Eine Freundin gab mir dieses Buch mit dem Zusatz: Das ist eine Überraschung! Und wirklich, ich war wohl so überrascht von diesem Buch, wie die Hauptdarstellerin - und Namensgeberin der deutschen Übersetzung - vom "goldenen Norden".
Verlag: Deutscher Taschenbuchverlag, München, 1998
ISBN: 978-3-423-12519-2
Beschreibung:
Engl. Originalausgabe: The Tortilla Curtain, New York, 1995, 390 Seiten, ca. EUR 10
America, das ist der Name des in den 1990er Jahren geschriebenen Romans. Mit einigen Abstrichen (heute sind Handys und Smartphones längst Standard), lest sich das Buch wie die Realität, wie die Gegenwart, die einem heutzutage auf Europas Straßen begegnet.
America, das ist der Name einer Frau, die sich gemeinsam mit Candido, dem Vater ihres werdenden Kindes, Richtung Norden aufmacht. Das Bild, das sie aus Erzählungen, von den Männern, die aus dem Norden kommen und ihren Frauen und Kindern Geschenke machen, oder aus Telenovellas kennt, entspricht nicht dem, was sie erleben wird: Gejagt von Grenzschützer_innen und Einwanderungsbehörden, ausgebeutet, ausgeraubt, in der Gosse wohnend, vergwaltigt und dazu gezwungen, Müll zu essen. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist die Geschichte von Kyra, eine amerikanische Karrierefrau, die sich das Geld damit verdient, Immobilien für und an reiche Amis zu verkaufen, die in einer Siedlung am Stadtrand L.A.s wohnt, in die sich die Reichen zurückziehen - u.a. weil sie keine Mexikaner_innen wollen. Eine Frau, deren Mann neben seiner Tätigkeit aus Author - unterstützt von einem Dienstmädchen - den Haushalt schupft, auf das Kind aufpasst, das sie aus früherer Beziehung mitbrachte, das sie mit Essen verwöhnt. Eine liberale Kleinfamilie, der es an nichts fehlt.
Es ist eine Geschichte der Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Bezieungen, die aufgrund unterschiedlicher ökonomischer Lebensrealitäten unterschiedlicher nicht sein können.
"immerhin durchstreifte der Coyote diese Hügel schon, lange bevor der Homo sapiens auf diesem Kontinent seine ersten dürftigen Spuren hinterließ"
Es ist aber auch eine Geschichte von Coyoten, die Nordamerika bewohnten, lange bevor das erste Bleichgesicht seinen Fuß auf diesen Kontinent setzte.
"Beim zehnten Leserbrief hatte er seine Kolumne nachgelesen. Zweimal. Aber da war nichts. Sie kapierten es einfach nicht - sie lasen den Text nicht in dem Geiste, in dem er geschrieben war. Er sprach sich darin keineswegs für eine Kontrolle der Population aus - so etwas war nutzlos wie die Geschichte zu genüge belegte. Darauf hatte er ja auch hingewiesen. Er zeigte nur das Problem auf, stellte das Thema zur Diskussion. Natürlich waren nicht die Coyoten schuld, sondern der Mensch - hatte er das nicht klar zum Ausdruck gebracht?"
America ist eine Geschichte über Rassismus, Sexismus und Kapitalismus, über reich und arm, Liebe und Hass, über Ausbeutung und Unterdrückung, Mauern und Zäune, über Wanderer, Ausgrenzung, verschlossene Blicke und falsche Vorstellungen. Wo Wohlstand und Leid so nah beieinander liegen, zum Greifen nah. Eine Geschichte von Aufbruch und Untergang. Eine Geschichte, die den Privilegierten den Spiegel vor die Nase hält.
"Tja, und jetzt war er einer von denen. Er war der Hasser, er war der Spießer, der Rassist, der Geiferer. (...) Bei aller Ernüchterung, bei aller Scham und Zerknirschung konnte er doch nicht die bei diesem Gedanken aufflackernde Empörung unterdrücken - gewandert, dieser Scheißkerl -, andererseits fragte er sich: hätte er ebenso empfunden, wenn es zwei Weiße gewesen wären?"