Am 5. November 2004 beschloss der Rat der Europäischen Union, der sich aus den 25 Staats- und RegierungschefInnen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, bei einem Gipfeltreffen in Brüssel das "Haager Programm" zur gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik. Dadurch wurde der Masterplan für weitere Verschärfungen der Asyl- und Migrationspolitik auf EU-Ebene festgelegt.
Ein kurzer Blick in Berichte diverser kommerzieller Medien fasst zusammen, was eine wesentlich größere Dimension hat: gemeinsame Grenzüberwachung und einer dazu gehörenden Grenzschutzagentur, einheitliches Asylverfahren und gemeinsames EU-Asylamt, Mehrheitsentscheidungen statt Konsensprinzip, die Prüfung von Asylverfahren außerhalb der EU in Zusammenarbeit mit dem UNHCR, Dokumente mit biometrischen Daten, besserer Informationsaustausch der nationalen Polizeibehörden und Nachrichtendienste sind nur einige wenige Schlagworte. Der vor fünf Jahren in Tampere, Finnland, beschlossene "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" nimmt langsam aber sicher konkrete Formen an. Nach einer ersten fünfjährigen Periode zieht der EuropäischeRat positive Bilanz: Die Grundlagen einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik seien geschaffen worden, die Harmonisierung der Grenzüberwachung vorbereitet, die Zusammenarbeit der Polizeibehörden und die Grundlagen gerichtlicher Zusammenarbeit verbessert.
Die im Tampere-Abkommen festgeschriebenen Prinzipien zu legaler Migration, wie faire Behandlung von temporären EinwanderInnen im Verhältnis zu UnionsbürgerInnen und annähernd gleiche Behandlung von längerfristig niedergelassenen Personen wie von StaatsbürgerInnen kommen im "Haager Programm" nicht mehr vor.
Wirft mensch einen kritischen Blick auf das "Haager Programm", nehmen die Abschottungspläne dahinter schnell Kontur an. Es geht vor allem darum, Migration zu kontrollieren, zu managen, zu verhindern. Migration soll sich in Zukunft an den Interessen der EU und ihrer BürgerInnen, aber vor allem an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientieren und zu deren besseren Entwicklung beitragen. Dazu bedarf es einerseits Instrumentarien zur Regelung legaler (und vorübergehender) Einwanderung von benötigten ErwerbsarbeiterInnen und der Bekämpfung illegalisierter Erwerbsarbeit. Andererseits gilt es, Flüchtlinge und illegalisierte MigrantInnen möglichst weit weg, auf dem Weg in die Festung Europa aufzuhalten, zu internieren und "rückzuführen".
Informelle Ökonomien und illegalisierte Erwerbsarbeit können nach Ansicht des Haager Programms als sog. pull-Faktoren migrationfördernd wirken und zu Ausbeutung führen. Deshalb fordert der Europäische Rat die Mitgliedsstaaten auf, informelle Ökonomien zu reduzieren.
Der Europäische Rat ist weiters der Meinung, dass nicht ausreichend geregelte Migrationbewegungen zu humanitären Katastrophen führen können. Als Beispiel werden die sich im Mittelmeerraum abspielenden "menschlichen Tragödien" genannt. Sie werden als Resultat der Bemühungen, heimlich in die EU einzureisen, dargestellt. Die Militärische Aufrüstung der Grenzen, die immer mehr Menschen dazu zwingt, gefährlichste Wege zu gehen, wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Handelt es sich dabei doch genau um jene Maßnahmen, mit denen die EU-Bürokratie Migration entgegenwirken will. So werden alle Staaten aufgerufen, die Kooperation zur Verhinderung des weiteren Verlustes von Leben zu intensivieren, sprich Migration noch stärker zu kontrollieren und einzuschränken.
Herkunfts- und Transitländer sollen darin bestärkt und in ihren Bemühungen unterstützt werden, die Sicherheit von Flüchtlingen zu verbessern. Die sog. Drittstaaten werden aufgefordert, der Genfer Flüchtlingskonvention beizutreten bzw. deren Bestimmungen einzuhalten. Gleichzeitig wird innerhalb der EU nach Wegen gesucht, die Genfer Flüchtlingskonvention mehr und mehr außer Kraft zu setzen oder zu umgehen.
Die weitere Entwicklung der Europäischen Asyl- und Migrationspolitik soll auf allgemeinen Analysen von Migration unter Berücksichtigung aller Aspekte aufbauen. Wichtig dafür sind verstärkte Sammlung, Bereitstellung und Austausch sowie effizientere Nutzung von up-to-date Informationen und das Wissen über alle relevanten Migrationentwicklungen.
Einen zentralen Punkt sowohl im Haager Programm als auch insgesamt im Harmonisierungsprozess der EU nimmt die sog. Rückführungs-Politik ein:
"MigrantInnen, die nicht oder nicht mehr über das Recht verfügen, legal in der EU zu bleiben, müssen auf freiwilliger, oder wenn notwendig auf unfreiwilliger Basis zurückkehren. Der Europäische Rat verlangt die Einführung einer effektiven Abschiebe- und Rückführungspolitik, basierend auf gemeinsamen Standards für Personen, die in humaner Weise entfernt (returned) werden, unter vollem Respekt ihrer Menschenrechte und Würde."
Ein Widerspruch in sich, der nicht allein aus dieser Formulierung erkenntlich wird, sonder vor allem aus der gängigen Praxis: Zwangsdeportationen unter Anwendung von Gewalt, Beruhigungsmitteln, Schlägen, Beleidigungen und der Inkaufnahme von Toten, Massendeportationen mit Charter- und Militärflugzeugen, mehr und mehr Internierungslager, zunehmend auch außerhalb der Schengengrenzen, Entrechtung, Kriminalisierung, rassistische Zuschreibungen, Differenzierungen usw. Welch Zynismus, angesichts dessen von der Einhaltung von Menschenrechten oder gar würde zu reden?
Diese Ausführungen geben nur einen kleinen Einblick in den harmonisierten Ausbau der Festung Europa. Als zeitlicher Rahmen für die Umsetzung wurde ein Zeitrahmen bis 2010 bzw. 2011 vorgegeben. Um dies auch zu erreichen, wird es alle sechs Monate Treffen zum Austausch praktischer Erfahrungen und zur weiteren Koordination zwischen MigrationsstrategInnen, PolitikerInnen und Polizei geben. Zusätzlich jährliche Berichte über die Durchführung und den Fortschritt des "Haager Programms" zur Information des Europäischen und nationaler Parlamente.