Stand: 13.03.2018
Große Teile des kurdisch-syrischen Afrin sind inzwischen von der türkischen Armee erobert worden. Afrin-Stadt ist bis auf einen schmalen Korridor gänzlich umschlossen. Konnten die Verteidiger*innen der Stadt den Angriff bislang aufhalten oder zumindest verlangsamen, scheint nun ein Sieg der türkischen Armee mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung in Afrin möglich zu sein.
Den Bewohner*innen von Afrin-Stadt droht ein Vernichtungskrieg. Ismail Küpeli zur aktuellen Lage im kurdisch-syrischen Kanton Afrin.
Seit dem 20. Januar 2018 greift die türkische Armee mit ihren syrisch-arabischen Verbündeten das kurdische Afrin in der Autonomieregion Rojava an und zerstört damit eine der letzten relativ friedlichen Regionen in Syrien. In den ersten Kriegswochen schien es so, als habe die türkische Regierung, wie so oft, die eigenen militärischen Fähigkeiten überschätzt und die syrisch-kurdischen Verteidiger*innen von Afrin unterschätzt. Die türkische Armee schaffte es, trotz massiver Artillerie- und Luftangriffe, nur wenige Dörfer entlang der türkisch-syrischen Grenze zu erobern und erlitt hohe Verluste. Insbesondere die syrisch-arabischen Verbündeten der türkischen Armee, die unter dem Label «Freie Syrische Armee» (FSA) auftreten, in Wirklichkeit aber zahlreiche islamistische und jihadistische Kämpfer vereinen, mussten einen hohen Blutzoll während der Bodenoffensive zahlen. Diese hohen Verluste führten wiederum zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Soldaten und der FSA-Kämpfer an Kämpfer*innen der syrisch-kurdischen Milizen YPG und YPJ sowie an Zivilist*innen in Afrin, die so «Rache» für die eigenen Toten nahmen. Mediale Bilder, wie etwa die Leichenschändung an der YPJ-Kämpferin Barin Kobani durch FSA-Kämpfer, die dabei islamistische und jihadistische Parolen riefen, sorgten in der Weltöffentlichkeit für zusätzliche Empörung.
Gleichzeitig kamen Meldungen über Verhandlungen zwischen den Autoritäten der Autonomieregion Rojava, zu der Afrin gehört, und dem Assad-Regime, die zu einem Ende der türkischen Offensive hätten führen können. Der türkische Angriff auf Afrin war damals nur möglich geworden, weil Russland und das Assad-Regime signalisierten, dass sie nicht gegen die türkische Militäroperation vorgehen würden. Hätten Russland und das Assad-Regime diese Position wieder revidiert und den Angriff auf Afrin als einen Angriff auf Syrien verstanden, wäre die Türkei gezwungen gewesen, diese Offensive einzustellen. Die Verhandlungen zwischen Rojava, Russland und dem Assad-Regime, die vielfach aus politischen und moralischen Gründen kritisiert wurden, haben allerdings am Ende keineswegs zum Erfolg geführt.
Die USA, die mit YPG und YPJ im Kampf gegen den «Islamischen Staat» (IS) verbündet sind, haben sich aus dem Konflikt um Afrin herausgehalten, weil sie nach wie vor versuchen, sowohl das Bündnis mit YPG und YPJ als auch die Beziehungen zum NATO-Bündnispartner Türkei aufrechtzuerhalten. Wie schon zuvor bei dem Krieg des Erdoğan-Regimes in den kurdischen Gebieten der Türkei betonen die USA, dass die Zusammenarbeit mit YPG und YPJ sich auf den Anti-IS-Kampf beschränkt und sie sich bei den anderen Konflikten nicht zugunsten der syrisch-kurdischen Milizen positionieren. Diese Politik der USA wird immer unhaltbarer. Denn der Kampf gegen den IS muss vorerst eingestellt werden, weil YPG/YPJ-Kämpfer*innen nach Afrin mobilisiert worden sind, um dort gegen die türkische Armee zu kämpfen. Spätestens, wenn die türkische Armee, wie wiederholt angekündigt nach der Offensive auf Afrin auch die übrigen Gebiete von Rojava angreift, darunter Manbij, Kobane und Cizre, werden die USA sich entscheiden müssen. Entweder sie sorgen dann für ein Ende der türkischen Angriffe oder sie müssen sich aus Nordsyrien zurückziehen und den Kampf gegen den IS gänzlich einstellen.
Inzwischen kommen, neben der Umzingelung und permanenten Bombardierung Afrins, täglich Meldungen über weitere Dörfer und Ortschaften, die unter die Kontrolle der türkischen Armee und ihren FSA-Verbündeten geraten sind. Dabei tauchen auch immer wieder Videos und Fotos von möglichen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Soldaten und ihrer Verbündeten auf. Einige Aufnahmen zeigen etwa, wie Kriegsgefangene und Zivilist*innen erschossen werden. Ebenso ist zu sehen, dass die nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen wie etwa die Eziden von den islamistischen und jihadistischen Kämpfern drangsaliert und bedroht werden. Auffällig ist dabei, dass es sich um Aufnahmen handelt, die von den Tätern selbst gemacht wurden. Offensichtlich sind sie stolz auf ihre Taten und setzen auf die öffentliche Wirkung ihrer Taten, um Angst und Schrecken unter den Menschen in Afrin noch zu vergrößern.
Allerdings ist bei den Kurd*innen in Europa, neben der Angst um die Menschen in Afrin, auch sehr viel Wut und Hass zu beobachten; Wut auf die westlichen Staaten, die entweder tatenlos zusehen wie Afrin in Trümmer gebombt wird oder gar, wie etwa Deutschland, durch politische und militärische Unterstützung der Türkei eine Mitschuld am Angriffskrieg auf Afrin trägt; und Hass auf die türkischen Organisationen und Verbände in Europa, die den Krieg in Afrin offen unterstützen.
Als etwa bekannt wurde, dass auch in Gebetshäusern des türkisch-islamischen Moscheenverbands DITIB, die von der türkischen Religionsbehörde Diyanet kontrolliert werden, für den Sieg der türkischen Armee in Afrin gebetet wurde, kam es zu einem Aufschrei unter den Kurd*innen in Deutschland. Nachdem sie über sechs Wochen lang weitgehend friedlich demonstriert hatten, kippt jetzt die Stimmung. Gerade die junge kurdische Diaspora in Deutschland sieht sich inzwischen im Kriegszustand und es kursieren erste Aufrufe, türkische Einrichtungen in Deutschland anzugreifen.
Artikel von Ismail Küpeli veröffentlicht am 13. März 2018 auf :: Rosa Luxemburg Stiftung