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Quellenangabe:
Dank Schengen: Die Grenze ist überall! (vom 31.12.2007),
URL: http://no-racism.net/article/2400/, besucht am 29.03.2024

[31. Dec 2007]

Dank Schengen: Die Grenze ist überall!

Im folgenden ein kurzer Überblick über Entstehung und Entwicklung des Schengenraumes und weiterführende Links.
Text übernommen von at.indymedia.org

Am 21. Dezember 2007 fand die größte Erweiterung des Schengenraumes seit seines Bestehens statt. Mit der Schengenaußengrenze wurde auch die Entrechtung von MigrantInnen und die verstärkte Überwachung der Bevölkerung ein Stück weiter Richtung Osten verschoben. An den neuen Binnengrenzen, an denen ab sofort keine Passkontrollen mehr stattfinden, wurde die neue "Freiheit" gefeiert. Gleichzeitig wurde in Österreich, aber auch Deutschland festgehalten, dass die Grenzen weiterhin überwacht werden. Die Grenz-Kontrollen finden nicht mehr an definierten Punkten statt, sondern verlagern sich zunehmend ins Innere des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

Schengen, ein kleiner Ort in Luxemburg, ging im Jahr 1985 in die Geschichte ein: PolitikerInnen aus Deutschland, Frankreich und die Benelux Staaten trafen sich, um die nationalen Grenzkontrollen zwischen den Ländern abzubauen, während gleichzeitig entlang der Außengrenzen die Kontrollen verstärkt werden sollten. Der Unterzeichnung des Schengener Abkommens gingen zahlreiche Initiativen zur polizeilichen Zusammenarbeit innerhalb der EU bzw. zwischen einzelnen EU-Staaten voraus.

Fünf Jahre später, im Jahr 1990 wieder in Schengen, wird das Abkommen um das Schengener Durchführungsübereinkommen erweitert: Grenzüberschreitende Fahndung, Datenaustausch einschließlich der Erfassung von Personen und Objekten werden festgelegt und einer weitreichenden Erfassung und Überwachung großer Bevölkerungsgruppen in den Schengenländern der Weg geebnet. Weitere Länder treten dem Abkommen bei.

In den folgenden Jahren entstehen neben dem Schengen Informations System (SIS) zahlreiche weitere Instrumente zum Datenaustausch zwischen den EU-Ländern, werden neue Abkommen beschlossen und Abläufe bestimmt, immer mehr Daten gespeichert. Neben gestohlene Autos finden sich vor allem Daten von Menschen: So werden u.a. jene registriert, denen der Aufenthalt in der EU verwehrt wird oder die "auffällig" sind.

Der Vertrag von Amsterdam, der im Mai 1999 in Kraft tritt, bezeichnet den Anfang des totalen Überganges der Bereiche Migration, Asyl und Polizeifragen in die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union. Die MinisterInnen und Polizeichefs bekommen fünf Jahre, um ihre Programme der Ausgrenzung und Entrechtung von Menschen umzusetzen. Ab nun müssen alle neuen EU-Mitglieder dem Schengener Abkommen beitreten. Lediglich Großbritannien und Irland erhalten einen Sonderstatus.

Im Jahr 1999 beschließen die PolitikerInnen der EU im finnischen Tampere einen weiteren Fünf-Jahresplan zu Gründung eines "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" und zur "Harmonisierung" der Asyl- und Migrationspolitik der EU-Staaten.

Ende 2001 beschloss der Rat der Europäischen Union dass das SIS durch ein neues System, das SIS II ersetzt werden soll. Mit Schengen Informations System II (SIS II), das sich derzeit noch im Aufbau befindet, werden wesentlich mehr Daten gespeichert werden und den Behörden zahlreiche neue Möglichkeiten zur Verfolgung eröffnet. Ein Ziel ist die automatisierte Erkennung von Personen aufgrund ihres Verhaltens oder biologischer Charakteristika. Das Schengener Informations System wird so zu einem repressiven politischen Ermittlungssystem zur Registrierung und Überwachung von Individuen und ganzen Bevölkerungsgruppen.

Anknüpfend an Tampere wird im Jahr 2003 in Den Haag ein "Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht" beschlossen. Mit dem Haager Programm werden die restriktive Migrations- und Asylpolitik der EU konsequent fortgesetzt und die Rahmenbedingungen für die nächsten fünf Jahre festgelegt: Gemeinsame Grenzüberwachung samt einer dazu gehörenden Grenzschutzagentur (Frontex), einheitliche Asylverfahren und ein gemeinsames EU-Asylamt, ein gemeinsames Visa-Informationsstem (VIS), Mehrheitsentscheidungen statt Konsensprinzip, die Prüfung von Asylverfahren außerhalb der EU in Zusammenarbeit mit dem UNHCR, Dokumente mit biometrischen Daten, besserer Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten usw.

Im Jahr 2005 unterzeichnen fünf Staaten der EU den Prümer Vertrag. Dieses Abkommen dient der Vertiefung der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration. Österreich und Deutschland, ErstunterzeichnerInnen des Prümer Vertrages, tauschen bereits seit Ende 2005 Daten aus.

Mit der Übernahme des Prümer Vertrages in EU-Recht im Juni 2007 wird von den EU-MinisterInnen ein weiterer Schritt zur totalen Überwachung gesetzt. Die europäischen Behörden bekommen damit in Zukunft einen automatisierten Zugriff u.a. auf Gendaten, Fingerabdrücke und Kfz-Register anderer EU-Staaten.

Neben den immer restriktiver werdenden Bestimmungen ist vor allem die Expansion des Schengenraumes und das Wirken seiner Bestimmungen schon weit über dessen Grenzen hinaus bezeichnend für die restriktive EU-Politik im Bereich Justiz und Inneres. Am 21. Dezember 2007 wurde Schengen ein Stück größer und damit einhergehend verschoben sich die Außen-Grenzen des Schengenraumes. Bisher wendeten 13 EU-Mitgliedsstaaten und 2 assoziierte Staaten die Schengen-Bestimmungen uneingeschränkt an: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, Griechenland, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien sowie Norwegen und Island. Ab nun sind auch Tschechien, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Polen, Estland, Litauen, Lettland und Malta vollwertige Schengen-Mitglieder. (Anm: Die Grenzkontrollen an den Flughäfen werden erst Ende März 2008 aufgehoben.) Die Schweiz und Liechtenstein werden voraussichtlich im Herbst 2008 dem Abkommen beitreten, spätestens jedoch mit Inbetriebnahme des SIS II und des VIS, die bis Ende 2008 erfolgen soll.

Im Zusammenhang mit dem Schengen-Raum wird meist propagiert, dass die Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten entfallen. Doch wer denkt, dass im Inneren dieses Raumes die Grenzen verschwinden liegt falsch. So wird in Österreich von PolitikerInnen immer wieder betont, dass die Grenzen weiterhin gesichert werden. Die Zauberformeln haben die Namen Grenzraumsicherung und Schengen-Ausgleichsmaßnahmen. Die Grenzpolizei bleibt zum Großteil an ihren bisherigen Dienstorten, ihr Einsatzgebiet verlagert sich aber in einen breiten Grenzgürtel an den nunmehrigen Binnengrenzen zu Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien. Die Kontrollen finden verstärkt im Hinterland statt und im Zuge der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit sind gemeinsame Streifen mit PolizistInnen der NachbarInnenstaaten unterwegs. Unterstützung erhält die Polizei an der Grenze weiterhin vom österreichischen Bundesheer, das zur Beobachten und zum Objektschutz eingesetzt werden soll, bewaffnet aber ohne das Recht, Personen anzuhalten.

Im Zuge der weiteren Ausgleichsmaßnahmen, die bereits im Schengener Abkommen von 1985 den überwiegenden Teil des Vertragstextes eingenommen haben, werden auch an weiteren Orten im Inneren des Landes verstärkt Kontrollen durchgeführt. So werden in allen Bundesländern Stützpunkte für Schengen-Kontrollen eingerichtet. Von dort aus werden ab sofort die bereits in den letzten Jahren stattgefundenen stichprobenartigen Kontrollen im Hinterland, an Verkehrsrouten, Autobahnen, Bahnhöfen und in Ballungszentren koordiniert. In Wien wurden massive Kontrollen vor allem auf den Ausfallstraßen und an Bahnhöfen angekündigt.

Mit Schengen werden die Grenzen vielfältiger und an unzähligen Orten sichtbar Der öffentliche Raum wird mehr und mehr überwacht. Die Grenze ist plötzlich überall!


Weitere Informationen


Einen umfassenden Überblick zum Thema Schengen als einen "grundlegenden Bauteil" der Festung Europa bietet der Artikel:
:: Das panoptische Gehirn der Festung Europa (18. Nov 2007)

Zur Rolle von Forschungseinrichtungen und diversen meist im Geheimen arbeitenden Arbeitsgruppen der EU siehe:
:: Grundzüge des Europäischen Migrationsregimes (30. Jun 2000)

Zur Entwicklung vom Schengener Abkommen über den Vertrag von Amsterdam zum Vertrag von Tampere und den Aktionsplänen zur Migrationsabwehr der EU siehe:
:: Die restriktive Harmonisierung der Europäischen Immigrations- und Asylpolitik (12. Sep 2000)
:: Tampere & Amsterdam - EUropean imperialism and the history of Justice and Home Affairs Borders creat (09. Sep 2000)

Zum Vertrag von Tampere siehe:
:: noborder.nonation: für die Freiheit der Bewegung (22. Feb 2002) - In diesem Bericht geht es auch um den Widerstand gegen die EU-Migrationspolitik und die Gründung des Noborder-Netzwerkes

Zum Schengen Informations System II (SIS II) siehe:
:: SIS II - Mehr Daten für mehr Behörden (14. Oct 2003)
:: Die Europäische Union baut das Schengen Informationssystem aus (11. Apr 2002)
:: Schengen Informationssystem (SIS) soll ausgebaut werden (04. Feb 2002)
:: EU plans to extend the Schengen Information System (Nov 2001, english)

Zum Haager Programm siehe:
:: Das Haager Festungsprogramm: Zur Harmonisierung von Rassismen in Europa (17. Nov 2004)
:: Abschottung um jeden Preis: Institutionalisierung von Rassismen in Europa (16. Nov 2004)
:: PartnerInnenschaft für mehr Sicherheit: Die Kolonisierung schreitet voran... (09. May 2006)

Zum Prümer Vertrag siehe:
:: Überwachung in Europa - 'Prümer Vertrag' ab nun EU-Recht (13. Jun 2007)
:: Deutschland und Österreich tauschen Fingerabdruckdaten (04. Jun 2007)
:: Wo liegt Prüm? Der polizeiliche Datenaustausch in der EU bekommt eine neue Dimension (Datenschutz Nachrichten 1/2006)

Zur Grenzschutzagentur Frontex siehe:
:: Frontex und die europäische Außengrenze (13. Dec 2007)
:: Rechtsgutachten zu Frontex (19. Oct 2007)
:: Frontex als Schrittmacher der EU-Innenpolitik (25. May 2007)


Links:


:: Informationen u.a. zum Grenzregime und dessen Instrumenten wie dem SIS oder der "freiwilligen Rückkehr", Migrationsmanagement und zwischenstaatlichen Organisationen zur Migrationsabwehr auf no-racism.net/migration

:: Veröffentlichungen der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration

:: Statewatch Observatory on EU asylum and immigration policy (englisch)

:: Informationen u.a. zur Abschiebepolitik beim Flüchtlingsrat Hamburg

:: Informationen zur EU Grenzschutzagentur Frontex bei "frontexwatch - keepin` an eye on the Kerberos of the EU border regime" (deutsch, tw. englisch)

:: Umfangreiche Informationen auf französisch bei migreurop

:: Immer wieder interessane Berichte zur EU-Migrationspolitik im de.indymedia.org Thema Antirassismus

:: Informationen zum Europäisches Asylrecht bei Pro Asyl e.V.

:: Umfangreiche Informationen zur Entwicklung der europäischen Flüchtlingspolitik (auf englisch) beim European Council on refugees and exiles (ECRE)

:: Informationen (auf englisch) zu Gesetzen, sozialen Rechten, Internierung und Abschiebung betreffend illegalisierter MigrantInnen in der EU und den einzelnen Mitgliedsstaaten bei der Platform für International Cooperation on Undocumented Migrants (PICUM)

:: Immigration verbunden mit Themen der Inneren Sicherheit, Sozialpolitik und dem Arbeitsmarkt (Europäisches Migrationszentrum)

:: Asyl- und Einwanderungspolitik der EU in Zusammenhang mit der Politik der Bundesrepublik Deutschland (leider sind die Berichte nur kurze Zeit kostenfrei zugängig, mit Ausnahme einiger ausgewählter EU-Dokumente)

Dieser Artikel erschien zuerst am 23. Dez 2007 auf :: at.indymedia.org