Grenzen zu intensivieren, sieht das Stockholmer Programm vor, Geheimdiensten den Zugriff auf bisher lediglich polizeilich genutzte europäische Datenbanken zu ermöglichen und die Informationssysteme innerhalb der Union in der "Agentur zum Betriebsmanagement von IT-Großsystemen" zusammenzuführen und zu verknüpfen.[3] Zur Bewältigung des Datenflusses wird die Schaffung einer Verwaltungsbehörde unter dem Kommando von Europol und Frontex angestrebt, damit die geplante "Interoperabilität von IT-Systemen vollständig datenschutzkonform" verlaufe. Die Polizei- und Sicherheitsbehörden aller Mitgliedstaaten erhielten damit Zugang zum :: Schengener Informationssystem (SIS), zum Zollinformationssystem (ZIS), zum :: Visa-Informationssystems (VIS) und zur :: EU-FingerabdruckDatenbank für Asylbewerber_innen (Eurodac).
Insbesondere der erweiterte Zugriff auf die verknüpften Datenbanken wird von europäischen Bürgerrechtler_innen heftig kritisiert. Vor allem der unkontrollierte Zugriff von Geheimdiensten auf sensible Daten wird in Deutschland aufgrund der Erfahrung mit der Gestapo problematisch gesehen. Eine Diskussion um das Trennungsgebot von Militär, Polizei, Grenzschutz und Geheimdiensten wird zunehmend theoretisch, wenn die Aufgabenfelder sich teilweise überlagern und ursprünglich nachrichtendienstliche, "heimliche" Ermittlungsmethoden europaweit auch den Polizeibehörden zur Verfügung stehen. Zudem befürchten Datenschützer_innen infolge der Etablierung dieses gigantischen Informationsverbundes erhebliche Datenschutzverstöße.
Ein ähnlicher Paradigmenwechsel wie in der Datenkontrolle vollzieht sich in der Terrorabwehr, wo nach dem Stockholmer Programm ebenfalls die Vernetzung bislang getrennter Datenbanken vorgesehen ist. Konkret soll die geheimdienstlichen Erkenntnisse der Gemeinsamen Lage- und Analyseabteilung SitCen[4] zukünftig dem Europäischen Rat, der EU-Kommission, Europol und Eurojust zugängig sein. Nach dem Vorbild des seit 2004 in Deutschland bestehenden Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) sind ähnliche Einrichtungen in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten geplant. In die Arbeiten des GTAZ sind der Bundesnachrichtendienst, die Kriminal- und Verfassungsschutzämter der Länder, die Bundespolizei, das Zollkriminalamt und der Militärische Abschirmdienst eingebunden.
Des Weiteren haben sich die EU-Innenminister_innen Ende November 2009 für die Verlängerung des umstrittenen Swift-Abkommens ausgesprochen, das US-Ermittler_innen den Zugriff auf europäische Kontenbewegungen erlauben soll. Das in Belgien beheimatete Finanzdienstleistungsunternehmen "Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunications" (Swift) sammelt Informationen über Finanztransaktionen von rund 7800 Banken, Brokerhäusern, Börsen und Finanzinstituten in aller Welt. Das bis Ende Oktober 2010 gültige Interimsabkommen ist am 1. Februar in Kraft getreten; am 11. Februar legte das EU-Parlament jedoch sein Veto ein und lehnte das heftig umstrittene Abkommen mit deutlicher Mehrheit ab. Der Swift-Vertrag wurde daraufhin vorläufig ausgesetzt.
Auch die zuvor von der Deutschen Ratspräsidentschaft erhobene Forderung nach einer umfassenden Überwachung des Internet und einer Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden der Mitgliedstaaten in diesem Bereich taucht erneut im Stockholmer Programm auf. Die Kapazitäten sollen auch hier aufgestockt werden, um eine bessere Kontrolle des World Wide Web hinsichtlich "terroristischer Aktivitäten" innerhalb der EU zu gewährleisten. Es ist zu befürchten, dass die Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung genutzt wird, um einer umfassenden Internetzensur den Weg zu bereiten, wie dies bereits die Diskussionen in Frankreich und der Bundesrepublik im vergangenen Jahr zeigten.
Gerade der vereitelte Terroranschlag auf den Airbus A 330 von Amsterdam nach Detroit im Dezember 2009 machte jedoch deutlich, dass kein Mangel an Daten, sehr wohl aber an einer effizienten Bewertung der vorliegenden Informationen besteht. Dennoch sieht die EU offenbar keinen anderen Weg, als rund 500 Millionen EU-Bürger_innen unter Generalverdacht zu stellen, sie zu überwachen sowie ihre personenbezogenen Daten zentral zu sammeln und auszuwerten. Auf diese Weise werden demokratische Grundrechte über Bord geworfen, die die wesentliche Errungenschaft insbesondere europäischer Geschichte darstellen.
Mit dem Stockholmer Programm verschwimmt aber nicht nur die Grenze zwischen Terrorbekämpfung und Flüchtlingsabwehr, sondern auch zwischen zivilen außenpolitischen und militärischen Aufgaben. Künftig soll die Zusammenarbeit von Militär, Polizei und Entwicklungshilfeorganisationen bei Auslandseinsätzen verstärkt werden.
Bereits im September 2004 hatten sich die EU-Mitgliedstaaten Italien, Spanien, Frankreich, Portugal und die Niederlande vertraglich auf die Gründung einer "Europäischen Gendarmerietruppe" (EGF) geeinigt. Inzwischen hat auch Rumänien diesen Vertrag unterzeichnet und Polen hat ein Partnerschaftsabkommen mit der EGF vereinbart.[5] Das Stockholmer Programm sieht nun vor, die Gendarmerietruppe in den Rechtsrahmen der EU zu überführen. Damit könnte die EGF in ganz Europa tätig werden.
Bei der EGF handelt es sich um ein bis zu 3000 Mann starkes Soldatenheer, das mit zivilen Aufgaben beauftragt ist, aber auch Aufstände in Krisenregionen inner- und außerhalb Europas niederschlagen kann und soll. Die paramilitärische Truppe arbeitet eng mit der Grenzschutzagentur Frontex zusammen, etwa wenn sie im Mittelmeer Flüchtlingsboote mit Küstenschutzbooten, Hubschraubern und Flugzeugen an der Landung hindern und aufs offene Meer abdrängen. Auch wenn die bundesdeutsche Polizei der EGF noch nicht beigetreten ist, kooperiert sie doch bereits mit polizeilichen und militärischen Einheiten anderer Staaten - etwa im Kosovo und in Afghanistan. Nach Angaben des Europäischen Rats unterstützt die EGF am Hindukusch im Rahmen der NATO-Ausbildungsmission-Afghanistan (NTM-A) unter anderem den Aufbau polizeilicher Infrastrukturen.[6]
Der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (Venro) übt heftige Kritik an der Vermengung ziviler und militärischer Aufgaben: Wenn Soldat_innen zunehmend Aufgaben im Bereich des Wiederaufbaus und der Nahrungsmittelhilfe übernehmen, gefährden sie damit auch die unabhängigen humanitären Hilfsorganisationen, deren Arbeit sich nicht nach politischen (und schon gar nicht nach militärischen) Erwägungen richtet, sondern allein dem "humanitären Imperativ" verpflichtet ist.[7]
Neben der Flüchtlings- und Terrorismusbekämpfung nehmen die EU-Innenminister_innen mit ihrem Fünf-Jahres-Plan schließlich auch die Kriminalitätsverfolgung ins Visier. Zum Zwecke der grenzübergreifenden Verbrechensbekämpfung wurde beschlossen, dass Europäische Strafregisterinformationssystem (ECRIS) auszuweiten und einen Index von Straftätern aus Drittstaaten (EICTCN), einen europäischen Kriminalaktennachweis (EPRIS) sowie ein Europäisches Netz zur Kriminalitätsverhütung (EUCPN) einzurichten. Das EUCPN ist ein Beobachtungszentrum für Verbrechensprävention, in welchem alle EU-Daten zu Verbrechen gesammelt und statistisch ausgewertet werden. Es verfügt zudem über ein Sekretariat, das an Europol angeschlossen werden soll. In Kooperation mit der europäischen Polizeibehörde sollen dann mit Hilfe von Data-Mining-Programmen, die das Durchsuchen gigantischer Datenbestände erlauben, Prognosen über zukünftige Straftaten erstellt werden.
Darüber hinaus hat die EU-Kommission im November 2009 das Grünbuch zur "Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat" angenommen. Dabei handelt es sich um ein umfassendes System zur Erlangung von Beweismitteln in grenzüberschreitenden Straffällen.
Im Zuge der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität wird zudem die bereits bestehende elektronische Vernetzung der nationalen Strafregister (e-justice) angestrebt. Zudem verfolgt die EU den Plan, die Bestimmungen für Strafermittlungen zu vereinfachen, wenn diese im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeführt werden. Wurde bisher in Verträgen geregelt, welche Informationen unter welchen Bedingungen zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden dürfen, geht das jetzt zur Geltung kommende "Prinzip der Verfügbarkeit" davon aus, dass sämtliche Daten ohne Einschränkungen weitergegeben werden können.[8] Datenschützer_innen kritisieren daher zu Recht, dass es sich bei diesen Daten um sensible Informationen handeln könne und bisher nicht geklärt sei, wie die EU einen sicheren Schutz vor dem Zugriff Unbefugter gewährleisten wolle.
Des Weiteren planen die EU-Innenminister_innen, eine Strategie nach den entsprechenden Bestimmungen des :: Prümer Vertrags auszuarbeiten, um den Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Der Prümer Vertrag sieht vor, dass Polizei- und Strafverfolgungsbehörden direkt auf bestimmte Datenbanken, etwa DNA-Analysen, zugreifen können, die von den Behörden der anderen Vertragsstaaten geführt werden. Persönliche Identifikationsdaten, Ergebnisse von DNA-Analysen, Fahrzeugregisterdaten, Telekommunikationsstandards- und Verbindungsdaten sowie Identifizierungs- und Personenstandsdaten können damit grenzübergreifend und ohne richterlichen Vorbehalt ausgetauscht werden. Zudem sieht der Prümer Vertrag innerhalb der Unterzeichnerstaaten gemeinsame Einsatzformen vor, wie beispielsweise die Durchführung gemeinsamer Polizeistreifen, das grenzüberschreitende Eingreifen zur Gefahrenabwehr sowie die Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf Polizeibeamte anderer Vertragsstaaten.
Da der Prümer Vertrag lediglich ein zwischenstaatliches Abkommen ist (geschlossen zwischen derzeit zehn EU-Mitgliedstaaten und Norwegen), agieren die Unterzeichnerstaaten bisher bewusst außerhalb des EU-Rechtsrahmens, das heißt sie umgingen mit dem Vertragsschluss bewusst die formellen Strukturen und Rechtsprinzipien der EU sowie das Einstimmigkeitsprinzip auf Minister_innenratsebene in der Europäischen Union.
Bereits auf der EU-Tagung im Juni 2008 einigte sich der Minister_innenrat der europäischen Innen- und Justizminister_innen - unter deutschem Vorsitz , zentrale Teile des Vertrags von Prüm in EU-Recht zu überführen. Damit werden sämtliche Mitgliedstaaten verpflichtet, Datenbanken für die automatisierte Datenübertragung zwischen den EU-Staaten einzuführen. Auf diese Weise erhält jeder EU-Mitgliedstaat Zugriff auf sämtliche Daten.
Um Europol zu stärken, sieht das Programm vor, Beamt_innen der Mitgliedstaaten in gemeinsame Ermittlungsgruppen einzubeziehen und die nationalen Datenbanken aller Mitgliedstaaten auch Europol und Eurojust zugänglich zu machen. Darüber hinaus soll die Kopplung verschiedener Polizeien künftig mit Hilfe eines Ad-hoc-Netzes vereinfacht werden. Auf diese Weise können mobile Geräte, wie Handys oder Notebooks, in einem Datennetzwerk Informationen austauschen, ohne dass dafür eine übergeordnete Netzinfrastruktur erforderlich ist. Überwachungskameras und Bewegungsmelder sollen die von ihnen gesammelten Daten fortan ebenfalls selbständig in dieses Netz senden können. Eigenen Angaben zufolge will der Hersteller IABG das dafür entwickelte mobile Ad-hoc-Kommunikationssystem HiMoNN[9] künftig auch mit den Galileo-PRS-Signalen (GPS) koppeln. Damit könnten die Sicherheitskräfte Automobile mit "verdächtigen" Personen jederzeit orten. Das neue System soll während der Olympischen Sommerspiele 2012 in London erstmalig getestet werden und fortan bei sportlichen Großereignissen und Demonstrationen zum Einsatz kommen.
Schließlich zielt das Stockholmer Programm auf eine zentrale Errungenschaft des europäischen Integrationsprozesses ab - die Reisefreiheit der EU-Bürger_innen. Während seiner Amtszeit als Bundesinnenminister behauptete Wolfgang Schäuble, dass die Schengen-Erweiterung ein "Mehr an Freiheit und zugleich ein Mehr an Sicherheit" bedeute.
Tatsächlich bescherte das Schengen-Abkommen den EU-Bürger_innen erleichterte Grenzüberquerungen, nämlich ohne zeitaufwändige Passkontrollen. Doch das Schengener Informationssystem ist schon längst :: keine einfache Datenbank mehr, sondern legt den Schwerpunkt auf "Prävention und Erkennung von Bedrohungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit". Darüber hinaus ist künftig ein elektronisches Registriersystem für Reisen in und aus den Hoheitsgebieten der EU-Mitgliedstaaten vorgesehen. Ferner wird die Einführung eines europäischen Registriersystems für Reisende (RTP) geprüft. Mit einem so genannten "Entry-Exit-System" sollen Einreise-Informationen künftig elektronisch speichert und vernetzt werden. Auf diese Weise können beispielsweise abgelaufene Visa sofort erkannt und die zuständigen Behörden entsprechend alarmiert werden. Der herkömmliche Reisepass mit Stempel und Foto hat damit in Bälde ausgedient und der europäische Raum wird zwar ein grenzenloser bleiben, dafür aber umso schärfer überwacht und kontrolliert werden.
Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit setzen die EU-Mitgliedstaaten mit dem Stockholmer Programm ihre zunehmend repressive Politik in der Union fort. Das Programm der nächsten fünf Jahre stärkt die Festung Europa und erhöht die Überwachung der EU-Bürger_innen, deren Daten in unüberschaubaren Datennetzen gesammelt, gespeichert und verarbeitet werden, um auf diese Weise - so die Hoffnung der EU-Innenminister_innen - die Bürger_innen Europas so weit wie irgend möglich kontrollieren zu können.
Der Verdacht liegt nahe, dass hinter dem Stockholmer Programm auch die Angst der Regierenden vor den Folgen ihrer ungerechten Sozialpolitik und der Gefahr krisenhafter Zuspitzungen steckt. Steigende Arbeitslosigkeit, anhaltende Umverteilung von unten nach oben und wachsende soziale Benachteiligung am unteren Rand könnten in den EU-Staaten zu vermehrten sozialen Spannungen und politischen Protesten führen. Aufgrund der Regelungen von Stockholm könnten künftig Großdemonstrationen von enormen Überwachungsmaßnahmen, Polizei- und Militäraufgebot begleitet sein.
Die dramatische Gefährdung der Grundrechte durch die veränderte "Sicherheitsarchitektur" wird dagegen allzu leichtfertig mit dem Argument abgetan, dass wir in einer gesunden Demokratie lebten und ein Missbrauch durch staatliche Organe nicht möglich wäre. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsgewalt und der "Staatsmoral" werden unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung immer mehr aufgeweicht und die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit seit Jahren zugunsten der Sicherheit verschoben. Faktisch zahlen wir, als Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, den immensen Preis für diesen vermeintlichen "Sicherheitsgewinn" zu Lasten unserer Freiheit.
Die entscheidende Frage aber lautet: Was geschieht, wenn demokratiefeindliche Kräfte an Macht und Einfluss gewinnen und zur Erhaltung derselben und zur Bekämpfung ihrer Gegner_innen die zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung eingeführten Instrumente missbrauchen? Es wäre nicht das erste Mal, dass zivilgesellschaftlicher Protest selbst zum "Terrorismus" erklärt würde.
Tatsächlich aber befasst sich das Stockholmer-Programm weder mit den Ursachen des Terrorismus noch mit der Frage, warum Menschen Zuflucht in Europa suchen. Es kann deshalb auch das proklamierte Ziel, einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger[_innen]" zu schaffen, nicht erreichen. Wie sagte so schön Kommissionschef Barroso: Das Stockholmer Programm soll konkrete und greifbare Veränderungen für die Bürger_innen in der EU bringen. In der Tat: Dank des Stockholmer Programms werden Europas Bürger_innen sehr konkrete Einschränkungen ihrer Freiheit hinnehmen müssen.
[1] Vgl. http://ec.europa.eu/world/enp/policy_de.htm.
[2] Vgl. FRONTEX-Widersprüche im erweiterten Grenzraum, Informationsstelle Militarisierung, August 2009.
[3] Obwohl dieses Vorhaben von der deutschen Ratspräsidentschaft formuliert wurde, bestreitet die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion (BT Drs.4365) die Schaffung eines solchen Informationsverbundes (vgl. Jan Korte, Zeit für eine neue Bürgerrechtsbewegung. Ein Diskussions- und Arbeitspapier, Berlin 2007).
[4] EU Situation Centre, in dem die Informationen der Geheimdienste zusammengetragen und ausgewertet werden.
[5] Vgl. www.eurogendfor.org.
[6] Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes zu der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel (18./19.6.2009), S. 27.
[7] Vgl. Venro, Fünf Jahre deutsche Provincial Reconstruction Teams (PRTs) in Afghanistan: Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen, 2009.
[8] Vgl. www.datenschutzzentrum.de/polizei/060329-pruem.htm.
[9] Vgl. Highly Mobile Network Node, IABG, www.iabg.de/infokom/telekommunikation/himonn_de.php.
Dieser Artikel von Christine Wicht wurde zuerst in Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2010, :: blaetter.de und am 24. Mar 2010 auf :: eurozine.com veröffentlicht; hier bearbeitet von no-racism.net.