73 Menschen, die in geschlossenen Zentren für Migrant_innen in Białystok, Biała Podlaska, Przemyśl und Lesznowola untergebracht sind, haben sich entschlossen, gleichzeitig in Hungerstreik zu gehen.
Es ist nicht das erste Protestversuch von Migrant_innen, aber das erste Mal, dass Informationen darüber an die Öffentlichkeit geraten. Bisher wurden Streikende in Isolationshaft gesteckt und auf verschiedene Weise bestraft, ohne dass jemand was davon mitgekriegt hätte.
Die Inhaftierten fordern unter anderem das Recht auf Information in einer für sie verständlichen Sprache, das Recht auf Kontakt mit der Außenwelt, das Recht auf medizinische Behandlung, Bildung für inhaftierte Kinder und Minderjährige, die Einhaltung von Kinderrechten, die Verbesserung von sozialen Zuständen in den Anstalten, ein Ende von Missbräuchen und Gewalt, sowie das Ende der Kriminalisierung von Inhaftierten.
Die Migrant_innen haben beschlossen, zusammen in allen geschlossenen Zentren in Polen zu streiken, in der Hoffnung, dass ihre Stimme nicht ignoriert oder von der Knastleitung unterdrückt wird.
Bereits im August 2008 haben 21 Georger_innen in Biała Podlaska gegen die Langwierigkeit der Prozeduren protestiert. In 2010 gingen 37 Migrant_innen in Przemyśl in Hungerstreik, um für bessere Bedingungen und medizinische Behandlung zu kämpfen. Im Dezember 2009 unternahmen ca. 200 Tschtschenen_innen und Georger_innen eine Zugfahrt nach Strasburg zum Sitz des Europäischen Rates und Parlaments. Sie wollten gegen die europäische Migrationspolitik protestieren. Auf Transparenten, die sie aus den Fenstern des Zuges hängten war zu lesen, dass sie vor Verfolgungen flüchten, Hilfe brauchen und fordern, dass man erkennt, dass sie auch Menschen sind. Sie wurden jedoch bereits an der polnisch-deutschen Grenze angehalten. Darüber hinaus kommt es in den polnischen Zentren regelmäßig zu individuellen Streiks, die einerseits totgeschwiegen, andererseits von den Wachen brutal unterdrückt werden.
Die Inhaftierten, die sich für den Hungerstreik als Form des Protests in den polnischen geschlossenen Zentren für Migrant_innen entschlossen haben, stellen folgende Forderungen:
Wir fordern das Recht auf Information die klar in einer für uns verständlichen Sprache verfasst ist und das Recht auf Information zu den beschlossenen Maßnahmen und Anordnungen während des Aufenthaltes in den Zentren. Dies umfasst auch die Information über die Möglichkeiten zur Aufhebung der verfügten Haftmaßnahmen. Dieses Recht ist im Ausländerschutzgesetz Art. 89b und 89c festgelegt. In Wirklichkeit wird lediglich die Belehrung und Verordnung des Gerichts und nicht deren Begründung übersetzt. Dies erschwert eine Klage gegen diese Verordnung immens und verursacht, dass es uns unmöglich ist von uns zustehenden Rechten Gebrauch zu machen. Manchmal wird sogar die Zeit zum Lesen der im Haft geltenden Vorschriften beschränkt. Nur selten haben wir Zugang zu eine_r professionellen Übersetzer_in sowohl bei der Aufnahme in die Haftanstalt, wie auch während einer medizinischer oder psychologischer Untersuchung.
Wir fordern das Recht auf den Kontakt mit der Außenwelt in privaten und juristischen Angelegenheiten, mit NGOs und internationalen Organisationen die sich mit Migrant_innenschutz befassen (nach Art. 89a des Ausländerschutzgesetzes). Zudem gibt es in den Zentren keinen Zugang zu Telefonbüchern und Internet, was das Stellen von Anträgen deutlich erschwert.
Wir fordern das Recht auf eine gute medizinische Behandlung, fachliche Untersuchungen, psychologische Beratung und die Anwesenheit eine_r Übersetzer_in während der Untersuchungen und bei der Regelung aller Formalitäten in medizinischen Kliniken.
Wir fordern das Recht auf Bildung, die nach Art. 70 der Verfassung und Art. 15 pkt. 1 des Bildungsgesetzes jedem und jeder zusteht. Alle Personen, die die Volljährigkeit noch nicht erreicht haben, unterliegen der Schulpflicht. Alle Kinder, die sich auf dem Gebiet Polens aufhalten, d.h. auch alle Kinder, die sich in Polen illegal aufhalten, unterliegen ohne Rücksicht auf ihren rechtlichen Status der Schulpflicht bis zum Abschluss des Gymnasiums. In Wirklichkeit ist das Recht auf Bildung in den Haftanstalten eher illusorisch. Sie gewähren Kindern und Jugendlichen kein vom Bildungsgesetz gefordertes Recht auf Bildung.
Wir fordern das Einhalten von Kinderrechten
Kinder vertragen das Leben in geschlossenen Zentren besonders schlecht. In den Haftanstalten für Migrant_innen herrscht eine gefängnisähnliche Ordnung, sowohl Erwachsene wie auch Kinder werden wie Verbrecher_innen behandelt. Der einzige Schein von Freiheit sind zeitlich begrenzte Freigänge auf einem von einer hohen Mauer umringtem Platz. Die Bedingungen, in denen Kinder inhaftiert sind, verletzen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention in Bezug auf Kinder und die Beschlüsse der Kinderrechtskonvention in Bezug auf das Recht auf Selbstentfaltung, Freiheit, Gesundheitspflege, Erholung und Freizeit. Wir fordern die Einstellung von Inhaftierungen von Kindern in geschlossenen Zentren.
Wir fordern die Verbesserung von sozialen Zuständen in den Anstalten. Wir erwarten dass die Spezifik unserer Bräuche, des Glaubens und kultureller Identität berücksichtigt wird und dass Zustände erschaffen werden, die uns vor dem Gefühl von der Demütigung und Diskriminierung schützen. Wir erwarten, dass unsere Verschiedenheit von der lokalen Gemeinschaft respektiert wird.
Wir fordern das Ende von Missbräuchen
Tagtäglich kommt es in praktisch allen Anstalten zu zahlreichen Missbräuchen. Psychische Gewalt und Erpressung sind Alltag, es gab Fälle von physischer Gewalt und sexueller Nötigung an Frauen. Die Strafen für das Nichteinhalten von Vorschriften sind übermäßig – für den kleinsten Regelbruch kann man in Isolationshaft gebracht werden Es gab Fälle in denen Matratzen tagsüber aus den Räumen entfernt, Telefone beschlagnahmt, der Verkauf von Nahrung abgelehnt, das Rauchen völlig untersagt wurde etc. Selbst Kinder bleiben nicht von Strafen verschont. In einem der Zentren erhielten die Kinder ein zweiwöchiges Verbot für die Nutzung des Freizeitraumes, weil sie ein Spielzeug kaputtgemacht hatten. Der Freizeitraum ist der einzige halbwegs angenehme Ort für sie. Die Angestellten nutzen die Tatsache aus, dass keine Informationen über die Ereignisse in den Zentren über ihre Mauern gelangen. Die Geschädigten schweigen über die Missbräuche aus Angst vor Ablehnung ihrer Anträge.
Wir Fordern das Ende der Kriminalisierung von Migrant_innen
Dem Gesetz nach wird die Haft über Migrant_innen nicht als Strafmaßnahme verfügt, sondern um ihren Aufenthaltsort zu kontrollieren. Wir haben keine Straftaten begangen und stellen keine Gefahr für die Sicherheit des Staates und der Bürger_innen dar. Die geschlossenen Zentren unterscheiden sich in keiner Weise von Gefängnissen: vergitterte Fenster, Stacheldraht, hohe Mauern und gefängnisähnliche Ordnung, kein Recht auf Therapie und Bildung brechen auf offensichtliche Weise unsere Grundrechte und vertiefen das Trauma, das viele von uns in ihren Heimatländern erfahren haben.
Im Sinne von Art. 88 des Ausländer_innenschutzgesetzes dürfen Migrant_innen, deren psychischer und physischer Zustand die Vermutung erweckt, sie hätten Gewalt erfahren, auf keinen Fall in Geschlossenen Zentren einquartiert werden. In Wirklichkeit wird unsere psychische Gesundheit nicht sorgfältig genug überprüft. In jedem Zentrum befinden sich Menschen (darunter Kinder), die unter posttraumatischen Stresserscheinungen leiden.
"(...)Die Prozedur, nach der Menschen in geschlossenen Zentren oder Abschiebehaft untergebracht werden, enthält keine Kriterien, nach denen sie in diese eingewiesen werden. Dies ist inakzeptabel, weil der Freiheitsentzug die höchste Maßnahme ist, die nur in besonders schweren Fällen von Gesetzesbruch oder Störung öffentlicher Ordnung eingesetzt werden sollte.
Der Bericht zeigt auch, dass Gerichte nur ungern die Aufhebung des überwachten Aufenthaltes in geschlossenen Zentren oder Abschiebehaft genehmigen. Die internationale Rechtsprechung besagt, dass ein mehr als viermonatiger Aufenthalt in den Zentren oder Haft meist nicht zu rechtfertigen ist (Beschluss des Internationalen Gerichtshofs Nr. 794/1998, U.N. Doc. CCPR/C/74/D/794/1998). Dies lässt Polen in einem sehr ungünstigen Licht dastehen und das Land könnte wegen Menschenrechtsverletzungen international zur Verantwortung gezogen werden.
Ein weiteres Problem ist, dass die Verordnung über den Aufenthalt in einem geschlossenen Zentrum oder Abschiebehaft nach Ablauf quasi automatisch verlängert wird. Auch ein laufendes Asylverfahren, das eine eventuelle Abschiebung verhindert, fließt in keiner Weise in die Entscheidung der Gerichte ein. Sie schenken der tatsächlichen Lage der Ausländer_innen keine Achtung und beschränken sich lediglich darauf, bereits erlassene Verordnungen im selben Wortlaut zu wiederholen.
Als nächstes ist es nötig, die Situation der Ausländer_innen, die die geschlossenen Zentren oder die Abschiebehaft verlassen, ins Auge zu nehmen. Auf Grundlage des aktualisierten Gesetzes stehen ihnen nach dem Einreichen eines Wiederaufnahmeantrags für das Asylverfahren finanzielle Leistungen zu. Diese sind jedoch für einen selbstständigen Unterhalt in Polen völlig unzureichend. Hinzu kommt, dass Ausländer_innen sofort nach der Entlassung eine Unterkunft finden müssen. Dies gestaltet sich aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse und diversen anderen Schwierigkeiten im Alltag jedoch sehr problematisch. Wörtlich besagt das Gesetz, das die Geldleistungen nur Menschen zustehen, die außerhalb der Zentren wohnen. Das ist ein untragbarer Zustand, der zu Wohnungslosigkeit führen kann.
Aufgrund der oben genannten Tatsachen sind Änderungen nötig, die den Ablauf effizienter machen. Damit würde Polen auch seiner Pflicht nach Achtung der Menschenrechte entgegenkommen."
Bericht über die Realisierung der Dublin II-Verordnung in Polen, Halina Nieć-Rechtshilfezentrum
Unterstützer_innen der Protestierenden auf :: protestuchodzcow.wordpress.com