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[ 22. Mar 2007 ]

Wieder fordert die Staatsgewalt ein Todesopfer - Bericht aus Remscheid

23-jährigem Flüchtling aus Guinea wird medizinische Versorgung verweigert. Er stirbt im Essener Krankenhaus. Flüchtlinge berichten über die Repressalien in der Stadt Remscheid und über ihre Erfahrungen. Diese widersprechen den Aussagen des Sozialdezernten.

 

Im Januar 2007 starb ein Flüchtling aus Guinea in einem Essener Krankenhaus. Der Flüchtling Mohammad, 23. Jahre alt aus Guinea lebte in einem Flüchtlingsheim für alleinstehende Männer in der Stadt Remscheid (NRW, Deutschland) mit anderen Flüchtlingen aus Afrika, Osteuropa und Asien. Anfang Januar klagten ihn Schmerzen. Er besuchte einen Arzt. Dieser verweigerte ihm die Behandlung und forderte ihn auf, sich beim zuständigen Sozialamt einen Krankenschein geben zu lassen und damit zu ihm zu kommen. Der Mitarbeiter des Sozialamts, Herr S., gab ihm mit der Begründung, er werde sowieso das Land verlassen müssen, keinen Krankenschein. Einige Tage später, am 11. Januar 2007 wurden die Schmerzen unerträglich. Der Flüchtling Mohammad ging zum Hausmeister des Flüchtlingsheims und bat ihm einen Krankenwagen zu rufen. Er sagte ihm, wenn du schon die Treppen geschafft hast, kannst du auch alleine ins Krankenhaus gehen.

Das Sana-Klinikum liegt 5 Minuten vom Heim entfernt. Ein afrikanischer Flüchtling, der in derselben Unterkunft wohnte, begleitete Mohammad zum Krankenhaus. Unterwegs bricht Mohammad zusammen und wird von seinem Mitbewohner auf den Schultern zum Krankenhaus getragen. Am darauffolgenden Sonntag, also drei Tage später wird Mohammad nach Essen in einer Klinik verlegt, wo er stirbt. Die Familie des verstorbenen hat eine Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung beim Essener Staatsanwaltschaft gelegt. Der Sozialdezernent B. Mast-Weisz bekundet Mitleid mit der Familie und versichert, dass dem 23-jährigen Mohammed niemals ein Krankenschein verweigert worden sei. Die Stadt habe großes Interesse daran, dass der Fall aufgeklärt wird.

Wir auch! Daher haben wir mit den Flüchtlingen in Remscheid über ihre Erfahrungen mit den Behörden gesprochen und ihre Schilderungen offenbarten uns einmal mehr die rassistische Einstellung der Schreibtischtäter, die ihre blutigen Hemden unter Krawatten verstecken müssen. Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten erzählten uns, wie lange sie teilweise kämpfen mussten, damit sie einen Krankenschein vom Herrn S. bekamen, um einen Arzt aufzusuchen. Teilweise setzten sich FreundInnen für sie ein und telefonierten Wochen mit dem oben bereits zwei Mal erwähnten Herrn S., damit sie den notwendigen Schein für einen Arztbesuch ihres Freundes erzwingen, obwohl dieser gesetzlich jedem, auch einem Flüchtling, zusteht. Die Aussagen der Flüchtlinge widersprechen den Darstellungen des Sozialdezernenten.

Die Flüchtlinge berichteten uns über die täglichen Anwesenheitskontrollen im Heim, die mit der Auszahlung der Leistungen nach dem :: Asylbewerberleistungsgesetz gekoppelt sind. Verlässt ein Flüchtling das Heim einen Tag, so werden ihm die Leistungen gekürzt. Die Anwesenheitskontrollen der Stadt Remscheid gehen sogar soweit, dass Beamte morgens um 5 Uhr ins Heim stürmen und an jede Zimmertür klopfen, um die Anwesenheit der Insassen zu überprüfen. Der Zweck ist ein anderer: Durch psychischen Terror Angst und Schrecken einjagen. Denn jeder Flüchtling hat die Abschiebungen seiner Freunde in Erinnerung, die alle vor dem Morgengrauen von Beamten vollzogen werden. Zwei Flüchtlinge erzählten uns über die letzte Abschiebung eines Mitbewohners, der nicht mal Zeit hatte, seine Pyjama aus- und eine Hose anzuziehen. So wurde er in seinen Schlafklamotten und mit Hausschuhen abtransportiert und deportiert. Weiterer Druck auf manche Flüchtlinge wird durch die tägliche Ausgabe von Gutscheinen ausgeübt, die etwas über 4 Euro pro Tag liegen, und über Duldungen(1), die nur einige Tage gelten.

Ein weiterer Flüchtling erzählte uns, dass er bei der Ausländerbehörde war, um sich über den Status seiner Bleiberechtantrages zu erkundigen. Die Behörden verlangten von ihm einen anderen Pass, weil er angeblich nicht den richtigen abgegeben habe. Nach langer Diskussion, verlangte er seinen Pass zurück. Als ihm dieser nicht gegeben wurde, weigerte er sich zu gehen. Die Beamten riefen die Polizei. Sie kam und ohne Klärung nahmen sie den jungen Afrikaner mit. Der auf der Wache misshandelt, ausgezogen, erniedrigt und geschlagen wurde. Andere erzählten uns über andere Vorfälle polizeilicher Brutalität, bei denen die Schreibtischtäter die Staatshüter riefen, welche ihre rassistischen Fantasien in den Polizeizellen freien Lauf ließen. Wir hörten von anderen Flüchtlingen, die aufgrund dieser Erfahrungen einfach abgehauen sind. Seit dem wurden sie nicht mehr gesehen.

Damit die Repressalien in Remscheid und anderen Orten ein Ende haben, ist ein breites Bündnis von Menschen nötig, die sich aktiv gegen die Sondergesetze und Verordnungen für Flüchtlinge einsetzen. Anfragen beim Sozialamt und den Stadtverwaltungen lassen sie vorsichtiger werden. Nachfragen und nachbohren, wie die Situation in Remscheid ist. Aber nicht nur in Remscheid, sondern in vielen anderen Städten und Gemeinden sind die Praktiken nicht anders. Daher bitten wir euch, mit offenen Augen durch eure Stadt zu gehen. Ein junger Flüchtling, der als unbegleiteter Minderjähriger nach Remscheid kam und seit dem fast 10 Jahre dort verbracht hat, sagte: "Du bist jeden Tag mit ihnen, du lachst mit ihnen, vielleicht arbeitest du mit ihnen, oder du spielst Fußball oder Volleyball, aber sie kennen dich und deine Situation nicht. Du gehst nachts zurück ins Gefängnis und weinst alleine in deinem Zimmer."

Damit das Weinen aufhört, müssen wir gemeinsam und aktiv für die Lösung unserer Probleme arbeiten, damit die Schreibtischtäter und andere Verantwortliche nicht unbehelligt weitermachen. Wenn wir wachsam und entschlossen unser Ziel verfolgen, wird jedeR PolizistIn, der/die im Schutze des Staates Menschen erniedrigt und körperlich angreift, weil er/sie weder Verfolgung noch Rechenschaft fürchtet, solange er Randgruppen angreift, irgendwann Rechenschaft ablegen müssen.

Im Falle von :: Oury Jalloh wird am 27. März 2007 der Prozess gegen den Dienstgruppenleiter in Dessau eröffnet. Die Initiativen, Flüchtlings- und MigrantInnenorganisationen, die jahrelang für Aufklärung, Gerechtigkeit und Entschädigung gekämpft haben, werden an den ersten vier Prozesstagen in Dessau sein und :: rund um den Prozess bei Veranstaltungen und Aktivitäten ihre Erfahrungen analysieren und über Perspektiven diskutieren. Jede und jeder ist gefragt, sich einzubringen, wenn nicht in Dessau, dann in Dortmund, Remscheid oder der Stadt wo ihr seid, Polizeibrutalität und Rassismus gehen Hand mit Hand und sind in jeder Stadt präsent.

In Remscheid wird gemeinsam mit den Flüchtlingen und dort lebenden Menschen überlegt, welche Schritte unternommen werden können, damit die Aufklärung nicht verschleppt wird. Die Verantwortlichen müssen jetzt mit einer stärkeren Beobachtung ihres Handelns rechnen. Weitere Informationen folgen.

Karawane für die Rechte von Flüchtlinge und MigrantInnen
Wuppertaler Gruppe
c/o AZ Wuppertal
Markomannstr. 3
42105 Wuppertal
Email: wuppkarawane (at) yahoo.de
offene Treffen: jeden Dienstag zwischen 18:00 und 20:00 Uhr


Anmerkung:
1) In Deutschland leben (Ende 2006) rund 190.000 Menschen mit dem rechtlichen Status einer "Duldung", die meisten von ihnen schon seit mehr als 10 Jahren. Eine Duldung ist nach dem Aufenthaltsrecht lediglich die vorrübergehende Aussetzung der Abschiebung. Sie wird im Normalfall nur für wenige Monate gewährt und muss regelmäßig verlängert werden. Für die Betroffenen bedeutet das, oft über viele Jahre hinweg, ein Leben ohne sichere Zukunftsperspektive, mit der ständigen Angst abgeschoben zu werden. (:: deutschland-lagerland.de, 20. Nov 2006)

Zuerst veröffentlicht am 19. Mar 2007 auf :: thevoiceforum.org, hier leicht bearbeitet.