"Kunst gegen Kunst" - Internationale KünstlerInnen - Gruppe erinnert in Berlin am Checkpoint Charly an die Opfer aller Grenzen.
Sonntag Mittag am Checkpoint Charly: TouristInnen bestaunen die Kreuze, die die Betreiberin des privaten Mauermuseums nach eigenen Worten "zur Erinnerung an die Opfer der SED-Diktatur" aufgestellt hat. Plötzlich tauchen 20 Gestalten in weissen Overalls auf. Darauf prangt das Label "AG Fluchthilfe".
Um Flucht und Migration dreht sich auch die nun folgende Politkunstaktion im öffentlichen Raum: In großen roten Lettern ziehen die Künstler und Künstlerinnen ihren Kontrapunkt zur Checkpoint-Installation des Mauermuseums über 20 Meter der strahlend weissen Mauer: "Um Europa keine Mauer. Bleiberecht für alle!" und nocheinmal zwei Meter hoch und 40 Meter lang: "Wellcome All Refugees".
Die Schautafel am bürgersteig wird derweil durch Informationen zur Tödlichkeit von nationalstaatlichen Grenzen im allgemeinen und der EU-aussengrenzen im speziellen erweitert: Das Plakat (Quelle: Le monde diplomatique, März 2004) zeigt die Europäischen aussengrenzen und verdeutlicht die Todeszahlen auf den unterschiedlichen Flüchtlingsrouten zwischen 1994 und 2004: Mehr als 3.000 Menschen ertranken im Mittelmeer. Hunderte kamen auf dem Weg über die EU-Ostgrenze um. Dutzende nahmen sich in den Abschiebegefängnissen vor allem der BRD das Leben (vgl. auch die Statistikenn der Antirassistischen Initiative, ARI, siehe http://www.berlinet.de/ari/doku/titel.htm).
Sprecher erklären den interessierten Touristen in englischer und deutscher Sprache die Motivation der Polit-Künstler. Die Botschaft ist klar: "Der Umgang mit der Berliner Mauer hierarchisiert die Opfer von Staatsgrenzen. Den Opfern der Mauer zwischen BRD und DDR wird gedacht, weil hier hauptsächlich Deutsche starben. Die Todesopfer anderer Grenzen werden verschwiegen. Um an alle diese Mauern und ihre Opfer gestern, heute und morgen zu erinnern - darum sind wir hier." Als die Künstler wieder gehen, wird ihr Rückenlabel noch einmal sichtbar: "Kunst gegen Kunst". Schon die Mauerkreuze waren nur als "Kunstinstallation" gegen Senat und Bezirk durchsetzbar.
Text des Info-Blattes zur Aktion:
Happening-Kunst an Kunst-Mauer. Motto: Von guten und von bösen Mauern
Angesichts der Mauer und der vielen Kreuze sollen wir uns erinnern. Erinnern an die Berliner Mauer und die vielen Menschen, die an ihr gescheitert sind und mit dem Leben bezahlt haben. Angesichts der Mauer-Opfer sollen wir erschrecken, gedenken und andächtig schweigen. Zum Schweigen besteht aber kein Anlass. Wir fragen: Welche Vergangenheitspolitik wird hier betrieben - in diesem Museum und mit dieser Installation mit all den Kreuzen? Warum sollen wir uns an an die Opfer einer Mauer erinnern, die es nicht mehr gibt, während die Opfer heute immer noch existierender Mauern verschwiegen werden? Denkmäler haben verschiedene Funktionen: Eine davon ist: die Erinnerung an die Vergangenheit wach halten und damit die Gegenwart vergessen machen. Oder die Erinnerung an eine schreckliche Vergangenheit wie die Mauer dient nur zur Feier der Gegenwart. Wir vermuten, dass genau dafür diese Kreuze hier stehen. Zu solch einer Feier der Gegenwart gibt es aber keinen Anlass.
Denn die Mauer, die diese Stadt und dieses Land geteilt hat, ist zwar verschwunden. Aber Mauern und Grenzen gibt es nach wie vor. Sie trennen Nationen und Staatengruppen voneinander. Und an diesen Mauern wird täglich gestorben. Hinter einer dieser Mauern hat sich die Festung Europa verschanzt. Diese Mauer mag vielleicht unsichtbar sein, aber sie ist eine der tödlichsten Mauern der Welt. Seit 1993 hat diese Mauer um Europa mehr als 4.500 sicher dokumentierte Todesfälle verursacht - mehr als viermal soviele wie Kreuze hier um uns herum. täglich ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer oder in der Oder, sie ersticken in Containern und Flugzeug-Fahrgestellen, erfrieren in Wäldern oder bringen sich um, weil sie wieder in ihre Heimat abgeschoben werden sollen.
Die DDR, so sollen uns diese Mauerkreuze heute sagen, war ein unmenschliches Regime, weil sie ihre Einwohner nicht über die Grenze ließ. Die Bundesrepublik dagegen, an deren Grenze hunderte umkommen, ist gut, sagen die Mauerkreuze. Die DDR war böse, weil sie bürger eingesperrt hat, die sie sie als Arbeitskräfte brauchte. Die Bundesrepublik ist gut, weil sie jene sterben lässt, die sie als Arbeitskräfte nicht braucht. Die DDR-Regierung war unmenschlich, weil sie Inländer an ihrer Grenze tötete. Fluchthilfe war damals eine edle Angelegenheit - dafür gab es sogar Bundesverdienstkreuze. Die Bundesrepublik ist gut, weil an ihrer Grenze bloß Ausländer sterben. Schlepperei - ein anderes Wort für Fluchthilfe - gilt heute als unmoralisch und verbrecherisch. Was ist das für eine Logik?
Die Macher aus dem privatwirtschaftlich interessierten Checkpoint-Charley-Museum präsentieren sich mit ihrer Kreuze-Mauer-Ausstellung als "Kunst-Projekt". Nur so können sie das staatlich angemaßte Erinnerungsmonopol unterlaufen und ihre eigene Version von privatem Grund aus in der Öffentlichkeit präsentieren bis ihr Pachtvertrag im Januar ausläuft. Die Texttafeln vor diesen Kreuzen hier sagen: Dieser Ort ist eines der wichtigsten Gründstücke der "Freien Welt". Die Macher des Museums preisen auf diesen Tafeln Ronald Reagan für seine berühmte Forderung nach dem Abriss der Berliner Mauer. Wir können und wollen eine derart unkritische Verherrlichung eines Kalten Kriegers wie Reagan nicht akzeptieren - egal, ob sie uns von einer staatlichen Institution oder einer privaten Initiative kommt. Wir erinnern daran, dass die Regierung Reagan und alle US-Regierungen seitdem für eine Politik verantwortlich sind, die kaltblütig auf tödliche Grenzsicherungssysteme setzt. Seit 1996 sind mehr als 2.000 Menschen ums Leben gekommen beim Versuch, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überwinden, - alleine 325 in diesem Jahr. Diese Opfer sind die direkte Folge der Militarisierung der Grenze der USA, die bewusst Menschen zwingt, lange und gefährliche Wüstendurchquerungen zu wagen. Amerikas Freiheitsstatue tut so, als heiße sie die Armen und Hungrigen der Welt willkommen. Gleichzeitig verwandeln die USA ihre südgrenze in eine Todesfalle, um mittellose EinwandererInnen abzuschrecken.
Wir sind skeptisch angesichts der Leichtfertigkeit, mit der hier Kalte Krieger abgefeiert werden. Wir haben nicht die Absicht, die Verbrechen der DDR zu entschuldigen - oder die Verbrechen irgendeiner anderen Bürokratischen Diktatur. Aber genauso weigern wir uns zu vergessen, dass die führer des "Freien Westens" niemals für eine Welt ohne Mauern eintraten. Zumindest nicht, wenn es um Reisefreiheit für Menschen ging. Nur Kapital genießt Reisefreiheit.
Die Wahrheit ist: Es gibt keine guten oder böse Mauern. Nur Mauern mit unterschiedlichen Zwecken. Kein Mensch sollte die eine Mauer kritisieren, die andere aber loben, nur weil er oder sie sich auf der richtigen Seite der Mauer wähnt.
Die Wahrheit ist: Es gibt keine Nationalstaaten ohne Mauern und Grenzen. Und es gibt keine Mauern und Grenzen ohne Todesopfer. In der neoliberalen Weltordnung werden die Grenzen zwar geöffnet - für das Kapital, für Investitionen und Privatisierung. Aber die gleichen Grenzen sind für die meisten Flüchtlinge verschlossen. "Rübermachen" können heutzutage nur jene, die als Billigarbeitskräfte benutzt werden können - also als LohndrückerInnen. Als Spargelstecherinnen aus Polen. Als Orangenpflücker aus Marokko. Als TagelöhnerInnen aus Mexiko. So benutzen Regierungen die Armut in anderen Staaten zum Wohle ihres Standortes. So werden Arbeitende aller Staaten weiter gegeneinander ausgespielt. Und so bleiben die Lohnabhängigen weltweit uneinig, die Arbeit bleibt billig und die Kapitalverwertung flutscht. Um dieses System zu stützen, gibt es auch heute noch Mauern, an denen gestorben und gelitten wird.
Um an alle diese Mauern und ihre Opfer gestern, heute und morgen zu erinnern - darum sind wir hier.
Kunst gegen Kunst
AG Fluchthilfe
Quelle:
de.indymedia.org (mit Fotos von der Aktion)